Immer mehr Menschen schwören dem Alkohol ab, vor allem jüngere, laut Umfragen. Und in der Realität? Wir haben die gefragt, die sich auskennen.
Null-Promille-TrendWird wirklich weniger Alkohol getrunken? Das sagen Kölner Wirte dazu
Ich kehre zurück an einen Tatort. An der Ecke Vogelsanger Straße/Keplerstraße habe ich selbst unzählige vergnügliche Nächte verbracht. In einer Kneipe, die in Köln als legendär gilt: Die hängenden Gärten von Ehrenfeld, kurz „die Gärten“.
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Pandemiebedingt war ich länger nicht mehr hier, doch ich brauche nur die Stufen zum Eingang zu erklimmen, um alles zu erinnern: Im Gedränge an der Bar zu stehen, sich nach hinten durch zu den Sofas zu quetschen, in der Hand ein Bier, vielleicht sogar ein Tablett mit Kurzen, zum Anstoßen.
Aber heute bin ich in den Gärten nicht auf einen Drink verabredet, im Gegenteil. Es ist 16 Uhr, die Kneipe ist leer. Nur Besitzer Tomas Pollmann hockt an der hinteren Ecke der Theke, wie früher immer schon. Vor ihm steht eine Flasche Sprudel. Wie passend, wir wollen schließlich über ein Thema sprechen, das es bis in die Nachrichten geschafft hat. Die Menschen trinken immer weniger Alkohol, besonders die jüngeren.
Laut einer Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov trifft das unter den 18- bis 24-Jährigen auf knapp die Hälfte der Befragten zu. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Tranken vor 50 Jahren noch 67 Prozent in dieser Altersgruppe regelmäßig Bier, Wein oder Schnaps, waren es 2021 nur noch 32 Prozent. Der Alkohol-Rausch scheint out zu sein, der gemäßigte Alkohol-Genuss erzeugt mindestens Misstrauen. Das bemerke ich auch in meiner Altersklasse 40 Plus. Neulich saß ich bei einer Freundin, bei der früher immer Wein auf den Tisch kam. An diesem Abend tranken wir alkoholfreien Martini mit Tonic.
In den „Hängenden Gärten von Ehrenfeld" wird jetzt öfter Limonade bestellt
Um diesen Null-Promille-Trend besser zu verstehen, treffe ich die, die sich mit Trinkkultur auskennen, wie kaum jemand: Kneipeninhaber und Barbetreibende wie Tomas Pollmann. Er sagt: „Wir nehmen vermehrt wahr, dass sich Leute hier hinsetzten, um eine Limo zu trinken. Das gab es so früher nicht.“
Eigentlich sei seine Kneipe ja eher eine „Saufbude“, findet Pollmann. Einen ausgelassenen Abend ganz ohne Alkohol kann sich der Ehrenfelder nicht vorstellen. Dennoch fließt auch in seinem Laden das Prozentige lange nicht mehr so sorglos wie früher. In den Gärten gibt es inzwischen alkoholfreien Gin, manchmal auch Martini ohne oder Sanbittèr, dazu mehrere alkoholfreie Biere.
Zeitweise stand auch alkoholfreier Wein auf der Karte. „Den habe ich aber wieder aus dem Angebot genommen, weil die Flaschen nie ausgetrunken wurden und ich die Reste in den Abfluss gießen musste“, sagt Pollmann. Er ist jetzt 45 Jahre alt, seit er Vater geworden ist, sitzt er selbst seltener hier am Tresen. Vielleicht zu seinem Glück? „Die größte Gefahr für einen Barbetreiber ist die Alkoholabhängigkeit, dicht gefolgt vom Finanzamt“, meint Pollmann und lacht, wird dann aber wieder ernst. „Natürlich habe ich mir schon häufiger die Frage gestellt, ob ich als Kneipeninhaber an dem Alkoholismus anderer Leute mit schuld bin, wie ein Dealer quasi.“ Zuletzt hat er schon mal einen Stammgast oder Mitarbeiter beiseite genommen, wenn er sich wegen dessen Trinkverhalten Sorgen gemacht hat.
