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Gault-Millau-Koch Lukas NaglWie ein Fischer den besten Koch Österreichs beliefert

Lesezeit 12 Minuten
Eine Illustration zeigt einen Fischer auf einem Steg.

Eine Illustration zeigt einen Fischer auf einem Steg.

Benjamin Mayr fängt Fische, die in Spitzenrestaurants serviert werden – unter anderem im Hotelrestaurant Traunsee. Ein Besuch in Österreich.

Still und stumm liegt der See an diesem frühen Morgen. Regengrau türmen sich die Wolken. Theatralisch fallen alpine Felsen beinahe senkrecht ins Wasser. Nur der Außenbordmotor von Benjamin Mayrs lang gezogenem Metallboot durchbricht röhrend die Ruhe.

Mayr ist unterwegs zu seinen Netzen, so wie jeden Tag, egal ob es regnet oder schneit. Nur wenn der Wind besonders heftig bläst und die Wellen sich türmen, ist es zu gefährlich auf dem Traunsee im Salzkammergut. Mit bald 200 Metern ist das der tiefste See Österreichs. Mit diesem glasklaren Gewässer ist nicht zu spaßen.

Mayr ist Berufsfischer, mit Abstand der jüngste am See und streng genommen der einzige. „Die älteren Kollegen fischen inzwischen eher nebenbei“, sagt er. Der 35-Jährige hat Sportmanagement in Tirol studiert. Damals kaufte sein Vater, ein Versicherungsvertreter mit Liebe zur Natur, Fischereirechte am Traunsee. „Und dann habe ich mich entschieden, das zu machen, was ich wirklich liebe“, sagt der Sohn.

Ähnliche Worte werden später noch einmal zu hören sein bei dieser Stippvisite im Salzkammergut bei einem Koch, der mit der immer exaltierteren Sterne- und Haubenküche zwischen New York, Dubai und Kopenhagen wenig anfangen kann. Fischer Benjamin Mayr spielt für seine Küche eine entscheidende Rolle.

Fisch aus dem Salzkammergut

Für Mayr war der Anfang hart: „Die ersten drei Jahre waren ein reines Minusgeschäft, ich hatte keine Ahnung davon, wie man Netze ausbringt“, sagt er. Doch er wusste: Sein Fang ist begehrt.

Schon der Habsburger Kaiser Franz Joseph ließ sich Fisch lebend aus dem Salzkammergut nach Wien liefern – und die Delikatesse dann noch ein paar Runden im Schlossgraben schwimmen. Tage dauerte der Transport der Fische erst per Kutsche und dann per Schiff über die Donau.

Anfragen erreichen Mayr auch von Restaurants aus der österreichischen Hauptstadt. In Wien fehlt ihm jedoch die gebührende Wertschätzung für seinen Wildfang: „Ich kann ja nicht auf Bestellung liefern, was sich ein Küchenchef am Computer ausdenkt.“ Mayr setzt auf einen einzigen Abnehmer am Traunsee: „Lukas kauft mir alles ab, jeden Weißfisch. Sogar aus den winzigen Dreikant-Muscheln, einer zugewanderten Art, kocht er einen Sud.“

Lukas ist Lukas Nagl, 1987 geboren, vom Gault-Millau-Restaurantführer zum „Österreichischen Koch des Jahres 2023“ gekürt. Manche sagen, er sei der beste Fischkoch Österreichs.

Sein Essen stehe „für bedingungslose Qualität und perfekt ausbalancierte Gerichte, die ohne Effekthascherei auskommen“. Das haben ihm die Gault-Millau-Tester attestiert. Inzwischen schaut die Gourmetwelt zur Halbinsel im Traunsee, deren Silhouette von einem ehemaligen Benediktinerinnenkloster malerisch gerahmt wird.

Über Jahrhunderte war diese einst bitterarme Ecke Österreichs alles andere als ein kulinarischer Hotspot. Hier schufteten und hungerten die Arbeiter in den Salzstollen. Traditionelle Gerichte klingen vor allem nach Fleisch: Bratl, Ripperl, Essigwurst, Sulz. Allerdings war Fisch damals – anders als heute – viel günstiger als Fleisch und besonders an den zahlreichen katholischen Fastentagen beliebt.

