Verrückte Deutschland-TourZwei Freunde essen 91 Pinocchio-Eisbecher in neun Tagen
Köln – Neun Tage, 16 Bundesländer, 91 Pinocchio-Eisbecher: Diese seltsame Deutschland-Tour haben der Autor Leonhard Hieronymi und der Fotograf Christian Metzler hinter sich gebracht. Auch vier Eisdielen in Köln haben die beiden besucht. Eigentlich wollten sie sogar 200 Eisbecher schaffen, aber dafür reichte die Zeit nicht. Aus ihren Recherchen ist das Buch „Mostro. Pinocchio-Eis in Deutschland“ entstanden, das zugleich Bildband, Roadmovie und Deutschland-Analyse ist.
Neun Tage lang sind die beiden Männer im Auto quer durch Deutschland gefahren, um so viele Pinocchio-Eisbecher wie möglich zu essen. Warum? „Es gab noch kein Buch über Pinocchio-Eisbecher in Deutschland, deshalb wollten wir eins machen. Diese Figur ist abstrakt und widerwärtig und deshalb wollten wir sie archivieren. Wir machen das Buch, weil wir es haben wollen. Für uns ist es absolut sinnvoll. Das denkt sich ja auch jemand, der nach Spinnentieren sucht“, schreiben sie im Vorwort. Sie sehen sich als eine Art Forscher auf Erkundungstour durch das Herz der meisten deutschen Städte: Eisdielen.
Der Ur-Pinocchio stammt aus Duisburg
Initiator dieser seltsamen Reise ist der Fotograf und Wirtschaftsingenieur Christian Metzler, der eines Tages in Duisburg zum ersten Mal einen Pinocchio-Eisbecher richtig wahrgenommen hat: „Sein runder Kopf aus Erdbeereis, die Augen aus hellblauen Smarties – so glotzt er mich blind an, der Pinocchio in Duisburg. Grotesk, aber faszinierend wirkt er auf mich. Farbenfroh, und damit gut getarnt für die Augen eines Erwachsenen. Aber ich habe ihn entdeckt und möchte nun mehr von seiner Sorte sehen“, schreibt er im Vorwort. Und ziemlich schnell danach: „Ich wünschte mir, es hätte bereits ein Buch über Pinocchio-Eis gegeben, dann wäre uns das alles erspart geblieben.“
Ja, entspannend war diese Reise sicher nicht. In neun Tagen klappern die beiden alle 16 Bundesländer ab und besuchen 125 Eisdielen. Manche führen kein Pinocchio-Eis, manche wollen den Männern nicht den Kindereisbecher verkaufen, deshalb werden es am Ende „nur“ 91 verzehrte Pinocchio-Eis sein. Bei neun Tagen Reisedauer also etwa zehn am Tag, mal sind es 13, mal acht. Um das auszuhalten, versuchen Metzler und Hieronymi immer, sich mit dem Essen abzuwechseln, wobei Metzler deutlich mehr Eis isst als Hieronymi. In manchen Städten übernachten sie bei Freunden, wenn sie Glück haben, nimmt ihnen einer mal einen Becher ab und sie machen nur ein Bild.
Roadtrip, Fotobuch und Deutschlandanalyse
Im Buch gibt es zum einen die Fotos der verschiedenen Eisbecher zu sehen, aber auch einen unterhaltsamen Reisebericht über diese Tour, die am 25. Juni 2021 in der „Gelateria Tesoro“ in Oberursel beginnt.
Zur Person
Leonhard Hieronymi wurde 1987 in Bad Homburg vor der Höhe geboren, studierte Europäische Literatur und Komparatistik in Mainz, sowie Deutsche Literatur in Berlin und Wien. Seine Texte sind bei Hoffmann und Campe, im Korbinian Verlag und bei SuKuLTur erschienen. Im Juli erscheint sein neues Buch „Trance: Amok, Drogen und der Sound of Frankfurt“ .
