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Spießig oder cool?Warum Jugendliche in die Tanzschule gehen

Lesezeit 7 Minuten
Charlise mit Tanzpartner Anton, eingetaucht in buntes Disco-Licht.

Clubbing trifft Tanztee: Heute läuft es in der Tanzschule anders als vor 80 Jahren.

Gesellschaftstanz, das klingt in Zeiten von TikTok-Dance irgendwie aus der Zeit gefallen. Oder? Ein Besuch in der Tanzschule van Hasselt.

Freitagabend in Lindenthal, rund 100 Teenager strömen aus dem Tanzsaal. Vor der Tür warten noch einmal so viele auf Einlass. Es ist ihr finaler Kursabend in der „Tanzschule van Hasselt“ vor dem anstehenden Kölner Debütanten-Ball im Gürzenich. Die Nervosität und die Vorfreude sind spürbar.

Tanzstunden, Abschlussball, so haben schon die Großeltern ihre Freizeit verbracht. Woher bloß kommt in Zeiten von K-Pop, Hip-Hop und Elektromusik, von TikTok-Dance-Challenges und Skateboard-Revival das Interesse von jungen Menschen an traditionellen Gesellschaftstänzen?

Alexandra Eul

Alexandra Eul

Redakteurin im Ressort Magazin, Ratgeber und Freizeit. Im Rahmen des Arthur F. Burns Fellowship hat sie 2017 aus Kanada berichtet. Als eine der Medienbotschafter Indien-Deutschland der Robert Bosch St...

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Für alle, die nicht in Köln und Umgebung aufgewachsen sind: van Hasselt ist eine Institution. Wer in dieser Stadt tanzen lernen möchte, sehr gut möglich, dass er oder sie in einer der Filialen in Lindenthal oder Rodenkirchen landet. Die Schule bietet Tanzkurse für Erwachsene, Hip-Hop, Breakdance und Fitness an. Aber van Hasselts erfolgreichstes Angebot ist der Grundkurs für Schülerinnen und Schüler. In dem lernen Neuntklässler drei Monate Walzer, Rumba oder Cha-Cha-Cha. „Im Herbst und im Frühjahr sind wir am besten besucht, wenn die Debütanten-Bälle anstehen. Dann gehen die Anmeldungen in den vierstelligen Bereich“, sagt Bettina van Hasselt, die die Schule zusammen mit ihrem Mann in dritter Generation leitet. In der Regel sind es ganze Klassenverbände, die gemeinsam teilnehmen.

„Uuuuund jetzt erst mal eine Runde Discofox!“ Der Tanzlehrer ist nicht viel älter als seine Schülerinnen und Schüler

Im Untergeschoss der Tanzschule ist das Licht gedimmt, pinke Scheinwerfer leuchten und mit dem ersten Techno-Beat zeigt sich, dass Tanzen lernen heute womöglich doch etwas anders funktioniert als zu Gründungszeiten der Tanzschule vor 82 Jahren. Ein Tanzlehrer, nicht viel älter als seine Schülerinnen und Schüler, steht hinterm DJ-Pult und jubelt enthusiastisch ins Mikro: „Uuuund jetzt erst mal eine Runde Discofox!“ Bässe wummern, Clubbing trifft Tanztee. Schritt zur Seite, Schritt nach vorn. Noch etwas zögerlich schieben sich die Teenager dicht gedrängt übers Parkett. Manche giggeln, wenn sie einen Fehler machen. Andere blicken so konzentriert, als ob eine Jury gleich ein Schild mit einer Punktzahl hebt.

Alessia und Omid tanzen, eingetaucht in buntes Disco-Licht.

Alessia und Omid waren schon vor der Tanzschule befreundet.

Dann: Forsche Streicher tönen aus den Lautsprechern. Jungs in Baggy Pants und Mädchen in bauchfreien Tops reihen sich auf, zur Fledermaus-Quadrille, Op. 363 von Johann Strauß (Sohn), auch bekannt als der Walzerkönig. Ganz wie auf den großen Wiener Bällen soll die Formation zu den Höhepunkten des Debütanten-Balls in wenigen Tagen zählen, samt Fächerpolonaise zur Balleröffnung.

