„Regional ist das neue Bio“Koch aus Köln geht es um „Die ganze Kuh“
Herr Kimmig, Ihr Interesse gilt der ganzen Kuh. Das ist ja keine neue Entwicklung, sondern wurde schon in den 1990er Jahren als Nose-to-Tail-Bewegung gefeiert. Weitläufig bekannt machte sie kein Geringerer als Ihr ehemaliger Chef Eckart Witzigmann. Warum widmen Sie sich jetzt Niere, Bries und Co.?
Nose to Tail, also ein Tier vom Kopf bis zum Schwanz zu verarbeiten, ist tatsächlich ein ganz alter Hut. Denn früher, in ärmeren Zeiten, als noch kein Überfluss herrschte und man sich im Supermarkt noch nicht zwischen Zehnerlei Butter entscheiden konnte, da wurde alles gegessen, alle Teile vom Tier eben. Ich meine also jene Zeit, in der die Nouvelle Cuisine noch nicht mal angedacht war.
Wenn ich heute beim Metzger einkaufe, denke ich manchmal, ein Tier, egal ob Schwein oder Kuh, besteht nur aus Filet, Rücken und Keule. Woran liegt das?
Früher war es so, dass das Filet in wohlsituierten Küchen landete, der Ochsenschwanz bei den ärmeren Leuten. Dann entwickelte sich die Viehzucht immer mehr zur Massentierhaltung, so dass sich viele die Filetstücke leisten konnten und der Rest wurde zu günstigem Hackfleisch, Wurst oder Tierfutter verarbeitet.
Zur Person
Der Koch Steffen Kimmig ist vielen Kölnern als Gastronom des Restaurants Kap am Südkai bekannt, das er zehn Jahre lang betrieb. Er kommt aus dem badischen Kehl und hat in vielen hochkarätigen Küchen gekocht, unter anderem im Münchner Tantris bei Hans Haas, später assistierte er Eckart Witzigmann.
Bald eröffnet er Stivie Cuisine, eine Eventlocation in Köln . In seinem Kochbuch widmet er sich mit handfesten Rezepten dem ganze Tier. (eva)
„Die ganze Kuh“, 90 Rezepte für Fleischschmecker. Steffen Kimmig. Olivia Verlag, 224 Seiten, 27,90 Euro. Hier können sie das Kochbuch auf Amazon bestellen.
Gerade gibt es allerdings eine Gegenbewegung: Einkaufen beim Bio-Produzenten, der das Tier erst schlachtet, wenn alle Teile verkauft sind. Also erleben wir eine Küchenwende zurück zum Bries?
Saure Nierchen
Ja, genau. Jeder Käufer bekommt dann sein Paket mit Rücken und Filet, aber auch Schulter und Bauch. Und weil eben vor Jahrzehnten die Sterneküche damit anfing und sich der Trend über die gehobene Gastronomie auch in der bürgerlichen Küche etabliert hat, kann man sich heute wieder auf so hervorragende Gerichte wie Saure Nierchen zurück besinnen.
Innereien, ernsthaft?
Ja, klar. Aber wenn einem das suspekt ist, kann man sich natürlich mit anderen aus der Mode gekommenen Stücken den Innereien langsam annähern. Es zum Beispiel mit dem Schweinebauch versuchen, oder, wenn wir bei der Kuh bleiben, beim Kalb sich für die Brust entscheiden und beim Rind Rippen oder Beinscheiben wählen.
In Ihrem Kochbuch widmen Sie den Innereien das letzte Kapitel, warum?
Ich hätte mit den Innereien angefangen, aber es war dann eine gemeinsame Entscheidung, dass wir uns besser mit insgesamt 90 Rezepten in zehn Kapiteln von Hals und Nacken, über Hüfte, Bauch und Rippen, Schulter und Hachse uns dem Schwanz und den Innereien annähern.
Sind die Menschen Innereien-scheu? Ich komme aus dem Schwäbischen, da wurde immer alles verkocht, arm oder reich, das war ganz egal. Zu hohen Feiertagen kochte meine Oma Zunge, dienstags gab es immer frische Leber, weil montags geschlachtet wurde, meine Mutter bereitete für sich und meinen Bruder sogar Kutteln zu. Ich konnte das alles nicht essen, habe mich auf die gebratenen Apfelscheiben und Zwiebel gestürzt und Leber Leber sein lassen. Bis heute.
Es gibt und gab schon immer einen großen regionalen Unterschied. Während wir uns hier im Rheinland gerade aufs ganze Tier zurück besinnen, wurde im süddeutschen Raum Kalbskopf und Bries selbstverständlich verspeist, ja als Spezialität angeboten. Die Küche im Süden ist auf jeden Fall offener im Vergleich zur mitteldeutschen oder norddeutschen Küche.