Christian Metzler wurde ebenfalls 1987 in Bad Homburg vor der Höhe geboren, studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit Schwerpunkt Maschinenbau und ist als Analyst in der Automobilindustrie tätig.
Dem Schriftsteller Hieronymi gelingt es, die Tour durch die Fußgängerzonen und über die Autobahnen dieses Landes so gut zu beschreiben, dass sich der Reisebericht zuweilen wie ein Buch von Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre liest. Obwohl die beiden immer wieder das gleiche tun – mit dem Auto in die nächste Stadt fahren und mehrere Pinocchio-Eisbecher bestellen – liest man die Erzählungen gerne weiter und freut sich mit ihnen, wenn es statt immer nur Vanille mal Zitroneneis gibt oder wenn sie am Abend endlich etwas Richtiges essen. „Wir sprechen viel über salziges Essen und über Essen im Allgemeinen, was uns seltsam vorkommt. Uns ist nicht schlecht, unseren Mägen geht es gut. Wir vertragen Milch. Wir haben keine Laktoseintoleranz-Tabletten dabei, wir haben Zink und Pillen von Doppelherz in den Rucksäcken. Wir schlafen schlecht und glauben, dass der Zucker unsere Träume zerstört. Wir sind unglücklich und glücklich“, beschreibt Hieronymi diesen Zustand.
Auch vier Pinocchio-Eis in Köln gegessen
Auch Köln ist eine Station auf der Pinocchio-Reise. Enttäuscht werden sie bei Lukas Podolskis „Ice Cream United“ im Belgischen Viertel, wo man ihnen „nur Qualitätseis, aber keinen Pinocchio-Becher“ anbieten kann.
Davon bekommen sie am nächsten Tag dann gleich vier auf der nicht besonders langen Strecke von „Breda“ am Rudolfplatz über „Dolce & Gelato“ in der Pfeilstraße und „Tentazioni“ in der Neumarktpassage bis zu „Raffaello“ am Dom.
Anschließend geht es noch weiter nach Düsseldorf, Duisburg, Gelsenkirchen und Bochum. Harte Arbeit also. In der Nähe von Münster gibt es dann endlich mal etwas anderes zu essen: „Als Christian mit Falafel wiederkommt, ist das – nach dem ganzen Zucker – das Leckerste, was ich jemals gegessen habe“, schreibt Hieronymi.
Die besuchten Eisdielen in Köln
Eiscafé Raffaello, Am Hof 28, 50667 KölnEiscafé Tentazioni, Neumarktpassage 18 A, 50667 KölnEiscafé Breda, Pfeilstraße 8, 50672 KölnEiscafé Dolce & Gelato, Pfeilstraße 81, 50672 Köln
Schon bald wird das Experiment sehr anstrengend und das hohe Ziel von 200 immer weiter herunter geschraubt. „Wenn wir Autofahren, sind wir glücklich, aber wenn wir in den Städten anhalten und aussteigen müssen, sind wir unglücklich und seufzen“, schreibt Hieronymi. Bald fangen sie an, zusätzliche Nährstoffe und Vitamine zu nehmen. Lust hat keiner mehr auf das Eis, aber es muss ja weiter geforscht werden: „Es ist auch eher so, dass einem nicht schlecht davon wird, sondern dass man einen Ehrgeiz entwickelt, der darin besteht, noch mehr von diesen Figuren zu finden, und dass dieser Ehrgeiz alles andere auslöscht“, hat Hieronymi festgestellt. Sie beschließen, das Buch „Mostro“ zu nennen, das italienische Wort für Monster.
Mit jedem weiteren Eis wird die Stimmung zwischen den beiden schlechter: „Wir streiten uns über sehr kleine und banale Dinge. Vielleicht ist es auch der Zucker, wir sind viel aggressiver als sonst. Zucker erschöpft uns und macht uns aggressiv und traurig.“ Ständig müssen sie sich die klebrigen Hände waschen und haben Eisflecken auf Handys und Hosen.
