Was die Weltgemeinschaft vor der lodernden Kulisse von Ukraine und Gaza tut, wirkt wie ein Totalausfall. Die seit Jahrzehnten diskutierten Pläne einer UN-Reform haben keine Chance. Experten warnen vor einer Verschlimmbesserung.
UN-Reform-PläneWo sind die Vereinten Nationen, wenn man sie braucht?
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat den Kopf wieder mal voller zukunftsweisender Ideen. Alle, die ihn kennen, sagen: Das war schon immer so. Sein ganzes Leben lang hat Lula in seinem Land gegen Armut und für mehr Gerechtigkeit gekämpft, anfangs als Gewerkschafter der Metallbranche, dann als Politiker der Arbeiterpartei.
Jetzt, im Alter von 78 Jahren, plant Lula das nächste große Ding – diesmal auf Weltebene.
Lula führt dieses Jahr den Vorsitz bei G20, der Gruppe der wichtigsten Wirtschaftsnationen der Erde. Am 18. und 19. November treffen sich die 20 Staats- und Regierungschefs zum Gipfel in Rio. Lula will, dass diese Runde sich nicht nur mit den üblichen Themen befasst, Wirtschaft, Soziales und Umwelt. Er verlangt gleichsam einen Eingriff ins Betriebssystem: Die Art und Weise, wie die Welt regiert wird, müsse sich dringend ändern, findet der Brasilianer. Deshalb sei es Zeit für eine Reform der Vereinten Nationen.
Überfällig – und unmöglich
Eine UN-Reform? Schon seit drei Jahrzehnten doktern Beauftragte aus aller Welt auf verschiedenen Ebenen an diesem Projekt herum. Theoretisch spricht alles dafür, endlich loszulegen. Praktisch aber ging es nie auch nur einen einzigen Millimeter voran. Denn eine UN-Reform der UN ist beides zugleich: überfällig – und unmöglich.
Eigentlich ist der Reformbedarf unabweisbar. Dies gilt besonders für das wichtigste Gremium der UN, den aus 15 Staaten bestehenden Sicherheitsrat. Er besteht aus fünf ständigen Mitgliedern (USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich) und zehn nicht ständigen Mitgliedern, die von der Generalversammlung alle zwei Jahre neu gewählt werden. Dies wirft Fragen nach der angemessenen Repräsentation auf.
Bevölkerungsreiche Staaten haben zu wenig Einfluss, ganz Afrika ist unterrepräsentiert. Indien mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden hat weniger Gewicht als seine frühere Kolonialmacht Großbritannien mit 60 Millionen. Mehr Einfluss allerdings erhoffen sich im Zuge einer Reform auch die wichtigsten Geldgeber der UN, darunter Deutschland und Japan.
Aus der Zeit gefallen erscheint jedenfalls die im Jahr 1945 beschlossene Sonderrolle der fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat. Die UN-Botschafterinnen und -Botschafter der USA, Chinas, Russlands, Großbritanniens und Frankreichs können im höchsten UN-Gremium, auch wenn sie dort als Einzige die Hand erheben, Beschlüsse der Weltgemeinschaft blockieren.
Russlands Präsident Wladimir Putin konnte daher sicher sein, dass ihn der Sicherheitsrat nicht anweisen wird, den russischen Einmarsch in die Ukraine rückgängig zu machen. Dabei kann der Sicherheitsrat, wenn er will und geeint ist, in solchen Fällen sehr wohl seine Zähne zeigen.
Zum Vergleich: Dem irakischen Herrscher Saddam Hussein, der ins benachbarte Kuwait einmarschiert war, gab der Sicherheitsrat in seiner Resolution 678 im November 1990 auf, seine Truppen zurückzuziehen. Für den Fall, dass dies bis zum 15. Januar 1991 nicht geschieht, wurden Streitkräfte aus aller Welt ermächtigt, Saddams Truppen mit Gewalt zu zwingen, das Land wieder zu verlassen. So geschah es am Ende auch, in einem völkerrechtlich völlig einwandfreien Militäreinsatz.
Von Russland und China kam damals kein Veto. Es waren andere Zeiten, der Mauerfall lag erst ein Jahr zurück. In Moskau und Peking dominierten damals Kräfte, die nach den globalen Regeln spielen wollten und sich um ein konstruktives Verhältnis zum Westen bemühten.
Eine Atommacht auf Abwegen
Heute ist das anders. Die Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jinping haben ein antiwestliches Bündnis gebildet und killen auf UN-Ebene alles, was ihnen nicht passt. Ihr langer Arm reicht bis in die Fachausschüsse, etwa für Menschenrechte. Dort sollte auf Betreiben der beiden Diktatoren über die Lage der Uiguren in China zum Beispiel noch nicht mal diskutiert werden. Dass der UN-Sicherheitsrat Putin vorschreibt, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen, ist daher gegenwärtig völlig ausgeschlossen.
