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Niederlande: Drogen, Berge, BibelbeltSechs Geheimnisse der geliebten Nachbarin

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Eine Windmühle bei Rotterdam, neben Gouda und Tulpen vermutlich für viele ein Symbol der Niederlande. Aber welche Geheimnisse hat das Land noch?

Köln – Die beste Freundin im Westen, die Nachbarin, die uns in jeder Lebenslage eine passende Gastgeberin zu sein scheint: Kurzurlaubsreif, strandsehnsüchtig, tulpenaffin, architektur- und kunstinteressiert, bereit für den Geruch der großen weiten Welt, mit dem der größte Tiefwasserhafen Europas begrüßt, heißhungrig auf Smakeliges von Poffertjes bis Broodje Haring, neugierig auf hierzulande Verbotenes wie Coffeeshops und deren berauschende Verkaufsschlager.

Jedes Jahrbesuchen mehr als drei Millionen deutsche Touristen die Niederlande, vor der Corona-Pandemie schwangen die Zahlen sich 2019 gar auf mehr als sechs Millionen in die Höhe. Rund ein Drittel aller Niederlande-Touristen kommen damit aus Deutschland. Die Nachbarin, sie scheint gerade Nordrhein-Westfalen vertraut. Aber es gibt dennoch ein paar Geheimnisse zu entdecken. Denn die Frage „Was ist denn eigentlich typisch niederländisch?“ ist gar nicht mal so einfach zu beantworten. Eine sommerliche Liebeserklärung an unsere Nachbarin, die eine Neuentdeckung lohnt.

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Die Niederlande sind mehr als Fahrräder und Tulpen.

Königin Máxima sagte im Jahr 2007 in einer vielbeachteten Rede, sie sei auf der Suche nach einer verbindenden niederländischen Identität nicht fündig geworden. Stattdessen zählte die gebürtige Argentinierin eine lange Liste einzelner Beobachtungen auf. „Die Niederlande, das sind: große Fenster ohne Gardinen, so dass jeder gut hineinschauen kann. Aber auch: viel Wert legen auf Privatsphäre und Gemütlichkeit im kleinen Kreis. Die Niederlande: das sind Nüchternheit und Selbstbeherrschung, Pragmatismus. Aber auch: Zusammen intensiv Emotionen erleben.“ Fazit: Die Niederlande seien „zu vielseitig, um sie in ein Klischee zu pressen.“

Also nicht nur Käse, Holzschuhe und Windmühlen. Bis weit in die 60er Jahre hätten sich viele Deutsche an diesem Holland-Bild orientiert, meint der deutsch-niederländische Journalist und Historiker Christoph Driessen. „Einer der modernsten Industriestaaten der Welt“ sei von seinen Nachbarn als Agrargesellschaft wahrgenommen worden. Holland habe zu diesem holzschnittartigen Selbstbild kräftig beigetragen – zum Beispiel durch die Kunstfigur „Frau Antje“, die im deutschen Werbefernsehen jahrzehntelang als Käse-Promoterin einen irrsinnigen Bekanntheitsgrad erlangte. Aber wir wollen ja weg vom Holzschnitt, hin zum Geheimnis. Und auf dem Weg dorthin liegt der Fußball. Und der Bibelgürtel.

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Spakenburg mit altem Hafen und Fußballstadion. Nirgendwo in den Niederlanden gibt es mehr Gottesdienstbesucher als hier.

Samstags-Liga im Bibelgürtel

Wenn im August die neue Fußballsaison anfängt, dann ist in Spakenburg mitten im niederländischen Bibelgürtel, der „Gordel van God“, der Teufel los. Zwei der bekanntesten Mannschaften im populären Amateur-Fußball sind hier zu Hause, der „SV Spakenburg“ und die „Ijsselmeervogels“, die Blauen und die Roten. Die beiden Klubs, deren Plätze aneinander grenzen und durch hohe Zäune getrennt sind, verbindet seit Jahrzehnten eine herzliche Abneigung. Rau geht es zu, wenn die beiden Erzrivalen gegeneinander antreten. Das größte Dorf-Derby der Welt zieht jedes Mal Fußballverrückte aus dem ganzen Land an.

