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FamilienwahnsinnInterview mit Cordula Stratmann

Lesezeit 9 Minuten

Cordula Stratmann beim Interview mit dem "Magazin".

KölnFrau Stratmann, man kennt sie aus dem Fernsehen. Dass Sie acht Jahre als Familientherapeutin gearbeitet haben, ist weniger bekannt. 1996 sind Sie aus Ihrem Beruf ausgestiegen. War Ihnen Familienberatung zu langweilig?

CORDULA STRATMANN Nein, ich habe die Arbeit geliebt. Damals wie heute treiben mich Fragen um, wie das Zusammenleben zwischen Eltern und Kindern besser gelingen kann. Deshalb habe ich auch immer Kontakt zu meiner früheren Berufswelt gehalten.

Mit welchen Problemen sind die Menschen damals zu Ihnen in die Familienberatung gekommen?

STRATMANN Mit allem, was in einer Familie problematisch sein kann. Bis hin zu suchtkranken Eltern oder sexuellem Missbrauch, also den ganz großen Katastrophen, die Kinder erleben können. Oft waren es aber auch kleine Konflikte, die erst dadurch zum Problem wurden, dass man sie lange ignoriert hat - und die dann zu auffälligem Verhalten beim Kind geführt haben. Kinder sind die Seismographen, die uns zeigen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.

Sie sind systemische Familientherapeutin. Erklären Sie mal: Was bedeutet denn "systemisch"?

STRATMANN Dass man Familie als System versteht, in dem jedes Element auf das nächste wirkt. Als Mobile, bei dem jeder mit jedem zusammenhängt. Gerät ein Familienmitglied in Ungleichgewicht, hat das Folgen für alle. Kinder, die ein auffälliges Verhalten zeigen, werden in der systemischen Therapie nicht zur Reparatur entgegengenommen und alle anderen können weitermachen wie bisher. Die Kinder weisen vielmehr auf eine Störung im System hin.

„Kinderkram – Fragen an Cordula Stratmann“ heißt die Kolumne, in der die Kölner Schauspielerin und Familientherapeutin in loser Folge Fragen der Redaktion aus dem ganz normalen Familienwahnsinn beantworten wird.

Cordula Stratmann, geboren 1963, studierte nach dem Abitur Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule in Köln. Während ihrer Arbeit in der Familienberatungsstelle des Jugendamts in Pulheim ließ sie sich in systemischer Familientherapie ausbilden. 1992 spielte sie auf einer Karnevalssitzung erstmals die Figur Annemie Hülchrath, mit der sie bis 2008 regelmäßig in der WDR-Sendung „Zimmer frei“ auftrat.

2005 wurde sie mit dem Deutschen Comedypreis und dem Deutschen Fernsehpreis bedacht. Es folgten die Goldene Kamera und der Bayerische Filmpreis. Zuletzt war sie in Olli Dittrichs Comedy-Show „Frühstücksfernsehen“ (ARD) zu sehen. Gerade erschienen ist ihr Roman „Danke für meine Aufmerksamkeit“ (Kiwi, 15,99 Euro). (ma)

Wenn Sie Eltern einen goldenen Ratschlag in Sachen Familie geben müssten - welcher wäre das?

STRATMANN Dass es keinen goldenen Ratschlag gibt. Wir Menschen unterscheiden uns alle in so vielen Eigenarten, Temperamenten und Vorlieben, da muss man immer erst herausfinden, was wem wie am besten weiterhilft. Deswegen ist ja Familie-Sein das aufregendste, anspruchsvollste, komplexeste Unternehmen, das man sich im Leben vornehmen kann. Manager eines Weltkonzerns kommt erst danach. Wenn es etwas gibt, das alle gleichermaßen verstehen sollten, dann, dass sich das Leben in einer Dynamik vollzieht. Dass es einem mal gut und mal schlecht geht. Dass das alles normale Bewegungen sind - und nicht sofort ein schwerer Fehler. Es wäre gut, wenn die Erwachsenen es hinbekämen, dass in der Familie nicht die Kraft des Gegeneinanders überwiegt, sondern die des Miteinanders. Schließlich lebt man ja mit den Menschen zusammen, die man doch eigentlich liebt.

In meiner Arbeit ging es immer darum, dass man mit einer gewissen Fehlerfreundlichkeit auf seine Familie schauen sollte.