Es ist also komplizierter geworden mit dem Alkohol. Dabei war der Umgang damit in Deutschland lange eher sorglos. Ein, zwei Mal in der Woche ein Feierabendbier galt als unbedenklich, „was trinken gehen“ als probate Freizeitbeschäftigung. Das Glas Wein gehörte zum Theaterbesuch genauso dazu, wie der Kölschkranz zum Vereinstreffen. Von popkultureller Mythenbildung ganz zu schweigen: Kultserien wie „How I Met Your Mother“, Hauptschauplatz ein Pub in New York, würden heute so vermutlich gar nicht mehr gedreht werden. Betrunkene Rock 'n' Roller, die sich entweder gegenseitig verkloppen oder alternativ zusammen die Hoteleinrichtung zerdeppern, sind genauso out, wie der damit verbundene Männlichkeitskult.
Und vielleicht haben einfach zu viele jüngere Menschen in ihrem eigenen Umfeld live dabei zuschauen müssen, was passiert, wenn Alkohol körperlich krank macht oder zur Sucht wird. Rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig, zu diesem Ergebnis kam 2018 der Epidemiologische Suchtsurvey. Der durchschnittliche Jahreskonsum von 10,2 Liter reinem Alkohol pro Kopf ist laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zwar deutlich niedriger als früher, aber insgesamt immer noch zu hoch.
Am Sudermanplatz in der Kölner Neustadt-Nord befindet sich eine Bar, die das Gegenprogramm zu den Gärten liefert. Im „Suderman“ geht es nicht um ausschweifende Nächte, sondern um gepflegten Genuss. Drinks werden hier nicht einfach nur serviert. Sie werden kreiert, mit eigenen Zutaten und einem gewissen Forschergeist. Er reise viel, um Getränketrends zu entdecken, berichtet Felix Engels, der die Bar zusammen mit Dominique Simon betreibt. Der neue Trend: „Ab diesem Jahr wird die Hälfte unsere Karte aus alkoholfreien Drinks bestehen.“
Im „Suderman" ist die Hälfte der Drinks auf der Karte neuerdings ohne Alkohol
Das Konzept, das Engels und sein Team sich ausgedacht haben, kennt man aus vegetarisch orientierten Restaurants: Wer möchte, kann das Gericht auch mit Fleisch bestellen. So läuft das künftig im Suderman mit den Getränken. Wer möchte, kann den Cocktail auch mit Alkohol trinken. Aber ein großer Teil der Getränke soll in null Promille genauso gut funktionieren.
„Auch wir sehen den Trend, dass die Menschen einen bewussteren Umgang mit Alkohol haben“, berichtet Engels. Nicht zuletzt gilt das für ihn und sein Bar-Team. „Wir trinken während der Arbeit sowieso nie und nach Feierabend sehr selten.“ Engels lebt hauptsächlich vom Alkoholverkauf, aber er wünscht sich trotzdem einen Paradigmenwechsel. „Ich finde, eine Bar muss kein Ort sein, wo nur Alkohol getrunken wird. Und ich wünsche mir, dass niemand mehr schräg von der Seite angeschaut wird, weil er keinen Alkohol trinkt.“
Dass dieser Trend langlebig sein wird, zeige sich vor allem an den geschäftlichen Neuausrichtungen der Spirituosen-Industrie, meint der Barbetreiber. „Es sind inzwischen nicht mehr nur kleinere Startups, die Ersatzprodukte für alkoholische Getränke anbieten, sondern auch die großen Firmen wie Bacardi.“ Das bringe auch mehr Gestaltungsmöglichkeiten mit sich. Eine ganz ähnliche Entwicklung gab es zuvor schon beim Fleischersatz: Große Firmen wie „Rügenwalder Mühle“ beispielsweise verkaufen inzwischen mehr vegane oder vegetarische Produkte als Fleischwaren.
Wie öde die Getränkekarte wird, wenn man alles Alkoholische streicht, habe ich das erste Mal während meiner Schwangerschaft begriffen. „Fassbrause, bitte!“, war meine Standardantwort auf die Frage: „Und was wollen Sie trinken?“ Warum sind nicht alle Gastronomen erfinderischer in ihrem Angebot, frage ich Daniel Rabe. Rabe betreibt unter anderem die Bagatelle-Restaurants in der Südstadt und in Sülz. Im Sommer haben seine Gäste oft schon einen Wein in der Hand, während sie noch auf einen der begehrten Tische im Außenbereich warten.