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Hassen sich leidenschaftlich: Der SV Spakenburg und die Ijsselmeervogels. Streng gläubig sind beide Vereine.

In den liberalen Niederlanden ist Amateur-Fußball durch und durch eine Glaubensfrage. Aus religiösen Gründen lehnen christlich geprägte Vereine entlang des Bibelgürtels, der sich von Zeeland im Südwesten bis in die Provinz Overijssel im Nordosten quer durchs Land zieht, Kicken am Tag des Herrn strikt ab. Beten und Bolzen, das geht für die calvinistisch geprägten Teams nicht zusammen. Deswegen existieren auch anno 2022 – einmalig auf der Welt – zwei Amateur-Meisterschaften nebeneinander, die größere, die sonntags spielt, und die kleinere, deren Credo „sonntags nie“ lautet.

Aus Gottesfurcht wird nur samstags gespielt

In den Sonntags-Vereinen spielen nicht kirchlich gebundene Männer und praktizierende Katholiken einträchtig zusammen. Die beiden Spakenburger Klubs sind „Zaderdags-Amateurs“, spielen in der Samstags-Staffel der „Tweede Divisie“, der höchsten Amateurliga. Die Dauerfehde der Klubs spaltet das Dorf und sorgt für Risse quer durch die Familien. „Rote Stümper“ gegen „blaue Esel“. Wahnsinn, finden die Buchautoren Hans Klippus und Lex Stofkooper. Allerdings nur, wenn man nicht wisse, dass die „Blauwen“ sich immer als der Verein der Beamten verstanden und die „Rode“ traditionell von Fischern angefeuert wurden.

Was den Gottesdienstbesuch anlangt, spielt Spakenburg unangefochten in der ersten Liga. Mit 71 Prozent liegt die Quote knapp hinter Urk, dem frömmsten Ort der der Niederlande.

Sonderangebote statt Seelenheil

Dabei ist vor allem ist in den großen Städten die Säkularisierung weiter fortgeschritten als irgendwo sonst in Europa. 67,8 Prozent der Niederländer bezeichneten sich 2017 als religiös ungebunden. Der extreme Schwund an Gläubigen und die hohen Unterhaltungs- und Sanierungskosten der Gotteshäuser haben die beiden großen Kirchen zu einer Radikalkur veranlasst – mit teils bizarren Ergebnissen.

Ein „Jumbo“-Supermarkt in Helmond nordöstlich von Eindhoven. Bis vor 20 Jahren beherbergte der Bau die katholische Pfarrkirche St. Bernadette. Fleischtheke und Kühlregale haben Altar und Kirchenbänke verdrängt. Sonderangebote statt Seelenheil, Einkauf satt Einkehr, Whisky statt Weihwasser. Immerhin haben es die (leeren) Weihwasserbecken am Eingang in die neue Zeit geschafft.

In Dordrecht südöstlich von Rotterdam hat sich nach dem Rückzug der evangelischen Gemeinde in der neoklassizistischen Bonifatius-Kerk das Kulturzentrum „Bibelot“ etabliert – Tanztempel, Konzertsaal, Theater und Kabarett. Die Sakristei ist nun Künstlergarderobe, mitten im Hauptschiff gibt es eine Bar. „Den Leuten, die zum Abhängen kommen, ist es völlig egal, ob das mal eine Fabrik war oder ein Kornspeicher. Oder eben eine Kirche.“ Sagt beim Biergläserspülen Kees, ein Junge mit gefärbten Strähnchen.Muckybude statt Messe: Die frühere Marienkirche am Stadtrand von Maastricht ist lichtdurchflutet. Wo jetzt an Laufrädern getrimmt wird, hat Manager Remond Gijsen als Junge mit seiner Mutter den Rosenkranz gebetet. Er beteuert einen respektvollen Umgang mit dem ehemals heiligen Ort.