Mayr packt die Angelrute aus und fängt Barsche vom Steg – beinahe im Akkord

Nagl serviert nur, was ihm Mayr und andere Fischer aus benachbarten Seen bringen. An diesem Morgen haben sich gerade einmal vier Felchen – in Österreich Reinanken oder Renken genannt – in den Netzen verfangen. „Das reicht nicht mal für den Sprit“, sagt Mayr ohne erkennbaren Groll in der Stimme.

Der einstige Brot- und Butterfisch, nah verwandt mit Lachs und Forelle, macht sich mittlerweile rar im See. Der Grund dafür könnte im Klimawandel zu finden sein. „Das wärmere Wasser lässt die Fische womöglich in größere Tiefen abtauchen“, sagt Mayr. Zudem werde der See immer sauberer und enthalte dadurch weniger Nahrung für die Fische.

Kaum hat Mayr seinen Fuß wieder an Land gesetzt, packt er die Angelrute aus – und fängt Barsche vom Steg beinahe im Akkord. „Barsche essen Österreicher eigentlich nicht so gern“, sagt er. Der Fisch ist klein, hat einen stacheligen Kamm und ordentlich Schuppen. Aber Nagl wisse auch mit diesem Fisch etwas anzufangen. Und die Barsche haben Hochkonjunktur im See.

Abstrakte Darstellung eines Koch in einer Restaurantküche.

Abstrakte Darstellung eines Koch in einer Restaurantküche.

Den ausgenommenen Fang bringt Mayr direkt in die Hotelküche. Und da steht seit nunmehr 13 Jahren Lukas Nagl am Herd. Weißes Kochhemd, Käppi auf dem Kopf, schwarzer Bart, schwarze Jeans und ein breites Lächeln im Gesicht, dazu eine erfrischende Ladung Selbstvertrauen.

Eine von Nagls Karrierestationen war – neben dem Wiener Prestigelokal Steirereck, einer Art Qualitätsschmiede für den österreichischen Kochnachwuchs – die Insel Sansibar im Osten Afrikas. Dort gilt eine unverrückbare Regel: „Einem Fischer wird der gesamte Fang abgekauft“, sagt Nagl. Dieses Prinzip habe er beibehalten, als er am Traunsee seinen Dienst antrat.

Eine ebenso wichtige Regel Nagls lautet: „Jeder Ozeanfisch ist durch einen Fisch aus dem See ersetzbar.“ Serviert wird für die Gäste des Hotelrestaurants Traunsee Vitello Forello statt Vitello Tonnato, Krebs-Risotto statt Hummer-Risotto und zum Frühstück Renkenmatjes statt Heringsmatjes.

Süßwasserfische für die Gäste

„Lachs oder Thunfisch werden Sie bei mir nicht finden“, sagt Nagl. Wer in die Bretagne reise, erwarte doch auch, dass ihm Austern oder Seeteufel aus dem nahen Atlantik serviert werden.

Regionale Produkte sind in der grenzenlosen Sterneküche ein immer wichtigeres Thema. Doch im Zweifelsfall sehen Spitzenköche die Verpflichtung aufs umliegende Anbaugebiet oftmals als Beschränkung ihrer Kreativität. „Wenn ich den ganzen Planeten zur Verfügung habe, warum sollte ich da nur regional kochen? Das wäre mir zu langweilig“, hat beispielsweise Kevin Fehling aus dem Hamburger Restaurant The Table der „Welt“ mal gesagt. Und Torsten Michel aus der Schwarzwaldstube schränkt ein: „Regionale Zutaten machen nur Sinn, wenn sie hervorragend sind? ... Ich brauche bei uns keinen Bauern zu überreden, auf dem hiesigen Boden irgendwo Spinat anzubauen.“

Auf eine Formel können sich die meisten Sterneköche einigen: Am Ende entscheidet der Gast mit seiner Bestellung, was auf den Teller kommt. Ein Dogma will niemand aus der Regionalität machen, auch Nagl nicht.

Seine Kochkür findet in dem beinahe jeden Abend ausgebuchten Vier-Hauben-Restaurant Bootshaus statt. Direkt vor der Veranda aus ausgeblichenem Holz glitzert der See.

Was Nagl nicht mag: „Viereckigen Tiefkühlfisch“

Der Süßwasserfisch spielt dabei nicht die einzige, aber doch eine zentrale Rolle – und eine andere als in einer Küche, in der nur Filets oder auch mal ein ganzer Fisch in der Pfanne landen. Hier wird Fisch gesotten, gedämpft, gebeizt, roh verarbeitet – und auch fermentiert, wovon noch zu sprechen sein wird.