Vor 15 Jahren habe ich dann in einem Restaurant in München geschmorte Ochsenbäckchen entdeckt. Eine Wucht. Hier sind sie mittlerweile auch wieder populär. Also setzen sich die Spezialitäten der süddeutschen, der ländlichen Küche durch?
Stadt oder Land
Das ist so, ja. Es gab immer das Nord-Südgefälle und den Unterschied zwischen Stadt und Land. Wenn man in der Eifel ins Gasthaus geht, sieht man andere Gerichte als in der Großstadt auf der Speisekarte. Tatsächlich gibt es generell eine Differenz zwischen Stadt und Land, deutschlandweit würde ich sagen. Weil die Landbevölkerung ursprünglicher und näher am Tier wohnt. Aber es kommen unterschiedliche Dinge zusammen, etwa dass das Kochen heute wieder einen anderen Stellenwert hat, dem man sich mehr widmet als vor 20 Jahren noch.
Was spielt noch eine Rolle?
Eindeutig die Zeit. In vielen deutschen Familien wird heute fürs Kochen wieder mehr Zeit aufgewendet. Die ganzen Niedrig-Temperatur-Verfahren, das langsame Garen von Fisch, Fleisch oder Gemüse, eingeschweißt im Kunststoffbeutel und im Wasserbad gegart, braucht lange. Genauso das langsame Schmoren im Backofen. Auch diese Entwicklung geht auf die gehobene Gastronomie zurück, weil sich dort die Zeit für die Zubereitung genommen wurde. Rücken, Filet oder Geschnetzeltes sind schnell gemacht, aber ein Stück aus der Schulter oder die Bäckchen, das dauert einfach.
Jetzt ein bisschen Warenkunde: Woran liegt das?
Langsames Schmoren
Die Bäckchen zum Beispiel sind ein unglaublich kollagenhaltiges Fleisch ist. Das ist ein wahnsinniger Muskel, der durchzogen ist, aber durch das langsame Schmoren wird der butterweich und unglaublich saftig, weil einfach soviel Fettgewebe drin ist. Eine große Spezialität. Ich sage immer, es gibt kein einfacheres Essen als ein Schmorgericht aus dem Ofen. Früher bei der Landbevölkerung war das Gang und Gäbe. Der Ofen war ohnehin an, während das Fleisch schmorte, konnte die Familie aufs Feld oder anderer Arbeit nachgehen.
Sie glauben ernsthaft, dass der Convenient-Trend in der deutschen Durchschnittsküche verblasst?
Wir haben über die regionalen Unterschiede gesprochen. Darüberhinaus spielen auch unterschiedliche Bildungsniveaus eine erhebliche Rolle beim Kochen. Will ich mich bewusst ernähren? Brauche ich jeden Tag Fleisch, egal wo es her kommt? Ist es mir wichtig, am Wochenende ordentlich zu kochen? Das sind die relevanten Fragen. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass die Trendwende in der heutigen Gesellschaft mit den Gemüsekisten anfing und sich immer weiter in allen Bevölkerungsschichten etabliert. Und dann sind wir wieder bei den Nierchen: Die Zubereitung ist sicherlich nicht einkommensabhängig, es ist eine Frage des Verständnisses.
Aber in der Großstadt muss es doch immer schnell gehen…
Ich bin davon überzeugt, dass die Städter zwischen 35 und 50 heute viel offener sind als früher. Das Verständnis ist da, fürs ganze Tier, für die Qualität. Der Spaß am Kochen und Essen und das Bewusstsein für eine gesunde Ernährung sind weiter im Kommen.
Bei den wenigen, die überhaupt noch Fleisch essen.
Vegetarisch ist etabliert, vegan ist ein Trend. Grundsätzlich geht der Trend zur nachhhaltigen Ernährung. Nicht mehr jeden Tag Fleisch zu essen, sondern einmal die Woche, dafür aber dann auf die Qualität zu achten. Man kauft bewusster ein und genießt.
Und zum Genuss und dem guten Gefühl gehört das Bio-Siegel automatisch dazu?
„Regional ist das neue Bio"
Ich würde sagen, regional ist das neue Bio. Denn das weit verbreitete EU-Bio-Siegel zertifiziert zwar gewisse Rahmenbedingungen, aber der Weg vom Schlachthof zur Metzgerei beträgt oft Hunderte Kilometer. Ich glaube, in der Nähe einzukaufen ist weiter im Kommen.
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