Italien ist die Pastahochburg der Welt. Doch erfunden wurde die Nudel aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Südeuropa – und auch nicht in China.
Italienische SpezialitätDie Pasta ist und bleibt „die Königin der Tafel“
Die Pasta: Nichts verkörpert beim Essen die „Italianità“ besser als die Nudeln – nicht einmal die Pizza. Es gibt sie in Italien in allen erdenklichen Formen und Ausprägungen: als „Pasta secca“ (die man abgepackt als Spaghetti, Fusilli, Penne rigate und in weiteren, unzähligen Varianten im Supermarkt kaufen kann), als „Pasta fresca“ (die frisch zubereitete Pasta, zum Beispiel Tagliatelle oder Strozzapreti, deren Teig man mit oder ohne Ei anrühren kann) oder als „Pasta ripiena“ (gefüllte Pasta wie die Tortellini und die Ravioli, die meist ebenfalls frisch produziert werden).
Alles in allem existieren mehr als 300 Pastasorten, und kein Volk der Welt vertilgt so viel davon wie die Italienerinnen und Italiener: etwa 24 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: Deutsche und Schweizer essen je nur neun bis zehn Kilo Nudeln pro Jahr. Auf Platz zwei der Pasta-Weltrangliste liegt übrigens Venezuela, mit einem Pro-Kopf-Konsum von 15 Kilogramm.
Die Marco-Polo-Lüge
Lange hielt sich in Italien die Legende, dass der Entdecker Marco Polo, der auf der Seidenstraße bis nach China gelangt war, bei seiner Rückkehr aus dem Reich der Mitte im Jahr 1295 eine Packung Nudeln mitgebracht habe. Zu diesem Gerücht hatte nicht unwesentlich ein alter Hollywoodfilm aus dem Jahr 1938 über Marco Polo mit Gary Cooper in der Hauptrolle beigetragen. In Wahrheit waren in Italien Hartweizenteigwaren in Spaghettiform bereits mindestens 200 Jahre vor Marco Polos China-Reise hergestellt worden – und zwar auf Sizilien unter arabischer Herrschaft.
Abu Abd Allah Muhammed, Hofschreiber und Kartograph des späteren normannischen Königs von Sizilien Roger II., hatte in seiner Chronik im zwölften Jahrhundert eine lange, fadenförmige Nudel mit der Bezeichnung „Jtriyya“ erwähnt, die in der früheren arabischen Kolonie Palermo beliebt gewesen sei. Das heißt: Nicht die Chinesen und wahrscheinlich auch nicht die Italiener, sondern die Araber haben die Pasta erfunden und in Italien eingeführt.
Als Wiege der heute verbreiteten, traditionellen italienischen Hartweizenpasta gilt dagegen das 36?000-Einwohner-Städtchen Gragnano, zwischen Neapel und der Amalfi-Küste auf der Halbinsel von Sorrent gelegen. Die „Pastai“, die Nudelhersteller, von Gragnano waren bereits vor mehr als 500 Jahren die Hoflieferanten der Bourbonen-Könige in Neapel gewesen, und noch heute entspricht die Produktion von Gragnano täglich zehn Millionen Pastamahlzeiten. Aus dem Städtchen stammen ganze 14 Prozent der italienischen Pastaexporte.
Pasta mit geschützter Herkunft
In Gragnano haben bis heute mehr als ein Dutzend kleine und mittlere Pastahersteller überlebt. Als Erste haben sie im Jahr 2013 nach einem mehr als zehn Jahre dauernden Zertifizierungsprozedere von der EU das geschützte Herkunftssiegel IGP (Indicazione Geografica Protetta) erhalten, als bisher einzige Pastahersteller der Welt. Das bedeutet, dass die Pasta aus Gragnano nur aus einer bestimmten Region stammen darf, um so genannt werden zu können – wie es etwa auch bei einigen Käsesorten wie Parmigiano Reggiano oder Grana Padano der Fall ist.
Das Besondere an der Pasta aus Gragnano ist ihre raue, im Vergleich zur industriell hergestellten Massenpasta etwas hellere Oberfläche. Diese entsteht durch die Verwendung von Bronzeformen, durch die der Hartweizenteig gepresst wird. Bei der industriellen Herstellung kommen in der Regel Teflonformen zum Einsatz. „Dank der rauen Oberfläche nimmt die Pasta das Aroma des Sugo besser auf, gleichzeitig kommt ihr Eigengeschmack besser zur Geltung“, betont der Patron der kleinen Pastafabrik Pastificio dei Campi, Giuseppe Di Martino. Ein weiteres Merkmal der Pasta di Gragnano IGP ist die langsame, oft mehrere Tage dauernde Trocknung bei niedrigen Temperaturen von 40 bis 60 Grad, während die Industriepasta bei bis zu 100 Grad getrocknet wird.
