In Remscheid ist das Werkzeug zu Hause. Touristen machen um die Stadt im Bergischen eher einen Bogen. Warum eigentlich? Eine Entdeckertour.
„Wie oft war ich's einfach leid? Remscheid“Wie sich Urlaub am unbeliebtesten Touristenziel des Rheinlands anfühlt
Die Giganten haben ihre Mäuler aufgerissen, fast meint man, ein Fauchen aus ihren heißen Kehlen zu hören, jeder für sich drückt sein Spielbein ab, gleich werden sie aufeinander losschnellen. Und dann bleibt doch alles: ruhig. Und das seit 28 Jahren. Denn was sich da in der Remscheider Alleestraße auf der Höhe von Hausnummer 88 in den von wattigen Wolken durchzogenen Himmel streckt, sind gar keine Blech-Dinosaurier, sondern die riesigen Arme einer glänzenden Zange. Bildhauer Lüder Seedorf hat das „Licht-Tor“ entworfen, Mitte der 90er Jahre wurde es hierher gepflanzt. Das überdimensionierte Werkzeug soll in der Straße, in der sich heute hauptsächlich Kettenfilialen und Ein-Euro-Läden aneinanderreihen, für etwas mehr Glanz sorgen.
Wo die Wupper wild woget auf steinigem Weg/An Klippen und Klüften sich windet der Steg/Wo der rauchende Schlot und der Räder Gebraus/Die flammende Esse, der Hämmer Gesaus/Verkünden und rühmen die fleißige Hand:/Da ist meine Heimat, mein Bergisches Land
Rudolf Hartkopf, Bergisches Heimatlied, 1892
Heimat des nahtlosen Rohrs, des Schraubenschlüssels, der Arbeit
In Remscheid ist die Arbeit zu Hause. Werkzeugstadt, Heimat von Dampfmaschine, Schraubenschlüssel, Elektrostahlofen. Das nahtlose Rohr wurde in Remscheid erfunden, „Wir wissen, wo der Hammer hängt“, wirbt das Deutsche Werkzeugmuseum in der Stadt für den pragmatischen Erfindergeist der kleinsten Schwestern des Bergischen Städtedreiecks Solingen, Wuppertal, Remscheid. Wenn Remscheid mal über die Stadtgrenzen hinaus für Schlagzeilen sorgt, dann eher wie zu Beginn der Woche mit glamourfreien Nachrichten wie dieser: „Augen auf, Tasche zu - Innenminister Reul gibt Startschuss für Taschendiebstahlkampagne in Remscheid“.
Die etwa 100.000-Einwohner umfassende Gemeinde ist also nicht gerade der Ort, den man sich erträumt, wenn man an ein Urlaubsparadies denkt. Das muss man schon zugeben. In der Beherbergungsstatistik des Tourismusverbands NRW belegt die kreisfreie Stadt in der Bergischen Hochfläche dann bei den Übernachtungszahlen auch wiederholt einen der letzten Plätze. Abgeschlagen hinter Duisburg, Krefeld oder Leverkusen, die auch nicht eben als Perlen der Sommerfrische bekannt sind.
Und dennoch: Die Seestadt auf dem Berge, wie Remscheid auch genannt wird, lohnt eine Annäherung. Wir haben uns auf den Weg gemacht, die etwas versteckten touristischen Edelsteine ausfindig zu machen.
Ein falsches Lied kam und einsamer noch als im August/Was ja zum Lachen war nachts an der Raststätte Remscheid
Bevor es losgeht, noch ein kurzes Zögern. Bremsen, rausfahren, sich zwischen Container bepackten Trucks durchschmuggeln. An der A1 protzt man seit 2019 mit der Raststätte Remscheid-Ost. Von neuster Technik ist die Rede. Drei Lastwagen können hier gleichzeitig tanken.