„Für jeden Fisch gibt es die ideale Zubereitungsart“, sagt Nagl. Bloß eine Fischart mag er nicht: „Viereckigen Tiefkühlfisch.“

Der in Deutschland am meisten verzehrte Fisch ist der Alaska-Seelachs, noch vor Lachs und Thunfisch. Auf die Plätze vier und fünf kamen im Vorjahr nach Angaben des Fisch-Informationszentrums in Hamburg Hering und Garnelen. Die bevorzugte Art, den Fisch zu verspeisen: aus der Dose sowie als Tiefkühlware.

Aus Sicht des Fisch-Informationszentrums sind Lebewesen aus dem Meer für die menschliche Ernährung die Quellen tierischen Proteins mit den geringsten Klimaauswirkungen. Doch spielten sie in der ernährungspolitischen Debatte nur eine untergeordnete Rolle.

Die Umweltorganisation WWF sieht das ein wenig anders. Fischereiexpertin Karoline Schacht sagt, mehr als ein Drittel der Wildfischbestände seien überfischt, und auch der Fisch aus heimischer Produktion sei eine Seltenheit geworden. Sie empfiehlt, Fisch als „seltene Delikatesse“ zu genießen.

Nagl verzichtet weitgehend auf Zuchtfisch, zumindest auf fleischfressende Arten wie Forellen. Denn die würden oft mit Wildfisch aus dem Meer gefüttert, was ihm wenig nachhaltig erscheint. Bestände im See dagegen könnten durch Besatz vergrößert werden. Für den am Traunsee über Generationen beliebten Riedling, auf Stöcke gespießt und über Holzkohle geröstet, gilt momentan eine dreijährige Schonzeit.

Gerichte heißen „Hechtkutteln in Molkesauce“ oder „Wachauer Waller-Curry“

In einem von Nagl herausgegebenen Kochbuch „Der Fischer und der Koch“ (Servus-Verlag) – ein wuchtiges Standardwerk inklusive Angeltechniken, Gewässerkunde, Schlachtmethoden – finden sich Fotos von zerlegten Süßwasserfischen. So ähnlich werden in Fachmagazinen die Einzelteile auseinandergeschraubter Automotoren präsentiert. „Kopf für Suppe oder Curry“, „Geschröpftes Rückenfilet zum Backen“ oder „Bauchlappen, zum Tatarschneiden“ steht neben den fischigen Details im Kochbuch.

Gerichte heißen „Hechtkutteln in Molkesauce“ oder „Wachauer Waller-Curry“, aber auch „Karpfenleberkäse“, „Weißfisch-Kebab“ oder „Weißwürste aus Hecht“. Man muss den Gast mit Vertrautem locken und dann überraschen, besonders den aus dem Salzkammergut, der fürs Festhalten am Überkommenen berüchtigt ist.

Nagl mag Experimente, aber sie müssen dem Essen zugutekommen: „In der nordischen Küche präsentieren sie jetzt ja auch Ente auf Moos mit Stickstoff drunter. Da denke ich mir immer: Um Gottes willen, bratet die Ente doch einfach.“

Raffinesse sei ihm wichtig, „aber wenn die Artischocke mit irgendwelchen Blüten geschmückt wird, dann brauche ich ja drei Floristen in der Küche“. Wenn der Brokkoli mal falsch herum auf dem Teller liegt, schickt er den Gang trotzdem raus zu den Gästen.

Wird bei ihm mehr Hecht angeliefert, als er an einem Tag verarbeiten kann, friert er ihn ein. „Wir sind womöglich das einzige Restaurant weltweit, das wirklich 100 Prozent vom Fisch verarbeitet“, sagt er.

Genauso landen Lammzungen von den Tieren auf der eigenen Obstwiese erst einmal in der Gefriertruhe. Ist genügend Fleisch beisammen, entsteht daraus zum Beispiel eine gepökelte Wurst.

Über diese Praxis freut sich Hotelchef Wolfgang Gröller. Das Haubenrestaurant Bootshaus soll kein Abschreibungsprojekt für überhöhten kulinarischen Ehrgeiz sein: „Das Ganze muss sich schon rechnen“, sagt Gröller.