Vorne links tanzen Omid und Alessia, Charlise und Anton drehen Hand in Hand, schreiten vor und zurück. Mist, falsche Richtung, nochmal von vorn. Die Mädchen knicksen, die Jungen beugen sich höflich vor, an der Seite der Tanzfläche steht Bettina van Hasselt und nickt aufmunternd. Das wird.

Was soll so ein Tanzkurs bringen? Anfangs mussten sich die Jugendlichen überreden lassen.

Die vier waren schon vor der Tanzschule gut befreundet, sie besuchen das gleiche Gymnasium. Was sie sonst noch eint: Anfangs mussten sie sich zu dem Tanzkurs eher überreden lassen. „Ich hatte nicht so viel Lust, weil ich nicht wusste, was mir so ein Tanzkurs bringen soll“, sagt Charlise, 14 Jahre alt. Aber dann haben sich die meisten aus ihrer Klasse angemeldet, vor allem ihre beste Freundin Alessia. Anton, ebenso 14 Jahre alt, meint: „Meine Eltern und meine Schwester haben mich überredet, sie haben mir gesagt: Das ist eine wichtige Erfahrung.“ Der ebenso 14-jährige Omid hatte ganz andere Sorgen: Was, wenn er mit einem Mädchen tanzen muss, das er unsympathisch findet? Auch die 15-jährige Alessia war erst skeptisch. Jeden Freitag ein fester Termin? Schon ihre Mutter hat bei van Hasselt tanzen gelernt – und so ausgiebig davon geschwärmt, dass die Tochter schließlich neugierig wurde.

Und jetzt, drei Monate später? „War gar nicht so schlimm, wie ich dachte“, sagt Omid. Er kann jetzt tanzen, das findet er irgendwie gut. „Nur dieses Cha-Cha-Ding habe ich gehasst!“ Alessia und ihre beste Freundin Charlise freuen sich vor allem auf den Abschlussball. „Das stelle ich mir so schön vor, mit den tollen Kleidern und dem Krönchen“, sagt Charlise. „Das ist etwas Besonderes, wie in einem Film.“

Und was war das Beste an dem Tanzkurs? „Dass man so viele neue Leute kennenlernt“, sagt Anton prompt. Die anderen stimmen zu.

Charlise knickst, Tanzpartner Anton beugt sich höflich vor.

Charlise und Anton üben: Die Fledermaus-Quadrille soll Höhepunkt auf dem Ball sein.

Vielleicht ging es bei Tanzkursen in Wahrheit noch nie um das Erlernen komplizierter Schrittfolgen. Auch wer die Eltern und Großeltern nach ihrer Zeit in der Tanzschule fragt, hört: Es ging darum, sich mit anderen Leuten zu treffen, manche haben in der Tanzschule sogar ihre große Liebe getroffen.

All das erlebt Bettina van Hasselt bis heute jedes Jahr aufs Neue. Mehrmals die Woche schaut die Tanzlehrerin Jugendlichen dabei zu, wie sie womöglich nicht zum Profitänzer, aber dafür ein bisschen erwachsener werden. Wie sich Cliquen und Freundschaften bilden, manchmal fürs Leben. Auf dem Parkett tanzen Woche für Woche die ganzen Unsicherheiten mit, die diese herausfordernde Lebensphase Pubertät so mit sich bringt. Von den ersten großen Gefühlen bis hin zu dieser nagenden Sorge, sich zu blamieren. So ein Tanzkurs samt Debütanten-Ball in Köln mag also nicht die gesellschaftliche Tragweite eines Wiener Opernballs haben, sprich: die Einführung der Debütantinnen und Debütanten in die feinste Gesellschaft. Aber ein großer Schritt ist das alles schon – auch für die, die am Anfang keinen Bock hatten.