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Eines der zahlreichen Beispiel für die Umnutzung eines Kirchengebäudes ist die Buchhandlung Waanders in Zwolle. An der Wand hängt sogar noch die alte Orgel der Brüderkirche.

Das tun sie alle, die Betreiber der zu Stätten irdischer Lustbarkeiten umfunktionierten Kirchen wie St. Joseph in s’Hertogenbosch, wo seit Jahren Kunst-Happenings, Partys und Esoterik-Messen stattfinden. Manchmal auch Dessous-Shows. Der Mittelgang als Catwalk. Geschäftsführer Sem de Vries, „gelernter Katholik“, findet, die neugotische Hallenkirche verbreite immer noch „Mystik pur“. Konservative Christen wie Jan Peeters vom „Katholiek Nieuwsblad“ stoßen sich an dem „Spielen mit dem Sakralen“

Land der Gipfelstürmer

„Höchster Punkt der Niederlande mit elf Buchstaben“. Kreuzworträtselfreunden ist die Frage vertraut. Die Antwort heißt: Der Vaalserberg im Dreiländereck bei Aachen. Die „Erhebung“ bringt es mit 323,4 Metern fast auf Drachenfels-Niveau. Bezieht man die niederländischen Überseegebiete mit ein, erreicht man ganz andere Dimensionen. Der Mount Scenery auf Saba, der 13 Quadratkilometern großen Antilleninsel, ist ein richtiger Berg mit stattlichen 887 Metern über dem Meeresspiegel. Seit 2010 hat Saba den Status einer „besonderen Gemeinde“ der Niederlande.

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Der Mount Scenery auf der karibischen Insel Saba gehört streng genommen auch zu den Niederlanden.

Eigentlich sei doch der Kahle Asten der höchste Berg Hollands, witzelt Wirt Harry van Stijn aus Arnheim, der in Winterberg das Brauhaus „Neue Mitte“ betreibt. Das gilt besonders im Winter, wenn das Sauerland fest in den Händen niederländischer Ski-Enthusiasten ist. „Het land van de 1000 berge“ ist inzwischen ganzjährig eine der Lieblings-Destinationen unserer Nachbarn. „Ohne die Holländer“ sagt eine Kellnerin, „könnten wir einpacken.“

Stammgast Koen Tullers, Physiotherapeut aus Nijmegen, findet es lustig, „dass sich die gesamte Gastronomie auf unsere Essgewohnheiten eingestellt hat. Wir merken gar nicht, dass wir in Deutschland sind.“ Die Kneipen, die Cocktailbars, sogar die „Alm-Hütte“ mitten im Ort kämen ihm wie „Klein-Holland“ vor. Überall gibt es die Frikandel und im „Pannenkoekenhuis“ hat man die Wahl zwischen 80 Pfannkuchen-Sorten.

Smakelijk eeten wie daheim

Absolutes Highlight in „Klein St. Moritz“ ist für viele Niederländer das „Ferienhotel Der Brabander“. Ein Stück Holland auf 670 Metern Seehöhe. Das 400-Betten-Haus ist eine rein niederländische Enklave. „Laat u heerlijk verwennen“, lasst euch schön verwöhnen, umwirbt Hotelchef Rob Meurs seine Landsleute auf der Website. Vor mehr als 30 Jahren hatte er die Idee, seinen Gästen ein komplettes Zuhause-Gefühl im Sauerland zu vermitteln. Smakelijk eeten wie daheim . Früher wurden deutsche Gäste eher widerwillig beherbergt. Inzwischen freut sich Junior Danny Meurs auch über Buchungen aus dem Ruhrgebiet oder dem Rheinland.

Niederländisch ist hochkompliziert

Wie steht es insgesamt um das Verhältnis von Deutschen und Niederländern, „Moffen“ und „Käsköppen“? „Heute ist es stinknormal, befreit von den Lasten der Vergangenheit“, sagt der niederländische Historiker Friso Wielenga. „Aber die Normalisierung war ein langer Prozess.“ Wielenga, bis vor kurzem 22 Jahre lang Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Uni Münster, ist einer der profundesten Kenner niederländisch-deutscher Befindlichkeiten.