Rabe sagt, dass der überwiegende Anteil an Alkoholischem auf Getränkekarten auch wirtschaftliche Gründe habe. „Ein Laden, in dem Gäste abends nur eine einzige Limo trinken, ist auf Dauer einfach nicht rentabel.“ Eine Weile hatten die Bagatellen alkoholfreie Weine und Sekt im Angebot – wirklich angenommen wurde das nicht. „Von einem grundsätzlichen Trend, nichts mehr zu trinken, merken wir bei unserer Zielgruppe ab Mitte zwanzig nicht so viel“, fügt Rabe hinzu.
Der Gastronom ist Vater von drei Kindern. Vielleicht hat sich Jugendkultur an sich verändert, überlegt er. „Dass junge Menschen in eine Kneipenkultur reinwachsen, hat generell abgenommen. Ich habe den Eindruck, die treffen sich lieber draußen und drehen Videos für TikTok.“
Was nach kreativem Austoben klingt, hat eine Kehrseite. Die ständige Sichtbarkeit auf Kanälen wie Instagram hat den Druck auf Jugendliche enorm erhöht, ein makelloses Bild abzugeben. Wer sich im Teenager-Alter anno 1995 das erste Mal im Vollrausch übergeben hat, schämte sich danach vor Familie und Freunden. Heute könnte ein Video davon potenziell Millionen erreichen. Beweise für ausschweifende Nächte finden sich in den sozialen Medien kaum noch. Wohl aber Botschaften, in denen Influencerinnen und Influencer das rauschfreie Leben preisen.
In dem Club „Das Ding" hat sich der Umsatz für harten Alkohol verdoppelt
Vielleicht spielten auch die veränderten finanziellen Verhältnisse eine Rolle, glaubt Daniel Rabe. Als er selbst noch jünger war, sei er mit zwanzig, dreißig Mark gut durch einen ganzen Abend in Köln gekommen, inklusive Clubbesuch und Taxi-Fahrt. Heute undenkbar.
Inzwischen ist es Abend geworden. Auf den Ringen öffnet gleich „Das Ding“ seine Türen. Wer in Köln jung ist und günstig feiern will, der kommt hierher. An diesem Abend gibt es Freibier von 21 bis 22 Uhr und Wodka Lemon für zwei Euro. „Ich betrachte uns immer als den Aldi unter den Diskotheken“, sagt Inhaberin Claudia Wecker. „Studierende haben oft nicht viel Geld, bei uns können sie trotzdem Spaß haben.“
Feiern die Gäste im Ding jetzt nüchtern? Im Gegenteil, sagt Wecker. „Früher haben die Leute schon mal mit einer Flasche Bier gewartet, heute stehen sie mit Rucksäcken voll mit Whisky Cola oder Wodka Lemon in der Schlange und trinken das auf Ex.“ Auch in der Location selbst werde seit Ende der Corona-Beschränkungen mehr harter Alkohol bestellt. „Wir haben gerade unseren Jahresabschluss gemacht, und der Absatz für Wodka Lemon und Wodka Red Bull hat sich verdoppelt.“ Für die Einnahmen ist das gut, aber glücklich ist die Clubbetreiberin darüber nicht. „Es macht einen gehörigen Unterschied, ob die Menschen trinken, um Spaß zu haben oder ob sie sich schon vor dem Eingang abfüllen“.
Ich kehre zurück an meinen Schreibtisch. Es ist in der Tat kompliziert geworden mit dem Alkohol, wie mit vielen Dingen in diesen Zeiten. Die Extreme werden größer, sagt Claudia Wecker. Die einen schwören dem Alkohol gänzlich ab, die anderen tauchen so richtig ein. Das gilt höchstwahrscheinlich für junge Menschen genauso wie für ältere. Dabei ist doch eigentlich das viel beschworene richtige Maß immer schon eine gute Idee gewesen. Darauf ein Bier. Mit oder ohne Alkohol.