Fehlerfreundlichkeit klingt gut. Aber manche Fehler muss man doch auch ansprechen - und behandeln.

STRATMANN Fehlerfreundlichkeit heißt überhaupt nicht, dass man sich Problemen nicht direkt widmen sollte! Ich halte viel davon, Störungen oder Irritationen früh anzugehen. Fehlerfreundlichkeit ist aber wichtig, weil sie uns mit einer gewissen Großzügigkeit ausstattet. Wer ums Verrecken keine Großzügigkeit entwickeln will, sollte besser alleine leben. Tief im Wald. Ausgestattet mit Großzügigkeit, kann ein Kind überall auf der Welt seinen Weg finden, weil es sich nicht in überflüssige Kämpfe verstrickt. Das ist viel mehr wert, als früh Mandarin zu lernen.

Hier im "Magazin" haben Sie kürzlich in einem Gastbeitrag kritisiert, dass wir Kinder oft krank reden: Allzu schüchterne Kinder werden in Therapie geschickt, allzu zappelige bekommen Pillen gegen Hyperaktivität. . .

STRATMANN Das halte ich für eine dramatische Fehlentwicklung in den vergangenen Jahren.

Aber ist es nicht auch ein Segen, dass wir Kindern heute Therapien anbieten können? Früher bekamen Zappelphilippe oder extrem schüchterne Kinder vielleicht einfach schlechte Noten. Heute nimmt man ihre Probleme ernst.

STRATMANN Nein! Das hat mit ernst nehmen nichts zu tun. Ein schüchternes Kind nehme ich ernst, wenn ich seine Eigenart respektiere und es in der Weise unterstütze, die es braucht. Dafür muss ich mich auf seine Erlebniswelt einlassen, ihm meine Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Das ist, ganz simpel gesagt, der Job aller Eltern für alle Kinder. Wenn Sie keine Zeit für die Besonderheiten Ihres Kindes haben, sollten Sie Ihr Kind nicht zum Spezialisten bringen. So schaffen Sie ein krankes Kind, obwohl ja Sie selbst das Problem sind.

Wie war das in Ihrer Kindheit?

STRATMANN Ich kann mich gut an viele Momente erinnern, in denen ich mich als Kind unglücklich gefühlt habe. Meine Eltern wären aber nie auf die Idee gekommen, mit mir zum Arzt zu gehen, nur weil ich vielleicht ein paar Mal am Küchentisch erzählt habe, dass ich mich ausgegrenzt fühle. Das gehört zu einer normalen Kindheit dazu. Aber selbstverständlich ist es ein Segen, dass Eltern, die sich ernsthaft sorgen um ein extremes Verhalten ihres Kindes, heute bei Fachleuten Hilfe suchen können.

Genau um diese Extremfälle geht es ja auch bei den Therapieangeboten.

STRATMANN Wenn das so wäre, hätte ich kein Problem damit. Aber ich sehe mit Sorge, dass Eltern, die so klug sind, sich Rat zu suchen, immer seltener an Experten geraten, die ihnen helfen, ihre Situation richtig einzuordnen - und dazu raten, zunächst einmal auf eigene Potenziale zu vertrauen.

Dauert die Veränderung einer so eingefahrenen Struktur wie Familie nicht unheimlich lange?

STRATMANN Das kann länger oder kürzer dauern, je nach dem, wie viel Widerstand die einzelnen Familienmitglieder leisten. Das Irre ist ja, dass viele sich in unschönen Situationen einrichten, weil sie Angst vor Veränderungen haben. Der Kummer oder das Genervt-Sein, das ist vertraut. Da weiß ich mittlerweile, wie ich mich dazu verhalte - ich entziehe mich oder ich werte schnell den Nächsten ab, bevor es mich trifft. Aber in der Regel merken die Menschen schon im Erstgespräch einer Familienberatung, wie wohltuend es ist, sich zusammen hinzusetzen und zu erfahren, dass jeder Einzelne mit seinen Beobachtungen ein Experte in seiner Familie ist.

Sie schätzen den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. Was gefällt Ihnen an seinen Büchern?

STRATMANN Jesper Juul kommt immer wieder darauf zurück: Es geht um eure Beziehung zueinander - um nichts anderes. Es geht nicht darum, wie schnell dein Kind Tischmanieren und Rechnen lernt. Alles ist weniger problematisch, wenn du dich darum kümmerst, den Kontakt zu deinem Kind nicht zu verlieren.