Damals hätte keiner dazwischen gequatscht. Heute ist Tanzen lernen nicht mehr ganz so streng

Es ist nicht ohne Ironie, dass die Tanzschulleiterin selbst mal zu diesen Jugendlichen gehörte. „Ich war eher so ein Mädchen, dass sich früher für Fußball interessiert hat und auf Bäume geklettert ist“, sagt Bettina van Hasselt. Die Vorstellung, in einen Tanzkurs zu gehen und auch noch mit Jungs zu tanzen, fand die Schülerin eines Mädchengymnasiums befremdlich. Dann kamen zwei Dinge zusammen: Bettina van Hasselt fand Spaß am Tanzen, vor allem am Rock ’n’ Roll. Und sie verliebte sich in den Tanzlehrer, ihren heutigen Mann Andreas van Hasselt, Enkel der Gründerfamilie der Schule. Damals unterrichtete noch Bettinas Schwiegervater. Andere Zeiten waren das, erinnert sie sich. „In seinem Kurs hätte niemand dazwischen gequatscht, damals war das Erlernen von Umgangsformen während des Tanzkurses noch etwas strenger als heute.“

Tanzlehrerin Bettina van Hasselt.

Tanzlehrerin Bettina van Hasselt.

Auch an diesem Freitagabend geht es in der finalen Tanzstunde vor dem Ball um Verhaltensregeln – in Form einer Powerpoint-Präsentation. Da erfahren die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel, dass die Tänzerinnen auf den Fotos immer rechts stehen sollten und ein echter Gentleman auf der Treppe sich entweder seitlich einhakt; oder aber beim Treppen hochsteigen hinten geht, falls die Dame über ihr Ballkleid stolpert. Dass die Jüngeren die Älteren zuerst höflich grüßen und sodann auf den Handschlag warten, dass man zum Anzug keine weißen Tennissocken trägt und zu einem Abendkleid nicht mehr als fünf Accessoires. „Zu wissen, wie man sich benimmt, gibt Jugendlichen Sicherheit“, sagt Bettina van Hasselt.

Alessia und Omid sitzen nebeneinander auf dem Boden.

War doch ganz cool: Alessia und Omid haben sich für den Folgekurs angemeldet.

Aber erklärt das alles, warum Teenager brav drei Monate lang in den Tanzkurs gehen? Julia F. Christensen ist sich sicher, dass dafür auch neurologische Prozesse eine Rolle spielen. „Unser Gehirn liebt Musik und Rhythmen und die Bewegung, weil uns all das guttut“, sagt sie. Sich synchron in einer Gruppe zu bewegen, löse erst recht Glücksgefühle aus. Und so ist Tanzen auch für junge Menschen, die anfangs zweifeln oder schüchtern sind, plötzlich eine unerwartet positive Erfahrung.

Gilt tanzen als cool oder peinlich? Kulturelle Prägung ist genau so entscheidend wie neurologische Prozesse

Christensen war selbst Profi-Balletttänzerin, bis sie sich so stark verletzte, dass sie ihre Leidenschaft aufgeben musste. Heute erforscht die gebürtige Dänin die neurobiologischen Auswirkungen von Tanzen am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. „Unser Gehirn will tanzen“, sagt sie, auch aus einem dritten Grund: die soziale Komponente.

„Menschen brauchen den direkten Kontakt zu anderen Menschen, um glücklich und gesund zu bleiben“, sagt Christensen. Und es gibt kaum eine Situation, in der dieser direkte Kontakt so leicht herzustellen ist, wie beim Tanzen. „Wenn wir uns umarmen oder sich unsere Hände berühren, dann – so zeigen es erste wissenschaftliche Ergebnisse – löst das soziale Prozesse im Gehirn aus, die sich positiv auf das Immunsystem auswirken.“ Ob Jugendliche Tanzbegeisterung entwickeln, habe zudem viel mit der kulturellen Prägung zu tun, ob Tanzen also im eigenen Umfeld als cool oder als peinlich gilt, sagt Christensen.

Die vier Freunde Alessia, Charlise, Omid und Anton jedenfalls haben nun eine Weile hin und her überlegt – und sich dazu entschieden, weiterzutanzen und den Bronze-Kurs zu besuchen. „Es war eine tolle Zeit und wir würden den Tanzkurs und das Treffen mit den anderen sonst vermissen“, sagt Alessia. Und Bettina van Hasselt? Startet bald mit dem neuen Grundkurs. Die Anmeldungen sind gewiss.