Die Ergebnisse der deutschlandweiten Pinocchio-Forschung
Aber ihre Forschungen haben Erfolg. Sie stellen zum Beispiel fest, dass die Becher von Männern viel liebloser zubereitet werden als von Frauen. Der typische Pinocchio-Becher besteht aus Vanille- und Erdbeereis als Pinocchio-Körper mit einer kleineren Kugel als Kopf obendrauf. Rund um das Eis werden meist Sahne und Streusel drapiert. Smarties werden zu Augen, der Hut besteht fast immer aus einer Waffel. Manchmal ist die Spitze abgetrennt und wird zur Nase. Oft steckt auch anderes längliches Gebäck als Nase in den Pinocchio-Gesichtern. Häufig wird die fertige Figur dann mit einer Schoko- oder Erdbeersauce garniert und kostet im Durchschnitt vier Euro. Die meisten der besuchten Eisdielen heißen Venezia.
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Was den beiden Männern außerdem auffällt: „Eiscafés sind die Orte der Kinder, der Einsamen und der Kranken. Wir kommen gegen Abend nach Augsburg und beobachten Frauen dabei, wie sie zum Feierabend alleine Eisbecher essen. Überhaupt sehen wir sehr viele Leute alleine in Eiscafés sitzen, und jedes Mal rührt es uns, wenn es alte Menschen sind. Oder Menschen, die nicht danach aussehen, als würde ihnen Eis schmecken. Zucker verbindet uns alle.“
Das perfekte Pinocchio-Eis gibt es in Friolzheim
Höhepunkt der Reise ist die Gelateria „Gioia“ in Friolzheim in Baden-Württemberg. „Der Inhaber der Gelateria Gioia, ein alter Italiener, sagt, er habe seit Jahren keinen Pinocchio mehr gemacht, weil die Kinder nicht so sehr darauf ansprechen. Er hat aber trotzdem den typischen Pinocchio-Teller da: mit Hut, Schleife und Haaren.“
Dieser Teller soll eigentlich die Umrahmung für das Pinocchio-Gesicht bilden. Dementsprechend muss man die Kugeln nicht schneemannartig übereinanderstapeln, sondern nebeneinander drapieren, so kann man das Gesicht von oben erkennen. Der Chef der Gelateria „Gioia“ scheint der Einzige zu sein, der dieses Prinzip verstanden hat und packt sogar noch Apfelschnitzer als Augenbrauen dazu. Das macht Hieronymi und Metzler am siebten Tag ihrer Tour so glücklich, dass sie ihm zu einem Eisbecher für fünf Euro gleich noch fünf Euro Trinkgeld geben.
Im Eiscafé-Design ist sich Deutschland sehr einig
Die Reise endet in Oberursel in der „Gelateria Tesoro“, also dort, wo sie auch angefangen hat. Hieronymi sagt darüber: „Nach neun Tagen sahen wir aus wie Vanilleeis, mir ging es nicht gut. Die gesundheitlichen Nachteile von Zucker liegen ja bekanntlich auf der Hand. Unsere Haut muss man danach gesehen haben. Aber wir empfanden auch so etwas Stolz.“
Für ihn ist die Pinocchio-Reise eine Art Vermessung von Deutschland. Bezogen auf die Eiscafés habe das Land jedenfalls sehr gut zusammengefunden, findet Hieronymi, das Design sei überall gleich, „egal ob Ruhrpott oder Zeitz, Memmingen oder Oberursel. Und weil das so ist – die Schälchen aus Aluminium, die Spiegelfassaden, die Vitrinen, das Holzfurnier – kann man ganz eindeutig von einem Phänomen sprechen.“ Er hofft, dass sich genau diese Eiscafés noch sehr lange halten und nicht von Eisdielen ersetzt werden, die etwas ganz Besonderes wollen: „Niemand braucht Basilikum im Eis, wirklich nicht. Diese Experimente sind unnötig. Die Leute wollen die ital. Eiscafés, sie schätzen diese Einfachheit und Klarheit.“