Bei „Kitchen Impossible“ mit Tim Mälzer war der Koch dabei

Dazu muss man wissen: Mit Spitzenküche wird weniger verdient, als die exorbitant anmutenden Preise vermuten lassen. Bis zu 200 Euro, je nach Anzahl der Gänge, kostet im Bootshaus ein Menü. Weinbegleitung extra. Das muss man sich erst einmal leisten können – und auch wollen.

Nagl formuliert es so: „Nachhaltigkeit hat auch etwas mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu tun.“ Aber auch hier sind schon mal zwölf Köche beim abendlichen Hauben-Menü unter anderem damit beschäftigt, Haselnusssplitter in Feinarbeit in entkernte Süßkirschen zu implantieren.

Wie viel Show gehört beim Kochen dazu? Nagl sagt: „Die Spitzengastronomie ist heute eine globale Industrie. Es gibt Köche, die das ganze Jahr um den Globus fliegen. Ich frage mich immer, wie toll das wohl für die Mitarbeiter zu Hause ist. Ob der Chef die überhaupt alle kennt?“Allerdings: Bei „Kitchen Impossible“, der überdrehten Vox-Kochshow mit Tim Mälzer, hat Nagl auch schon mitgemacht. Fürs Fernsehen bretterte Mälzer im Motorboot über den Traunsee. „So etwas macht uns schließlich bekannt“, sagt Nagl beinahe entschuldigend.

Abgelehnt hat er aber das Angebot, für einen Abend nach Dubai zu jetten, Zigtausende Dollar fürs Showkochen zu kassieren und am nächsten Morgen wieder in sein geliebtes Salzkammergut zurückzukehren.

Und dann habe ich mich entschieden, das zu machen, was ich wirklich liebe.
Benjamin Mayr, Berufsfischer

Wenn er doch mal mit dem Flugzeug aufbricht, muss das schon einen besonderen Grund haben, so wie bei seiner Recherchereise nach Japan. Und da kommt das Blech voller Karkassen, Fischgerippe, ins Spiel, das in der Kühlkammer seinen festen Platz hat.

Keine Gräte und kein Fischkopf wird im Bootshaus weggeworfen, kein Bauchlappen und kein sogenannter Katzenfisch, der seinen Namen daher hat, dass er schwer verwertbar ist und daher den Katzen vorgeworfen wird. Die Katzen am Traunsee müssen darben.

Spitzenkoch Nagl: „Ich probiere aus, die Kollegen entwickeln die Rezeptur“

Nagl hat sich nicht nur von der ostafrikanischen, sondern auch von der japanischen Küche inspirieren lassen: Er zelebriert die Kunst der Fermentation – allerdings vorrangig mit österreichischen Zutaten. Grundlage dabei ist Koji, ein Edelschimmelpilz. Die Enzyme des Pilzes spalten Fette, Proteine und Kohlehydrate auf. Ein vollmundiger Geschmack entsteht im Mund. Koji ist die Grundlage für Misopasten und Sojasaucen. Fisch, Fleisch und auch Gemüse lassen sich damit veredeln.

Aus geräucherten Fischköpfen kreiert Nagl Dashi, eine japanische Fischbrühe. Fischreste verarbeitet er zu Garum, einer Würzsoße, die schon die alten Römer kannten. Aus Mohn lässt er eine Misosuppe entstehen und aus den gepressten Überbleibseln von Kürbiskernöl eine proteinhaltige Sojasauce, Shoyu genannt. Wasabi interpretiert er aus Sauerampfer, Meerrettich und Apfelmus.

Mit einem Lebensmittelbiologen und einer Industriedesignerin hat Nagl eine eigene Firma für diese Produkte gegründet. „Ich probiere aus, die Kollegen entwickeln die Rezeptur“, sagt er.

Stählerne Fässer glitzern in der Fermentationsküche im nahen Altmünster. Plastiktütchen, gefüllt mit Edelpilzsporen, liegen herum. Es riecht nach chemischen Prozessen, die Luftfeuchtigkeit ist hoch. „Erinnert an das Drogenlabor der Fernsehserie ,Breaking Bad‘ oder?“, sagt Nagl und grinst.

Zeit- und Produktionsdruck in der Küche herrscht auch am Traunsee. Gearbeitet werde in der Sommersaison viel mehr, als im Vertrag stehe. „Aber wir haben eine digitale Zeiterfassung, keine Extrastunde geht am Ende eines Jahres verloren“, sagt Nagl.