An Stellplätzen fehlt es freilich, weshalb Fernfahrer hier schon mal regelwidrig von der Autobahn abfahren, erzählt man sich an der Zapfsäule. Hoch zur Staumauer an der Eschbachtalsperre, die man auch auf einem Rundwanderweg umzirkeln kann. Wandern, joggen, E-Biken. Denn: Wer nach Remscheid reinkommt, der wolle vor allem eins: Raus. So in etwa fasst es Anja Hamm vom Remscheider Stadtmarketing zusammen. Und das ist durchaus wertschätzend gemeint. Denn was suchen viele Urlaubsreife häufiger als die Natur? Und davon hat die Stadt im Bergischen wahrlich viel zu bieten. Gut ein Drittel ihres Gebiets ist von Wäldern bedeckt.
Dichte Laubwaldkronen verwandeln die hügelige Landschaft ringsum gerade im Herbst in einen welligen, farbenprächtigen Teppich. Saftig breitet er sich vor dem Besucher aus, der auf einer Anhöhe nahe der Müngstener Brücke steht und seinen Blick über die Landschaft schweifen lässt. Wenn dann noch Sonnenstrahlen durch die aufsteigenden Nebelschwaden brechen, wähnt er sich mit ein bisschen Fantasie fast in Costa-Ricanischer Hochebene. Freilich nur dann, wenn er eine ausreichend dicke Jacke trägt.
Hammerschläge und Flussgegurgel – Remscheid hat auch Mittelaltercharme
Unten an der Wupper, wo das Wasser sich durch den Tag gurgelt und von einer Kunstschmiede die metallischen Hammerschläge herüberwehen, kippt das Dschungelfeeling dann doch eher Richtung deutschem Mittelaltercharme. Krumm und zugig lächeln hier die Fachwerk- und Schieferhäuschen aus ihren fensterlädengrünbewimperten Augen. Käme jetzt ein Gnom mit seinem werkzeugbepackten Rucksäckchen zwischen Bäumen und Felsen hervor und würfe vor Vergnügen seine Mütze in den Himmel ehe er dem Hammerschmied bei seinem Tagwerk hülfe, wie im Märchen „Der Schmied und die Zwerge von Müngsten“ beschrieben, man wäre kaum erstaunt.
Die malerische, grüne Natur erwandern, sagt Hamm, stünde bei Remscheider Touristen hoch im Kurs. Zu sehen gäbe es „Berge, Täler, Flüsse, Seen und Talsperren – generell haben wir hier viel Wasser“, sagt Hamm. Und deutet damit nicht nur auf die Möglichkeiten des Wassersports als Freizeitangebot hin, sondern auch auf eine klimatische Besonderheit des Bergischen Landes. Die grüne Saftigkeit speist sich nämlich aus einem Umstand, den Urlauber auch als nachteilig erachten könnten: überdurchschnittlich oft Niederschläge.
Auch wenn ich weg bin, ich vergess es einfach nicht/Remscheid zeig mir mal, warum das meine Heimat ist./Ja, in Remscheid zu leben ist hip/Vorausgesetzt, du hast auch einen Regenschirm mit
Ja, den Regen lacht man aus. Kinder, so sagt man, kämen hier mit einem Regenschirm zur Welt. Und generell, so sagt Anja Hamm, sei der Remscheider an sich wenig feuchtigkeitsempfindlich. „Wenn hier im Stadtpark in der Konzertmuschel jemand auftritt, dann lassen sich die Leute von Regenmeldungen nicht abhalten. Sie kommen trotzdem, sie bringen nicht selten auch ihr Picknick mit – und tragen eben eine Regenjacke. Hauptsache man ist draußen an der frischen Luft.“
Überhaupt ist in der Seestadt am Berge seit jeher ein hemdsärmeliger Optimismus am Werke. Wie anders kann man es sich erklären, dass hier, wo man den Regentanz pflegt, am 29. Juni 1912 das erste deutsche Freiluftbad mit künstlicher Wasserzufuhr eröffnete. Bis in den September hinein konnte man sich eingeschmiegt in einer Falte des Eschbachtals im Strandbad sonnen. Nun wird das historische Ensemble mit sich windender Wasserrutschenröhre zwei Jahre lang von Grund auf saniert. Für kommende Generationen von Sonnensuchern.
