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US-Wahl im NovemberDie Idee von Amerika lebt – trotz allem

Lesezeit 7 Minuten
8, April 2024, USA, New York: Der Mond verdeckt teilweise die Sonne hinter der Freiheitsstatue während der totalen Sonnenfinsternis auf Liberty Island.

April 2024: Der Mond verdeckt teilweise die Sonne hinter der Freiheitsstatue während der totalen Sonnenfinsternis auf Liberty Island.

Die US-Wahl im November ist für viele ein Kampf um die „Seele“ des Landes. Doch so schicksalhaft die Entscheidung zwischen Trump und Biden auch erscheinen mag: In dem Land tobt seit Jahrhunderten der Streit darüber, was Amerika sein soll. Ein persönlicher Blick unseres Autors aus New York auf den Mythos und die Realität.

Der Sommer des Jahres 1988, daran erinnere ich mich gut, war glühend heiß in Neu-England. Es war das erste Mal, dass ich nicht als Tourist in die USA reiste. Ich studierte damals Amerikanistik in Frankfurt am Main und hatte ein Stipendium ergattert, das es mir erlaubte, bei einem amerikanischen Verlag ein Praktikum zu absolvieren. Und so stellte ich mich aufgeregt und durchgeschwitzt beim „Boston Magazine“ vor.

Ich wurde als Rechercheur einem Redakteur zugeteilt, keine schlechte Aufgabe für einen Praktikanten. Und doch begann mich die Arbeit bei dem Hochglanzmagazin für Bostoner Yuppies schnell zu frustrieren. So wechselte ich nach wenigen Wochen zu einem kleinen politischen Buchverlag. Der Verlag hatte einen eindeutig konspirativen Vibe im Amerika Ronald Reagans. Er verlegte investigative Bücher über die Rolle des CIA in Nicaragua und über die Infiltration der schwarzen Bürgerrechtsbewegung durch das FBI. Und er druckte einflussreiche linke Autoren wie Noam Chomsky und bell hooks.

Das endlose Ringen um Einheit ist in gewissem Sinne der natürliche Daseinszustand des Landes.
Sebastian Moll

Hier fühlte ich mich deutlich dichter dran an dem, was das Land bewegte. Die USA waren seit den Sechzigerjahren in einen Kampf mit sich selbst verstrickt, der bis heute nicht zu Ende ist. Der vermeintliche große gesellschaftliche Konsens der Nachkriegszeit war schon lange zerbrochen, der Mythos des amerikanischen Imperiums als uneingeschränkte Kraft des Guten in der Welt hatte sich angesichts der Bürgerrechtsbewegung und der Proteste gegen Vietnam aufgelöst.

Und auch wenn sich die offenen Auseinandersetzungen nach den Sechzigerjahren beruhigt hatten, versuchte die Linke weiterhin, den Finger auf die Wunden zu legen. Die konservative Rechte hingegen wollte sich schlichtweg wieder als Amerikaner unkritisch gut fühlen. Die Saat der „Make America Great“-Bewegung war gesät.

Auch wir deutschen Studenten waren keine naiven Anhänger des amerikanischen Traums. Die Kritik am US-Imperialismus und am Rassismus der amerikanischen Gesellschaft hallte uns in den Ohren. Und doch hatte Amerika für die letzten Jahrgänge der Boomer-Generation eine starke Zugkraft. Gerade wenn man aus dem westdeutschen Mief der Siebzigerjahre kam, barg Amerika noch immer das Versprechen von Freiheit, von der Möglichkeit, anders zu sein, anders zu leben.

Porträt Joe Biden

US-Präsident Joe Biden

Das Versprechen erneuerte sich für mich damals bei meinen Wochenendausflügen von Boston nach New York. Wie die meisten jungen Menschen zog es mich in das East Village, seit den Fünfzigerjahren nationales Hauptquartier der amerikanischen Gegenkultur. Hier hatten der Bebop und die Beat-Bewegung ihren Ursprung, hier hatten Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat gelebt und Kunst geschaffen, hier war der Punk entstanden, und der freie Geist der New Yorker Boheme wehte Ende der Achtzigerjahre noch immer durch die Straßen.

Das Gefühl, sich neu erfinden zu können

Das East Village war der Gegenentwurf zum properen neoliberalen Amerika Reagans. Hier wurden andere Lebensweisen, andere Identitäten ausprobiert, während sich gleichzeitig, auf der Höhe der Aids-Krise, der politische Widerstand gegen Washington formierte. Das East Village war, wie es der queere Schriftsteller Jeremiah Moss formulierte, der Ort für alle in Amerika, die nirgends sonst hineinpassten. Und auch ich hatte dort das Gefühl, mich neu erfinden zu können.

Zwei Semester später war ich an der New York University immatrikuliert und bezog im East Village für 300 Dollar im Monat eine Wohnung. Ich war, wie so viele vor mir und nach mir, dem Urversprechen Amerikas gefolgt. Schon im Handelsposten New Amsterdam, lange vor der Gründung New Yorks oder gar der Vereinigten Staaten, galt, wie der Historiker James Sanders sagte, dass es vollkommen gleichgültig war, wer man ist, wo man herkommt und welche Sitten und Gebräuche man zu Hause pflegt. Jeder machte mit jedem Geschäfte, so lange er oder sie sich an die Regeln halten.