„Die Trocknung bei niedrigen Temperaturen schont die Proteine der Pasta“, sagt Di Martino. „Sie bleibt deshalb länger ,al dente‘ und verkocht weniger leicht.“ Der mit Abstand größte Produzent in Gragnano ist Garofalo, dessen Produkte auch in vielen Supermärkten im Ausland erhältlich sind, auch in Deutschland. Garofalo ist aus dem langwierigen Zertifizierungsprozess zwar ausgestiegen, befolgt aber im Wesentlichen die IGP-Auflagen und kann damit als vollwertige Gragnano-Pasta bezeichnet werden.
Gragnano war geradezu prädestiniert, zur Pastahochburg ernannt zu werden. Das Städtchen liegt unweit des Golfs von Neapel am Eingang zu einem engen Tal in die Lattari-Berge, welche die Gemeinde von der Amalfi-Küste trennen. Die Dutzenden von „Pastifici“, Pastafabriken, die noch am Ende des 19. Jahrhunderts die leicht ansteigende Via Roma im Stadtzentrum säumten, nutzten die Meeresbrise, die am Mittag zu jeder Jahreszeit verlässlich vom Golf heraufzieht und die Pasta auf Holzgestellen im Freien langsam trocknen ließ.
Weizen aus Neapel
Der Fluss im Tal trieb außerdem 25 Mühlen an, die das „Grano duro“, den Hartweizen, mahlten. Zudem sprudeln in Gragnano zahlreiche Quellen mit glasklarem, frischem Quellwasser, das zum Anrühren des Teigs benötigt wird. Bezogen wurde der Weizen vom nahen Hafen in Neapel; zugleich konnte die fertige Pasta von dort aus in alle Welt verschifft werden.
„Pasta“ bedeutet auf Deutsch ganz einfach „Teig“. Das Wort ist eng verwandt mit „Pasto“, und das wiederum bedeutet „Speise“ beziehungsweise „Mahlzeit“. Die Pasta wird in Italien sprachlich also praktisch gleichgesetzt mit dem Essen. Und tatsächlich ist sie vom italienischen Speiseplan nicht wegzudenken: Sie ist im traditionellen Dreiklang des italienischen Menüs der klassische „Primo“, also der erste Gang nach den „Antipasti“, den Vorspeisen, und vor dem „Secondo“, der Hauptspeise. Zwar hat der Pastakonsum in den vergangenen Jahren in Italien leicht abgenommen – während er sich in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt hat –, aber noch immer essen die meisten Italiener einmal pro Tag einen Teller Nudeln.
Als unverzichtbares Standardgericht ist die Pasta im Belpaese denn auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor: In Italien werden jährlich 3,6 Millionen Tonnen Nudeln produziert, ein Viertel der Weltproduktion – auch hier sind die Italiener, wie beim Pro-Kopf-Konsum, Weltmeister. Die dafür notwendigen Mengen an „Grano duro“, also an Hartweizen, liefern rund 200?000 Landwirtschaftsbetriebe vor allem in den süditalienischen Regionen Apulien, Sizilien, Basilicata, Molise und Kalabrien, die das Pastagetreide auf 1,26 Millionen Hektar Fläche anbauen. Dennoch reicht die nationale Produktion nicht aus: Rund 40 Prozent des Hartweizens müssen importiert werden, vorwiegend aus Kanada, den USA und der Ukraine. Umgekehrt exportiert Italien 60 Prozent seiner Pastaproduktion ins Ausland. Jede vierte weltweit konsumierte Pasta stammt aus italienischer Produktion. In Deutschland ist es jede zweite.
Transparente Herkunft
Wie die meisten „Pastai“ von Gragnano verarbeitet auch Di Martinos Pastificio dei Campi ausschließlich biologisch hergestellten „Grano duro“ aus Apulien, Molise und der Basilicata, obwohl dies die IGP-Vorschriften nicht vorschreiben. „Das Problem dabei war, dass meine Pasta dreimal mehr kostete, als der Markt zu zahlen bereit war“, erinnert sich Di Martino an die Anfänge, als er 2003 den Familienbetrieb übernahm und umzustellen begann. Seine Lösung: Als Mehrwert garantiert er den Konsumenten eine hundertprozentige Transparenz der Herkunft seiner Pasta. Anhand eines Codes auf der Verpackung können die Kunden über die Website seines „Pastificio“ und dank einer Verlinkung mit Google Earth das Feld ausfindig machen, auf dem der verwendete Weizen geerntet wurde. Außerdem werden der Bauer, der Müller und der „Pastaio“ vorgestellt, die bei der Produktion der jeweiligen Packung beteiligt waren.