Nach dem Krieg waren die Sympathien für die Deutschen durch die Besetzung und die Gräueltaten der SS auf dem Nullpunkt angekommen. Noch bis weit in die 70er Jahre haben viele Niederländer auf der Urlaubsreise mit dem Auto in die Schweiz oder nach Italien große Umwege in Kauf genommen, um bloß nicht deutschen Boden betreten zu müssen. Und noch ziemlich lange erzählte man sich Deutschen-Witze wie diesen: „Frage: Wie öffnet ein Deutscher eine Auster? Antwort: Er klopft dreimal kräftig gegen das Gehäuse und brüllt: Gefälligst aufmachen!“

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Aufreger der Fußball-WM der Männer 1990: Frank Rijkaard spuckt Rudi Völler in den Nacken.

Das ist inzwischen Geschichte, ebenso wie hässliche Szenen, wenn Deutschland und Oranje im Fußball aufeinandertrafen. Höhepunkt war das WM-Achtelfinale 1990 in Italien, als Mittelfeldspieler Frank Rijkaard Rudi Völler in den Nacken spuckte. Bis heute gebe es, analysiert Friso Wielenga, „so ein strukturelles Spannungsfeld zwischen einem kleinen und einem großen Land. Das kleine blickt auf das große mit dem Gefühl: Wir sind nicht das 17. Bundesland, und das zeigen wir auch.“

Was Niederländer nicht mögen, ist gönnerhaftes Auftreten von Touristen, die ihr Land bloß als „eine kleinere, verniedlichte Ausgabe Deutschlands betrachten“ sagt Christoph Driessen. Und die Niederländisch als eine Art plattdeutschen Dialekt betrachten. Das kränkt – und ist blanker Unsinn. Während geschriebenes Niederländisch mit etwas Sprachgefühl zumindest zu erraten ist, müssen die meisten Deutschen beim Hörtest im Autoradio passen. Die Aussprache ist hochkompliziert. Ulrike Grafenberger schreibt in ihrem Bändchen „Holland für die Hosentasche“, die Holländer sprächen so, als sei ihnen „eine Gräte vom letzten Hering im Hals stecken geblieben. Damit meint sie die so genannten Reibelaute: Das niederländische „g“ wird zum deutschen „ch“. „Wenn Sie Ihr Bier korrekt bestellen wollen, sagen Sie „chrolsch“ statt „Grolsch“.

Drogen sind gar nicht erlaubt

Die Niederlande sind gar kein Drogen-Paradies. Drogen aller Art sind generell verboten, das gilt für Herstellung, Besitz und Verkauf. Erlaubt ist das Rauchen von Cannabis in Coffeeshops, wenn man volljährig ist. Der Besitz und Verkauf von maximal fünf Gramm Cannabis wird nicht strafrechtlich verfolgt. Alles was darüber hinausgeht, ist strafbar.

Mit restriktiven Maßnahmen wie der Einführung eines „wietpas“, der nur Niederländern über 18 den Zugang zu Coffieeshops ermöglicht, versuchen vor allem Städte in der Grenzregion dem Drogen-Tourismus einen Riegel vorzuschieben. Bisher ohne nachhaltigen Erfolg.

Land des Fahrradklaus

Entlang der deutsch-niederländischen Grenze in NRW lernen 30 000 Jugendliche an 200 Schulen Niederländisch. Ihre Altersgenossen in Holland entscheiden sich lieber für Französisch als für Deutsch als zweite Fremdsprache. Lange Zeit war das umgekehrt. Gut läuft dagegen das Projekt „Nederland-Duitsland-Studies“, ein Masterstudiengang, binational und zweisprachig gemeinsam von der Romboud Universiteit in Nijmegen und der Uni Münster angeboten.

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