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Serie

Fliegenpilz
Die Schamanendroge findet sich auch in Oberberg

Lesezeit 4 Minuten
Ein Fliegenpilz.

Die weißen Punkte sind nicht fest mit dem Hut verwachsen, sondern stellen die zerrissenen Überbleibsel der weißen Hülle dar, die den jungen Fruchtkörper des Fliegenpilzes anfangs schützt.

Mit Unterstützung der Biologischen Station stellen wir Arten vor, die uns im Oberbergischen aufgefallen sind. Diesmal den Fliegenpilz.

Haben Sie sich mal die Frage gestellt, warum an Weihnachten neben dem Tannengrün die Farben Rot und Weiß dominieren? Konsumkritische Denker beschleicht der Verdacht, dass eine PR-Aktion der Coca-Cola-Company zugrunde liegt. In Zeiten, in denen   Heißgetränke Konjunktur haben, wollte sie den Absatz ihres rot-weiß etikettierten Erfrischungsgetränks erhöhen. Christen hingegen verweisen auf die Farbsymbolik: Rot für die Liebe und das Blut Christi, Weiß für Licht und die Reinheit Marias. Vielleicht hat das Gewand des Weihnachtsmanns aber einen ganz anderen Hintergrund?

In den gesamten gemäßigten Breiten der Nordhalbkugel, also auch im Bergischen Land, vor allem aber in den borealen Nadelwaldregionen, die sich über Russland und Skandinavien erstrecken, wächst im   Wurzelwerk von Kiefern und Birken der zum „Pilz des Jahres 2022“ ernannte Fliegenpilz (Amanita muscaria). Die Art aus der Gattung der Wulstlinge ist sehr bekannt. Den roten Hut mit den weißen Punkten hat fast jeder schon gesehen.

Die weißen Punkte sind nicht fest mit dem Hut verwachsen, sondern stellen die zerrissenen Überbleibsel der weißen Hülle (Velum universale) dar, die den jungen Fruchtkörper anfangs schützt. Sie können vom Regen abgewaschen werden. Die aufgefangenen Regentropfen in der nach oben gestreckten Pilzkappe wurden früher übrigens Feen-Trunk genannt.

Die Dosis macht das Gift

Wie kaum ein anderer Pilz gilt der Fliegenpilz als klassischer Giftpilz, obwohl es viel toxischere Vertreter aus dem Reich dieser Lebewesen gibt. Und wie alles im Universum ist auch Toxizität relativ, worauf schon der Gelehrte Paracelsus mit dem Ausspruch „Die Dosis macht das Gift“ hinwies. Von der Menge hängt ab, ob die Substanzen einem Lebewesen Schaden zufügen oder eine erwünschte Wirkung erzeugen.

Eine sehr giftige Pflanze ist zum Beispiel der Tabak. Dennoch wird sein Gift im Rauch in geringen Konzentrationen konsumiert und ist bei vielen Menschen auch heute noch beliebt aufgrund der beruhigenden Wirkung, die eine geringe Giftmenge erzeugt. Da fast jede Kultur – je nachdem, was in ihrer Region so gedieh – ein spezielles Rauschmittel hatte, kam es in nordischen Kulturen zur Anwendung des Fliegenpilzes. Wissenschaftlich betrachtet entwickelt sich die giftige Ibotensäure aus dem Fruchtkörper beim Trocknen zu Muscimol. Dieses hat eine Wirkung auf das zentrale Nervensystem, wenn man es zum Beispiel als Tee zu sich nimmt.

Weihnachtssymbol in Oberberg

Ohne dass man die chemischen Prozesse im Einzelnen kannte, wurde der Fliegenpilz in rituellen Handlungen nordischer Kulturen in Skandinavien und Russland eingenommen. Nach dem Ethnobotaniker Christian Rätsch gilt der Fliegenpilz als „die nordische Schamanendroge par excellence“ und ist eng mit dem obersten Gott Odin oder Wotan, wie er hierzulande genannt wurde, verbunden. Von daher stammt womöglich auch die volkstümliche Bezeichnung des Fliegenpilzes als „Rabenbrot“, da Odin stets von zwei Raben begleitet wurde.

In der Zeit der Wintersonnenwende, in die auch das christliche Weihnachtsfest verortet wurde, soll Odin alljährlich seine wilde Jagd durch den Himmel veranstaltet haben, dazu gehörten neben Rauch auch immer Rauschzustände. Hier ist wohl auch der Ursprung der Bezeichnung als Glückspilz zu finden. Durch seinen Genuss konnte man Feen und Weihnachtswichtel sichtbar machen und göttliche Glücksgefühle erlangen. Auch im deutschen Sprachraum galt der getrocknete Fliegenpilz im Weihnachtsbaum als kostbares Geschenk – nicht nur zur Dekoration.

Nordische Schamanen haben sich bei ihren Ritualen vor allem zur Wintersonnenwende mit getrockneten Fliegenpilzen berauscht. Dabei nahmen sie in üblicher Schamanen-Manier die Gestalt   des Objektes ihrer Begierde an und verkleideten sich sozusagen als Fliegenpilz. Sie nutzen den Fliegenpilz, um in Trance zu geraten. So konnten sie aus sich hinaustreten und heilsam auf ihre Gemeinschaft einwirken.

Hat sich Coca-Cola bei ihrer Werbefigur vielleicht an den nordischen Fliegenpilzschamanen orientiert, da diese die gleichen Farben trugen, wie das bekannte Logo und Markenzeichen des Getränkeherstellers? Es liegt nahe, dass der allgegenwärtige rotweiße Weihnachtsmann eine Melange darstellt: aus dem Nikolaus von Myra, aus Väterchen Frost und aus Allvater Odin – im Kostüm eines Fliegenpilzes.


Schaum vorm Maul

Eine Antwort auf die Frage   nach dem farblichen Zusammenhang von Pilz und Weihnachtsfest findet sich in einer südgermanischen Erzählung, die von Biologin Helen Pursey in einem Pilzbuch aufgegriffen wird: „Der Gott Wotan ritt am Weihnachtsabend auf seinem Pferd aus und wurde plötzlich von Teufeln verfolgt. Das Pferd fing an zu galoppieren und dabei tropfte rotgesprenkelter Schaum von seinem Maul. Wo der Schaum hinfiel, erschienen im folgenden Jahr die bekannten weißgefleckten, roten Hüte des Fliegenpilzes.“

Im schamanischen Kontext wird die Farbe Rot als das fruchtbare Menstruationsblut und die Farbe Weiß als Samenflüssigkeit gedeutet. Hierdurch schließt sich der Kreis zu einer lebensbejahenden Weltansicht und dem Fest der Liebe.