Pop-Charts-KolumneErspart mir dieses Inferno der Langeweile!
- Kolumnist Marcus Bäcker hört sich in seiner Glosse „Neu in den Charts” regelmäßig durch die Hitliste – und findet dabei Entsetzliches wie Schönes.
- Diesmal ist es vor allem entsetzlich – inklusive Sportwagen, die lüstern gewaschen werden. Aber lesen Sie selbst.
Ich habe keinesfalls vor, meine Leserinnen und Leser gewohnheitsmäßig über meinen Gesundheitszustand zu informieren, komme aber nicht darum herum, darauf aufmerksam zu machen, dass ich gerade die Kralle gespürt habe. Nun kann ich nicht ausschließen, dass die KRALLE – ich neige in diesem Fall zu Majuskeln, um die geballte Dramatik dieses bedrohlichen Symptoms kenntlich zu machen – kein anerkannter medizinischer Fachbegriff ist, obgleich es eine Ärztin war, die das Wort in meinen Sprachgebrauch einführte. Die Kralle ist ein stechender Schmerz, der vom Rücken ausgeht und bis in den Kiefer ausstrahlen kann. Beim ersten Mal war ich überzeugt, gerade einen Herzinfarkt zu erleiden. Beim circa neunten Mal sah ich ein, dass es sich wohl um etwas anderes, höchstwahrscheinlich sogar nicht Tödliches handelt. Dass sich die Kralle vorhin just in dem Augenblick bemerkbar machte, als ich einen Blick auf die offiziellen deutschen Party- & Schlager-Charts warf, kann meiner Meinung nach kein Zufall sein.
Vielmehr vermute ich, dass mir mein Körper bei der Lektüre folgender Songtitel auf möglichst rigide Art signalisieren wollte, dass jetzt aber mal gut ist, der ganze deutsche Hip-Hop-Kram war schon schlimm genug, aber das jetzt, nein, genug, es reicht. „Die Gefühle haben Schweigepflicht“, „Hola, Hola – Hast Du heute Abend Zeit für mich“, „Venedig (Love Is In The Air)“ – der Schmerz beginnt auf Brustwirbelhöhe – „Herzen bluten einsam“, „So darf ein Engel nicht leben“, „Ale Ale Aleksandra“, „Wa Wa Wahnsinnig“. Kri Kra Kralle.
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So viel zu den Party- & Schlager-Charts. Auf die, nun ja, „normalen“ Single-Charts reagiere ich höchstens mit unkontrollierbarem Augenzucken und kurzen hysterischen Lachanfällen, damit kann ich leben. Also dann: höchster Neueinstieg auf Platz 59, „My Oh My“ von Camila Cabello feat. DaBaby – ein Feuerwerk der Redundanz, ein Inferno der Langeweile, das Auspressen einer einzigen Idee, bis man um Gnade betteln möchte, und wer sich mit letzter Kraft die Mühe macht, im Netz nachzuschauen, wer dieses Ton gewordene Narkotikum zu verantworten hat, der entdeckt: sechs Namen.
Sechs! Sechs Hirne waren nötig, um dieses Liedchen auszubrüten, wahrscheinlich wurden Arbeitsgruppen gebildet, um zu entscheiden, wie oft die Hookline wiederholt werden soll, 48- oder 50-mal (Anmerkung: Ich habe gerade „verantworten“ mit „f“ geschrieben, auch dafür mache ich das aktuelle Chartgeschehen ferantwortlich).
Neu auf Platz 75: „Schmeckt“ von Hemso feat. LX. Deutscher Hip-Hop, es geht um Drogenhandel, Waffen, die diskutable Vorliebe, alles mit der Faust zu regeln – warum soll im neuen Jahr auf einmal alles ganz anders sein? Der Videoclip allerdings ist ein Meisterstück. Dass der Kamerablick lüstern über einen Sportwagen schweift, ist wenig überraschend. Es kommt darauf an, was die mordsmäßig harte Hip-Hop-Gang mit dem Auto veranstaltet. Sie wäscht es. Ist ja schließlich Wochenende (Augenzucken, hysterischer Lachanfall, Kralle).