Gragnano ist zwar die einzige Pastahochburg mit IGP-Zertifikat, aber darüber, welcher Hersteller letztlich die besten Fusilli, Maccheroni, Paccheri, Spaghetti, Linguine, Mezzemaniche und Penne produziert, können italienische „Casalinghe“ (Hausfrauen) und „Nonne“ (Großmütter) genauso lange und leidenschaftlich diskutieren wie andere über Fußball. Und tatsächlich wird Pasta, die nach der Gragnano-Methode hergestellt wird, auch anderswo und von anderen Herstellern produziert – in genauso überzeugender Qualität. Nur italienischen Hartweizen verwendet zum Beispiel auch der neapolitanische Pastaproduzent Voiello, der zum Großkonzern Barilla gehört, dem größten Pastaproduzenten der Welt in der Emilia-Romagna. Auch der im Trend liegende Hersteller La Molisana aus Campobasso, dem Hauptort der kleinen süditalienischen Region Molise, setzt auf einheimischen Hartweizen. Zahlreiche andere, im Ausland weniger bekannte Unternehmen tun dies inzwischen ebenfalls.
Einheimischer oder importierter „Grano duro“? Um diese Frage tobt in Italien seit vielen Jahren ein regelrechter Glaubenskrieg. Im Jahr 2017 wollte die damalige Regierung von Paolo Gentiloni die Pastahersteller per Dekret dazu zwingen, ihre Produkte mit einer Herkunftsbezeichnung für den Hartweizen zu versehen: Sie sollten also angeben, ob sie italienischen oder ausländischen „Grano duro“ verwenden. Den großen Pastabaronen wie Barilla gefiel dies gar nicht. Sie wiesen darauf hin, dass in Italien zwar weltweit am zweitmeisten Hartweizen produziert werde (nach Kanada), aber dass die inländische Produktion eben nur 60 Prozent des Bedarfs decke. „Wenn die 120 Pastahersteller nur noch italienischen Hartweizen verwenden würden, dann würde die nationale Produktion um 30 bis 40 Prozent einbrechen“, warnte Paolo Barilla vom gleichnamigen Marktführer.
Glaubensfrage Hartweizen
Ohnehin ist es umstritten, ob der inländische Hartweizen der Importware qualitativ überlegen sei. Großproduzenten wie Barilla verneinen dies, und es gibt auch Studien, die besagen, dass der ausländische Hartweizen sogar einen leicht höheren Anteil an Proteinen enthalte als der italienische. Der Kleinbauernverband Coldiretti hält dagegen: Der kanadische Hartweizen werde mit dem möglicherweise krebserregenden Pflanzenschutzmittel Glyphosat behandelt, das in Italien verboten sei.
Diesen Vorwurf wiederum lassen die Pastahersteller nicht gelten: Im Ausland produzierter Hartweizen enthalte höchstens Spuren von Glyphosat. „Man müsste jeden Tag 200 Kilogramm Pasta essen, 365 Tage im Jahr, damit eine gesundheitsschädliche Wirkung eintreten würde“, betont Riccardo Felicetti, Geschäftsführer des gleichnamigen Pastaproduzenten in Trient. Solche Mengen Pasta, wenigstens das steht in diesem Glaubenskrieg fest, essen nicht einmal die Italiener.
Viele Experten sind ohnehin der Ansicht, dass eine Mischung aus in- und ausländischem Hartweizen die beste Pasta gebe; und tatsächlich verwendet die Mehrzahl der Hersteller beides. Den meisten Italienern ist es letztlich ohnehin egal, woher der Hartweizen in ihrer Pasta stammt – Hauptsache, sie schmeckt und füllt den Magen. Und das tut sie, wenigstens darin sind sich in Italien alle einig.
„Die Pasta ist die Königin der Tafel, das Olivenöl und die Tomate sind die Könige“, betont Pastahersteller Di Martino aus Gragnano. Sie sei deshalb so beliebt und erfolgreich, weil sie „keine Grenzen kennt, weder nationaler, kultureller oder religiöser Natur“. Weil die Pasta günstig und für jedermann erschwinglich sei, kenne sie auch keine sozialen Grenzen. Was einen zur Grundthese bringt, die ein ganzes Land zusammenhält: Vor der Pasta sind alle gleich.
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