Viel Niederschlag im Sommer – aber zuweilen auch Schnee im Winter
Was sich lohnen könnte, denn: Ganz so schlimm, wie es heißt, wird es am Ende meist ja doch nicht. In der Statistik der sonnenärmsten Städte NRWs belegt Remscheid laut den Berechnungen eines Solaranlagenanbieters gerade einmal den zehnten Platz mit 2254 Stunden pro Jahr. Was soll man da in Iserlohn im Märkischen Kreis sagen, wo man sich demnach mit nochmal gut hundert Stunden weniger begnügen muss? Der Deutsche Wetterdienst in Essen bedauert auf Anfrage zwar, man habe „schon lange keine Klimastation mehr“ in Remscheid. Dennoch könne man aus Daten anderer Stationen Mittelwerte für die Stadt errechnen. Was den Sonnenschein betrifft, passe Remscheid „ganz gut ins NRW-Mittel“. Nur bei der Feuchtigkeit, da lässt sich nicht darum herum reden, „wird doch deutlich, dass in Remscheid relativ viel Niederschlag fällt.“
Immerhin, so sagt Anja Hamm, treffe das in manchen Jahren auch auf den Winter zu. Und dann gibt es in Remscheid reichlich vom in NRW sonst eher selten gewordenen kalten Kinderglück. Schneedecke dick, Rodel gut, heißt es dann. Privatbesitzer öffnen ihre Grundstücke in Hanglage, dann kämen die Kinder der halben Stadt und es gehe mit Gejauchze bergab: „Vor ein paar Jahren hatten wir so viel Schnee, dass alle Bürger ihn von Straßen und aus Gärten auf den Schützenplatz gekarrt haben. Bergeweise.“
Wie oft hab ich dich verflucht? Und das Weite von dir gesucht? Wie oft war ich’s einfach leid? Remscheid./Denn du bist mein Ruhepol. Bei dir fühl ich mich einfach wohl. Du bist das, was in mir bleibt. Remscheid.
Frank Michael Daub, Remscheid-Lied, 2022
Wer in Remscheid nach Bleibendem sucht, der stößt auf erstaunlich viele Superlative unterschiedlichster Kategorien: Höchste Eisenbahnbrücke (Müngstener Brücke, eigentlich auf Solinger Stadtgebiet liegend, aber aus Remscheid startend), älteste Trinkwassertalsperre Deutschlands (Eschbachtalsperre), steilste Straßenbahnstrecke ohne Zahnradantrieb Deutschlands, ältestes Freiluftbad Deutschlands, erste Personenseilbahn NRWs (hoch zu Schloss Burg, das auch auf Solinger Gebiet steht, aber allen drei Bergischen Städten Solingen, Remscheid und Wuppertal gehört).
Besonders stolz ist man auf den wohl berühmtesten Sohn der Stadt, Wilhelm Conrad Röntgen. Der Frühling des Jahres 1845 hatte gerade begonnen, als Wilhelm Conrad als einziges Kind des Kaufmanns Friedrich Conrad Röntgen und seiner Frau Charlotte Constanze am Gänsemarkt 1 in Lennep, heute Stadtteil von Remscheid, zur Welt kam. Die Familie war schon seit Generationen im Tuchhandel tätig und als die Revolution 1848 wirtschaftliche Einbußen in der Familienkasse auslöste, entschied man sich, in die Niederlande zu ziehen, wo Wilhelms Mutter Verwandte hatte.
Wilhelm Conrad Röntgen – die Zeit des Medizin-Stars in Remscheid war eigentlich nur kurz
So war die Remscheider Zeit des Mannes, der später die Röntgenstrahlen erfinden und damit den ersten Nobelpreis für Physik erringen sollte, zeitlich arg kurz bemessen. Dennoch zeigt man im schiefergedeckten Deutschen Röntgenmuseum unweit des Geburtshauses heute stolz das Equipment, das Anfang des 20. Jahrhunderts die Medizindiagnostik revolutionieren sollte.