Dieser Missstand blamiert die Vereinten Nationen. Die Weltorganisation am blinkenden Hudson River in New York stand, bei all ihrer Unvollkommenheit, jahrzehntelang für die Hoffnung vieler Menschen auf eine bessere Zukunft. Ausgerechnet jetzt aber, da eine Atommacht sich vom regelbasierten Miteinander verabschiedet, erlebt die Welt ein Totalversagen der UN.
Das Problem ist ein Fehler im System. Es gab in den Regeln der Vereinten Nationen nie eine Vorkehrung dagegen, dass eine der fünf Vetomächte plötzlich selbst den Frieden gefährdet und in den New Yorker Korridoren ein doppeltes Spiel spielt.
„Im Sicherheitsrat schlüpft der Aggressor Russland in die Rolle des Weltaufsehers“, sagt der Bonner Völkerrechtler Matthias Herdegen. Das erschüttere die Legitimität des höchsten Gremiums der Vereinten Nationen.
Natürlich läge es nahe, eine Regelung nachzurüsten, wonach Vetomächte kein Stimmrecht haben, wenn es um Sachverhalte geht, in die sie selbst verwickelt sind. Doch diese Neuregelung könnte ebenfalls durch das Nein einer einzelnen Vetomacht gestoppt werden: Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Wird man einer Vetomacht je die Vetomacht entwinden können?
Wird man einer Vetomacht je die Vetomacht entwinden können? Einige unentwegte Optimisten wollen es zumindest versuchen. Weltweit kursieren diverse Reformmodelle. Eine Gruppe von Professoren aus Zürich zum Beispiel will an drei Punkten ansetzen:
Der bisher 15 Staaten umfassende Sicherheitsrat soll auf 25 anwachsen, mit zehn statt bisher fünf ständigen Mitgliedern.
Für ein Veto wird das Nein von drei Staaten gleichzeitig verlangt.
Die ständigen Mitglieder sollen „auf der Basis objektiver Kriterien“ festgelegt werden: Bevölkerung, Bruttoinlandsprodukt, freiwillige Beiträge ans UN-Budget. Damit stünde interessanterweise hinter der bisherigen ständigen Mitgliedschaft Russlands und Frankreichs plötzlich ein Fragezeichen. Glatt als neue ständige Mitglieder durchgehen würden indessen Indien, Japan, Deutschland, Nigeria – und das von Weltreformer Luiz Inácio Lula da Silva regierte Brasilien.
Nach Meinung von Insidern sind Pläne wie diese tot, sobald sie in der unbarmherzigen realen Welt der Politik das Licht der Welt erblicken. Lula habe sich mit der UN-Reform ein Projekt vorgenommen, das immer wieder „in einem weltpolitischen Bermuda-Dreieck verschwindet“, warnt der britische „Guardian“.
Das Verschwindenlassen könnte allerdings diesmal etwas komplizierter sein als früher. Russland und China beharren auf Privilegien, wollen aber zugleich den globalen Süden auf ihre Seite ziehen. Die Bildung einer Arbeitsgruppe zur UN-Reform auf G-20-Ebene wird Lula als Gastgeber des Gipfels im November wohl durchsetzen können.
Von substanziellen Annäherungen im G-20-Kreis aber kann bislang nicht die Rede sein. Alle Außenminister sagten zwar artig zu, das Thema zu behandeln. Bisher aber gab es in den Vorbereitungsrunden, so weit man hört, ausschließlich Funkenflug.
So ging Großbritanniens Außenminister David Cameron seinen russischen Amtskollegen Sergej Lawrow frontal an: Was Russland sich als Sicherheitsratsmitglied mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine leiste, laufe auf die Zerstörung der Vereinten Nationen hinaus. Brasiliens Außenminister Mauro Vieira ging vermittelnd dazwischen und sagte, es gehe in der jetzt anstehenden Debatte darum, übliche Raster zu übersteigen und Schuldzuweisungen aller Art zu unterlassen.
Nur populistisches Getrommel?
Dies wiederum wurde von westlichen Beobachtern als verdächtig tiefer Knicks Brasiliens vor Moskau empfunden. Noch schlimmer wurde alles, als Lula sich bei einem Auftritt in Afrika im Zuge von Kritik am Vorgehen Israels in Gaza zu der Bemerkung verstieg, so etwas habe es schon einmal gegeben, „als Hitler beschloss, die Juden zu töten“. Seither fragen viele: Geht es Lula wirklich um eine UN-Reform? Oder will er nur den globalen Süden durch populistisches, sogar antisemitisches Getrommel beeindrucken?
Skeptiker in Europa fürchten inzwischen eine UN-Reform, die den unbefriedigenden aktuellen Zustand noch verschlechtert: Festhalten am Vetorecht für völkerrechtsverletzende Staaten wie Russland plus Verbreiterung des Sicherheitsrats durch antiwestliche Mächte.
Der Bonner Völkerrechtler Herdegen rät angesichts solcher Perspektiven dazu, sich im Zweifel eher mit dem Status quo abzufinden: „Immerhin stehen derzeit drei der fünf Vetomächte im Sicherheitsrat – Frankreich, Großbritannien, USA – klar für westliche Werte wie Freiheit und Demokratie. Da weiß man bei allen Defiziten, was man hat.“
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