Es gibt immer noch zu viele schwarze Schafe, die ihre Macht in der Küche ausnutzen.
Lukas Nagl, Koch

Und wenn man mal das Personal fragt, ohne dass der Chef irgendwo in der Nähe herumsteht? „Es gibt schon eine klare Hierarchie“, sagt eine junge Köchin, „aber man fühlt sich wertgeschätzt.“

Seine Branche habe noch viel aufzuarbeiten, sagt Nagl. Das habe gerade auch der aktuelle Fall des deutschen Starkochs Christian Jürgens gezeigt, dem Belästigungen, Schikane, Demütigung von Mitarbeitern und noch viel mehr zur Last gelegt werden. Auch ohne solche Exzesse sind vielerorts Missstände zu beklagen. Im gerühmten Kopenhagener Noma stellte sich heraus, dass der Betrieb mit Dutzenden von Kochprofis aus aller Welt am Laufen gehalten wurde. In Dänemark arbeiteten sie als bessere Praktikanten quasi für ein Taschengeld.

„Es gibt immer noch zu viele schwarze Schafe in der Küche, die ihre Machtposition ausnutzen“, sagt Nagl. Berühmte Chefs zahlten Hungerlöhne, ließen ehrgeizige Nachwuchskräfte 40-Stunden-Verträge unterschreiben und dann 80 Stunden arbeiten.

Essen als etwas Verbindendes

Je länger man mit dem österreichischen Koch spricht, desto mehr kristallisiert sich heraus: Der Sohn eines Lehrers und einer Kindergärtnerin verfolgt insgeheim eine pädagogische Mission. „Wir leben im Avocado-Tomaten-Mozzarella-Zeitalter“, sagt er. Beispielsweise habe die Konfrontation zwischen Vegetariern und Fleischessern mittlerweile geradezu ideologische Züge angenommen.

Da könnte er recht haben: In Australien eskalierte kürzlich ein Social-Media-Krieg zwischen einem Koch mit Hang zu Fleischgerichten und seiner überschaubaren vegetarischen Kundschaft. Der Koch verbannte Vegetarier und Veganer aus seinem Restaurant, und diese schlugen mit Negativbewertungen und gefakten Tischreservierungen im Netz zurück. Bald lagen die Nerven in dem Restaurant blank.

Nagl versteht Essen als etwas Verbindendes. Im Gasthaus will er Menschen zusammenbringen.

Und dann nimmt man im Restaurant Bootshaus Platz. Die niedrig stehende Sonne färbt den 1691 Meter hohen Traunstein-Berg in sanftes Rot. Segelboote gleiten dahin im bereits abflauenden Abendwind. Angler am Ufer machen Jagd auf kapitale Hechte.

Speisekarte? Gibt es nicht

Auf der Bootshaus-Terrasse sitzen auch Kinder zwischen den Erwachsenen. Zwischendurch tollt der Nachwuchs unten am Steg herum und setzt sich dann wieder für einen Teller Nudeln dazu.

Eine Speisekarte? Gibt es nicht. Oder doch: Eine Mitarbeiterin fährt ein Wägelchen von Tisch zu Tisch, auf dem die Zutaten des Abends drapiert sind. Sie erläutert, was es mit jedem einzelnen Gang auf sich hat – auch mit dem Rehgehörn, das den Hauptgang „Maibock aus dem Attergau“ symbolisiert. Es muss ja nicht immer Fisch sein.

Und dann geht’s los: Sellerie, milchsauer vergoren und in dünnen Scheiben serviert, darunter roh marinierte Forelle und Koji-Sud, darüber Holunderblüten. Geschmortes Fenchelherz, das Kraut und die Stängel als Chutney, das Ganze bestreut mit Hechtkaviar. Junge Zucchini mit Blüte, gefüllt mit Hechtfarce. Das Reh gibt es gegrillt über Holzkohle, dazu konfierte Mairübe mit frittierten Brennnesselchips und Habichtspilz-Pulver.

Essen als Erlebnis, als Schärfung der Geschmacksnerven – aber nicht als extravagante Angeberei. Auch wer sonst Currywurst-Pommes bevorzugt oder Wiener Schnitzel, bekommt eine Ahnung davon, was gutes Essen ausmacht.

Besonders hervorzuheben ist der dritte Gang an diesem Abend: gebratener Barsch, serviert mit grünen Bohnen, eingelegter Birne und Misopaste. Noch am Morgen schwamm der Fisch im See. Bis er sich am Angelhaken von Fischer Mayr verschluckte.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.