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Interview mit Stephan Grünewald„Karneval ist wie die Befreiung von Rollenzwängen“

Lesezeit 5 Minuten
David Bowie

Das Zeitgeist-Kostüm, hier die David Bowie Maske

Herr Grünewald, was steckt hinter der Lust des Verkleidens?

Psychologisch gesehen ist es die Lust an der Verwandlung. Während des Jahres sind wir in Rollenzwängen in -bildern gefangen, in die wir uns aber jeden Tag hineinverwandeln müssen. Anders ausgedrückt: Irgendwann haben wir uns entschieden, diese oder jene Rolle anzunehmen und sie tagtäglich zu erfüllen. Die Verwandlung, der wir uns dann an Karneval hingeben, ist wie eine Befreiung von diesen Rollenzwängen. Und es ist eine Verwandlung ohne hohen Zeitaufwand und Festlegung: In sechs Tagen ist der Spuk vorbei.

Das bedeutet: Im Alltag müssen wir uns mit viel Aufwand in die richtige Richtung verwandeln?

Wir kostümieren uns eigentlich das ganze Jahr über. Wenn wir morgens aufwachen sind wir ein traumverlorenes Bündel, erst unter der Dusche kommen wir zu uns, und wenn wir dann alles eingeseift haben, merken wir, da gibt es Beine, Arme, Körper. Wir erleben jeden Morgen einen neuen Schöpfungsritus, und wenn wir dann vor dem Kleiderschrank stehen, stellt sich die Frage, in welche Ausrichtung wir uns begeben. Wenn ich einen Anzug wähle, bin ich in einem viel strengeren Handlungskorsett als mit Jogginghose und Sweatshirt.

So ist die tägliche Verwandlung durch meine Rolle und die Gesellschaft festgelegt?

Wenn ich Angestellter bin, kann ich weder in Jogginghose kommen noch im Smoking. Ich habe mich an die Konvention zu halten, aber auch an meinen Typus. Wenn ich ein sportlicher Typ bin, trage ich auch am Arbeitsplatz Jeans, wenn ich eine elegante Person bin, muss ich eben festlicher gewandet sein.

Aber das sind ja Äußerlichkeiten. Die Berufswahl ist vermutlich die schwierigste Verwandlung?

Das ist die anstrengendste, es ist ein jahrelanger Prozess. Wenn ich Arzt werden will, muss ich sieben Jahre studieren, und zwei hospitieren, bis ich dann den weißen Kittel anziehen und Patienten versorgen darf. Das Schöne an der karnevalesken Verwandlung ist: Arztwerden dauert jetzt nur drei Minuten. Ein weißer Kittel genügt. Die karnevaleske Verwandlung ist auf jeden Fall eine enorme Verkürzung und Vereinfachung komplizierter seelischer Verwandlungsprozesse.

Stephan Grünewald

Welche Gründe gibt es noch für die Lust an der Kostümierung?

Es ist eine Verwandlung mit Rückkehrgarantie. Einmal Arzt, immer Arzt. Davon entbindet uns die Kostümierung. Schon am nächsten Tag kann man etwas anderes wählen.

Ist es nicht auch anstrengend, wenn an mein Kostüm eine gewisse Erwartungshaltung gebunden ist? Das Bienchen muss immer lustig sein, der Pirat wild und auch ein bisschen gefährlich?

Ja doch. Das Kostüm bringt einen auch in einen Verwandlungszwang. Wenn ich Pirat bin, dann wird von mir in meinem Kostüm erwartet, dass ich auch mal herumspringe und entere. Es entsteht ein gewisser Druck, dieser Erwartung nachzukommen, selbst wenn ich eigentlich lieber in der Ecke stehe, schweige und beobachte.

Ist also an jede Kostümierung eine bestimmte Rolle gebunden?

Nein, sonst wird die Sache zu einfach. Wir können das Kostüm nicht isoliert betrachten und den Kostümträger genauso wenig. Kostüm und Träger gehen einen Wirkungszusammenhang ein. Das heißt, ein und dasselbe Kostüm kann bei einem anderen Träger eine komplett andere Bedeutung haben.Deshalb halte ich gar nichts von den Kostümsymbolisierungen. Der Pirat ist wild, das Bienchen immer lustig – das ist Mumpitz. Man kann weder das Kostüm noch seine Wirkung in feste Schubladen packen. Den einen Piraten erleben wir so, den anderen Piraten ganz anders.

Die typischen Klischees funktionieren also gar nicht?

Ich kann mit dem Kostüm bestimmte Wesenszüge von mir zuspitzen, kann sie aber auch konterkarieren, verdecken oder relativieren. Ich kann Seiten ergänzen, die vielleicht bei mir unterbelichtet ist. Ich kann aber auch andere Seiten zurückdämmen, und bekomme eine komplett neue Melange. Deshalb findet man die eine Krankenschwester liebreizend, die andere vielleicht vulgär. Das liegt nicht am Kostüm, sondern ist in einem Wirkungszusammenhang begründet, der uns oft unbewusst ist. Natürlich legt jedes Kostüm eine gewisse Bedeutungsrichtung nahe, aber ich spiele ja bewusst mit dem Klischee, weil ich mit dem Kostüm bestimmte meiner Wesenszüge verstärke, verdecke oder hinzufüge.

Aber Karneval bietet die Chance, mich von der Konvention und dem Typus frei zumachen?

Von der Konvention ja, vom Typus nein. Karneval lebt ja von der Interaktion. Manchmal dauert es eine Stunde, bis man dahinter kommt, welcher Mensch hinter dem Kostüm steckt. Wenn man das immer auf den ersten Blick erkennen würde, wäre die Kostümierung ziemlich langweilig. Karneval lebt von der schnellen Verwandlung, aber auch vom Prozess der Entlarvung und Dekonstruktion: Was ist das für ein Pirat? Ein kecker, ein schüchterner, einer, der ab und zu nur über die Stränge schlägt? Man weiß es eben nicht. Das Kostüm ist eine Wundertüte. Aber der Charakter hinter dem Kostüm lässt sich niemals ganz verleugnen.

Also hat die Verwandlung einen erfrischenden Charakter?

Insofern ja, dass man sich von gewissen Zwängen und Konventionen mal loseisen kann. Aber im Grunde sind wir dann über die Rückkehr in den Alltag auch wieder froh, weil die Konventionen auch etwas Entlastendes haben. Wir sind das ganze Jahr in unserer festen Gestalt gefangen, dann befreien wir uns und geben unseren Verwandlungswünschen Raum. Wir merken aber, dass auch das anstrengend ist, weil ich mich neu erfinden und inszenieren muss. Die Rückkehr in die Normalität ist dann wieder beruhigend. Ich zitiere Goethe: Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.

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