Bei allen Superlativen ist Lennep auch eine Mahnung an das Scheitern. Schon vor Jahren wollte der Brite McArthurGlen hier seine Outlet-Pläne verwirklichen. Eine Art Roermond im Bergischen sollte entstehen. Mit den Arbeiten an einem entsprechend großzügigen Verkehrsknotenpunkt hatte man schon begonnen. Die Outletpläne scheiterten am Unwillen der Bevölkerung, die überdimensionierte Anfahrtsstraße, die eine Schneise hineinschlägt in das Grün, welches den Ortsteil umringt, blieb. Nun steht immerhin ein neuer Anlauf bevor. Investor Philipp Dommermuth, dem auch ein Outlet in Montabaur gehört, plant ein Einkaufszentrum der Superlative. Eine Parkanlage solle integriert werden, heißt es, gerichtet an die Bürgerinitiative skeptischer Lenneper. Wenig begeistert ist man beim Fußballverein FC Remscheid. Der droht durch den Bau des Outlets sein Stadion zu verlieren.
Bislang ist es noch ruhig im Städtchen. Fast ein bisschen zu ruhig. Neben „Betten, Gardinen, Polsterei“ in bester Lage gähnt in regelmäßigen Abständen der Leerstand. Immerhin: Wer über Kopfsteinpflaster an den Lenneper Häuschen mit den Schieferfassaden entlangflaniert, vor denen auch im September noch rot und lila die Geranien und Petunien blühen, der entdeckt Einkehrmöglichkeiten unterschiedlichsten Angebots: König von Preußen, Kaffeeklatsch, Trattoria Saro, das Retro-Café Bubble Gum.
Traditionell ging es da etwas eintöniger zu. „Auch kulinarisch ist Remscheid von seiner Arbeiterhistorie geprägt“, sagt Anja Hamm. „Hier wurde viel körperlich geschafft, da stand zu Feierabend dann Nahrhaftes auf dem Tisch.“ Kottenbutter fällt Hamm ein: Schwarzbrot mit Butter und geräucherter Mettwurst. Das serviert man dann auch zur berühmten Bergischen Kaffeetafel. In der etwas eigenwilligen Kombination mit süßen Waffeln, Milchreis und natürlich Kaffee aus der Dröppelminna. Die dicke Kanne mit dem Zapfhahn am Bauch bekam ihren Namen, da früher das Pulver die Schenköffnung verstopfte und das Gebräu deshalb nur in die Tassen tröpfelte.
Womit wir beim Trinken wären. „Bier“, sagt Hamm, sei im Bergischen immer quasi Teil des täglichen Brots gewesen. Aber auch Hochprozentiges, der „Kloaren“ floss bei den Feilenhauern, Schmieden und Schleifern durchaus. Nicht immer in Maßen, wie ein Fundstück aus dem Historischen Archiv der Stadt veranschaulicht. Am 15. August des Jahres 1853 sah sich der damalige Remscheider Bürgermeister offenbar aus Gründen gezwungen, eine Polizeiverordnung zu erlassen, die dem „übermäßigen Genuss des Branntweins möglichst entgegen wirken“ sollte. „Schenk- und Gastwirthe“, so heißt es in der Depesche „welche einem allgemein bekannten oder ihnen von der Polizei bezeichneten Trunkbolde Branntwein verabreichen, verfallen in eine Polizeistrafe von 1 bis 3 Thlr.“ Polizeikommissar Ludwig Ernst fertigte damals dazu ein entsprechendes Verzeichnis derjenigen Personen an, „welche als Trunkenbolde allgemein bekannt sind“. Das überlieferte Dokument umfasst 42 Namen, 15 von ihnen sind nachträglich fein säuberlich durchgestrichen worden. Ob die Getilgten sich totgesoffen oder gebessert hatten, ist im Einzelnen nicht vermerkt.
Und plötzlich war sie vorn‘ und ich im Pulk weiter hinten/Und ich sah nur noch langsam ihre schönen Schultern verschwinden/Mit dem wohl süßesten Muttermal der Menschheit/Glück und Schmerz liegen nah beisammen wie Wuppertal und Remscheid