Juul hat mehr Fragen als Antworten. Finden Sie das sympathisch?

STRATMANN Ja, zur Grundausstattung von Eltern sollte gehören, zu wissen, dass sie mit partieller Ratlosigkeit klarkommen. Wie oft ich schon abends, wenn unser Sohn schläft, zu meinem Mann gesagt habe: Das hätte ich heute echt besser hinkriegen können! Das muss ich mir selbstkritisch klar machen und dann zügig verzeihen, damit ich am nächsten Tag wieder eine aufgeräumte Mutter bin. Und nicht eine, die aus lauter schlechtem Gewissen überreagiert. Ich gestatte meinem Sohn Fehler und Begriffsstutzigkeiten. Die muss ich mir als Mutter auch gestatten.

Was ist für Familien heute das größte Problem?

STRATMANN Der Stress, den sich die Eltern permanent machen. Ich halte es für keine Errungenschaft, dass viele Väter und Mütter heute meinen, in puncto Karriere störungsfrei erfolgreich sein zu müssen, obwohl sie Verantwortung für ein Kind haben. So ein Konzept kann nicht gut sein, denn irgendwer zahlt einen Preis dafür. Und wegorganisierte Kinder zahlen einen hohen Preis.

"Wegorganisiert" klingt so vorwurfsvoll. Für viele ist es doch schlicht eine Notwendigkeit, ein Kind fremdbetreuen zu lassen.

STRATMANN Wenn eine Familie zwei volle Einkommen braucht, muss man ihr helfen. Da sollten sich die Arbeitgeber schon längst fragen: Wie müssen wir unser Unternehmen ausstatten, damit Eltern hier weiter arbeiten können? Flexible Arbeitszeiten, Home-Office-Tage - es wäre sehr einfach, Eltern zu unterstützen. Aber häufig sind es nicht die Familien mit dieser Notwendigkeit, in denen weder Vater noch Mutter erreichbar sind für ihre Kinder. Oft sind es die Manager-Charaktere, die sich im Beruf für unverzichtbar halten, nicht aber für ihre Kinder.

Sind Sie denn nach der Geburt Ihres Sohnes beruflich kürzergetreten?

STRATMANN Als mein Sohn vor sieben Jahren auf die Welt kam, war ich auf dem Sprung in eine extrem tolle Serie. Ich war als Hauptdarstellerin eingeplant, hätte am Drehbuch mitschreiben dürfen - ein Angebot auf dem Goldtablett. Während der frühen Schwangerschaft habe ich es angenommen. Mein Mann und ich hatten fest vor: Das kriegen wir schon hin. Und dann hatte ich plötzlich meinen Sohn im Arm und wusste: Nein, ich gehe definitiv keine hundert Drehtage aus dem Haus! Und habe abgesagt. Und in den Jahren darauf alles abgelehnt, was mich für längere Zeit aus der Familie rausgenommen hätte. Zu dem Preis, dass ich oft gefragt werde: Wann sieht man Sie denn noch mal im Fernsehen? Aber das ist richtig so. In einer Familie müssen die Eltern die Preise zahlen, nicht die Kinder.

Wie muss man sich einen gelungene Nachmittag von Cordula Stratmann mit Ihrem Sohn vorstellen?

STRATMANN Wir kommen aus der Schule, mixen uns einen Saft, holen Pralinen aus dem Schrank - und quatschen.

Klingt super. Aber im Erziehungsalltag kann man nicht dauernd Schokolade essen. . .

STRATMANN Auf keinen Fall! Die Pralinen in der Quatsch-Ecke sind so kleine Oasen. Selbstverständlich knattern wir zwei immer wieder in Auseinandersetzungen. Dabei hilft uns ein Satz, mit dem ich fruchtlose Diskussionen abbreche: "Ich entscheide, weil ich die Mama bin!" Der entspannt uns, weil er Klarheit schafft. Wenn sich mir im Erziehungsalltag mal die Sicht vernebelt, lasse ich mir helfen, von einer klugen Freundin - und nicht zuletzt von meinem Mann. Der hat schließlich Wesentliches beizutragen, er ist ja der Papa. . .

DAS GESPRÄCH FÜHRTE MICHAEL AUST