Das Versprechen steht bis heute im Raum, auch wenn es für viele nicht eingelöst worden ist. Das amerikanische Gemeinwesen ist, von der Theorie her zumindest, neutral. Jeder hat im Privaten die unbegrenzte Freiheit zur Selbstverwirklichung. Die gesellschaftlichen Regeln und Gesetze sind dazu da, allen dafür die gleichen Voraussetzungen zu gewähren. Der Staatstheoretiker John Rawls nennt das „Justice as Fairness“. Gerechtigkeit sichert gleiche Ausgangsbedingungen ohne Ansehen der Identität.

Das Versprechen ist auch das Versprechen einer hierarchiefreien Kultur. Jede Gruppe trägt das ihre zum Ganzen bei, das ein sich fortwährend veränderndes, buntes Gebilde ist. Und die Utopie funktioniert – wenn auch alles andere reibungslos. Die Tatsache, dass so vieles, was wir heute als amerikanische Kultur begreifen, seinen Ursprung in der Kultur der am meisten benachteiligten Gruppe, der Afroamerikaner, hat, legt davon Zeugnis ab.

Veraltetes Wahlrecht aus dem 18. Jahrhundert

Es ist derzeit nicht einfach, weiter an dieses Versprechen von Amerika zu glauben. Selbst Barack Obama, der an das Modell der „more perfect union“ glaubt – der Fähigkeit Amerikas, mit jeder Generation der Verwirklichung seines Versprechens näher zu kommen – gibt zu, Momente des Zweifels zu haben.

Die politischen Institutionen scheinen kaum mehr dazu im Stande zu sein, jene Rahmenbedingungen für die individuelle Freiheit zu schaffen, die zu gewährleisten sie angelegt sind. Der von Donald Trump bestellte Oberste Gerichtshof schränkt schon lange Bürgerrechte wie das Wahlrecht für Minderheiten und das Abtreibungsrecht wieder ein. Ein polarisierter und korrupter Kongress übt sich vorwiegend in Machterhaltung. Ein veraltetes Wahlrecht aus dem 18. Jahrhundert begünstigt die immer wahrscheinlicher werdende Wiederwahl eines Kriminellen, der keinen Hehl daraus macht, die demokratischen Institutionen aushebeln zu wollen.

So geht es bei der Wahl im Herbst um alles. Beide Seiten haben, wie vor vier Jahren, einen Kampf um die Seele Amerikas angekündigt. Beide Seiten sind davon überzeugt, dass der Sieg der jeweils anderen Seite das Ende „Amerikas“ bedeutet.

Für Europäer ist das ein eigenartiger Gedanke. Niemand würde bei einer Wahl in Deutschland behaupten, dass ein bestimmter Wahlausgang das Ende Deutschlands bedeuten könnte. Deutschland hat allein im 20.?Jahrhundert fünf Staatsformen erlebt. Doch Amerika ist mehr als eine geopolitische Tatsache, was allein daran abzulesen ist, dass die Chiffre „Amerika“ mit den USA gleichgesetzt wird. Es gab vor der Unabhängigkeitserklärung keine USA, und es hat seitdem nur ein einziges politisches System gegeben. Amerika ist vor allem eine Idee – und ist als solche sterblich.

Was an der konstitutiven Verunsicherung und inneren Uneinigkeit des Landes Mut macht, ist indes die Leidenschaft, mit der man hier für seine jeweilige Vision von Amerika streitet
Sebastian Moll

So ist es, so schicksalhaft auch die aktuelle Wahl erscheinen mag, nichts Neues, dass es in Amerika um alles geht. Wie der Philosoph Stanley Cavell darlegte, war der interne Streit darüber, was Amerika ist und sein soll, bereits in der Gründung des Landes eingebaut. Zwischen der Unabhängigkeitserklärung und der Unterzeichnung der Verfassung lagen 13 Jahre Zank darüber, wie die Verfassung aussehen soll.

Für Cavell war dies nur der erste Akt eines Werdens, das immer wieder von Zerreißproben begleitet wird und das noch lange nicht abgeschlossen und vielleicht auch nicht abschließbar ist. Das endlose Ringen um Einheit ist in gewissem Sinne der natürliche Daseinszustand des Landes. Es hat das Land im Bürgerkrieg beinahe zerrissen und in den Kämpfen um Bürgerrechte in den Sechzigerjahren noch einmal.

Was an der konstitutiven Verunsicherung und inneren Uneinigkeit des Landes Mut macht, ist indes die Leidenschaft, mit der man hier für seine jeweilige Vision von Amerika streitet. Das gilt sicherlich für die Trump-Anhänger. Aber es gilt auch für diejenigen, die das Experiment von Amerika am Leben erhalten wollen, von dem Obama spricht und für das ich bis heute Gefühle hege. Es ist das Experiment eines Ortes, an dem Menschen mit den unterschiedlichsten Prägungen, Hoffnungen und Wünschen zusammenkommen können, um für alle ein besseres Leben zu schaffen.

Die Zwischenwahlen 2018 und 2022 und die Wahl 2020 waren in dieser Hinsicht ermutigend. Amerikaner sind nicht nur in bislang noch nie dagewesener Zahl zur Wahlurne gegangen. Sie haben sich auch für Ämter auf allen Ebenen aufstellen lassen. Sie haben sich freiwillig gemeldet, um Wähler zu registrieren, zu mobilisieren und Unterschriften für Kandidaten zu sammeln. Sie haben sich mit Leidenschaft für den Erhalt der amerikanischen Demokratie eingesetzt. Sie werden es auch diesmal tun, auch wenn keiner der beiden Kandidaten Enthusiasmus entfacht. Denn es geht nicht um sie. Es geht darum, das große Versprechen von Amerika am Leben zu erhalten, die große romantische Idee. Und die wird Amerika nicht kampflos aufgeben.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.