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MauerfallDie Staatsfeindin, die ihren Spitzeln verziehen hat – Regale voller Stasiakten in Kölner Wohnung

Lesezeit 6 Minuten
Porträt von Ingrid Bahs

Ingrid Bahs wurde 1983 aus der DDR ausgebürgert. 1400 Seiten Stasi- und KGB-Akten lagern in ihrer Kölner Wohnung.

1400 Seiten Stasi-Akten wurden über die Kölnerin Ingrid Bahß angelegt. Warum sie trotzdem an die Menschen glaubt und mit jedem spricht.

Gute Freunde und Bekannte haben sie beschattet, Spitzel von Stasi und KGB. Noch in Köln sind sie und ihr Mann Dietrich nach der Ausweisung aus der DDR im November 1983 als Staatsfeinde überwacht worden. Trotzdem hat Ingrid Bahß das Vertrauen in Menschen zurückgewonnen. Trotz Lüge und Verrat. Trotz Trump, trotz AfD. Trotz dieser auch ihr Sorge bereitenden Demokratiekrise 35 Jahre nach dem Mauerfall, jener friedlichen Revolution, die womöglich doch nicht dauerhaft zum Sieg der Freiheit geführt hat.

„Du, lass dich nicht verhärten – In dieser harten Zeit – Die allzu hart sind, brechen – Die allzu spitz sind, stechen – Und brechen ab sogleich.“ Die Zeilen des ebenfalls ausgebürgerten Dichters Wolf Biermann sind zu einem Leitspruch für Ingrid Bahß geworden. Sie ist milde geworden, hat verziehen.

Vor zehn Jahren, als wir uns zum ersten Mal trafen, war sie noch härter. Zu schwer lastete da noch der fortwährende Verrat. Sie sagte auch nicht, was sie heute sagt: „Ich bin ganz angekommen in Köln.“

Die Sache mit dem Vertrauen hänge wohl damit zusammen, sagt sie beim Früchtetee in ihrer Wohnung voller Bilder und Akten, dass sie immer wieder Menschen getroffen habe, die gut zu ihr waren. Menschen jeden Alters, jeder Herkunft, jedes sozialen Status‘ und Geschlechts. Mit am Tisch sitzen Ilja und Dima, der eine aus Russland, der andere aus der Ukraine, gute Freunde. Beide haben ihrerseits gute Freunde, die im Krieg gefallen sind. Für beide ist das Reden über den Krieg schwierig geworden. Ingrid Bahß redet mit ihnen über den Krieg. „Wir müssen immer reden“, sagt sie.

Regale voller Stasiakten fallen in ihrer Wohnung in der Südstadt in den Blick. Sie zeigt eine großformatige Urkunde, die den Verlust der DDR-Staatsbürgerschaft von ihr und ihren zwei Kindern am 17. November 1983 dokumentiert. „Lustig, oder? Wie eine Siegerurkunde im Sport!“

Widerstand gegen das System war nicht unser Anliegen. Wir wollten Angebote machen, um ins Gespräch zu kommen
Ingrid Bahß über Ausstellungen und Diskussionen in ihrer Wohnung in der DDR

Von der 1400 Seiten starken Stasi-Matrix ihres Lebens mit mehr als 200 Observationsfotos, vielen Hundert absurden Spitzelprotokollen, in denen auch festgehalten wurde, wie Ingrid und Dietrich Bahß vor der Haustür standen und was sich in ihrer Einkaufstasche befand, hatte das Paar erst nach ihrer Ausweisung erfahren. In der DDR hatten sie geahnt, dass sie überwacht werden, aber nie, in welchem Ausmaß. „Widerstand gegen das System war nicht unser Anliegen“, sagt Ingrid Bahß. „Es gab in Magdeburg einfach wenig intellektuelle Anstöße. Wir wollten Angebote machen, um ins Gespräch zu kommen.“ Das freie Denken habe dann natürlich vor allem kritische Geister angezogen. Dass die Stasi sie unter dem Code „Operation Spektrum“ in die höchste Stufe der „Feindbearbeitung“ einordnete und besonders intensiv bespitzeln ließ, „das hätten wir nie für möglich gehalten“.

Dietrich Bahß durfte nicht als Mathematiker arbeiten, weil er den Einsatz russischer Panzer im Prager Frühling öffentlich kritisiert hatte. Gab dann den Kohlenheizer in der Kirchengemeinde und hatte viel Zeit. Sie wurde aus dem Lehramtsstudium exmatrikuliert, als bekannt wurde, dass sie sich für die Kirche engagiert.

Drei ehemalige Spitzel meldeten und entschuldigten sich

„Noch heute wechseln einige die Straßenseite und schauen weg, wenn sie mich in Magdeburg sehen“, sagt Ingrid Bahß. Andere erinnerten sich anerkennend daran, dass sie und ihr Mann seinerzeit Lesungen und Gesprächsrunden mit wichtigen Intellektuellen wie dem Dramaturgen Heiner Müller in ihrer Privatwohnung veranstalteten. Drei ehemalige Spitzel meldeten sich in all den Jahren bei ihr und ihrem Mann, der im vergangenen Jahr gestorben ist. „Einer hat es voll Scham kurz vor unserer Ausreise gebeichtet, einer hat sich nach der Wende entschuldigt, ein dritter angerufen, als er sehr betrunken war.“ Die meisten schwiegen, wie die Mehrheit vor der Wende geschwiegen hatte. Wie immer die meisten schweigen.

Die Vergangenheit holt Ingrid Bahß ein, wenn sie in Werben an der Elbe oder in Magdeburg ist. „Damals“, sagt sie, „haben sich immer mehr Menschen von uns abgewandt, oder uns gewarnt, es sei zu gefährlich. Irgendwann wurden die Fenster unserer Wohnung eingeschmissen. Wir haben trotzdem weitergemacht.“

Regelmäßig fährt Ingrid Bahß in ihrem Heimatort Werben, 933 Einwohner, fast keine Ausländer, nicht wenige AfD-Anhänger. Setzt sich in die Dorfkneipe, „mittenrein und nicht daneben“, um zu reden. „Solange noch irgendeine Offenheit da ist, will ich kommunizieren, mit jedem“, sagt sie. Freunde aus dem Irak und Brasilien, aus der Ukraine und einigen anderen Ländern hat sie schon eingeladen nach Werben. Die Formulierung, die sie dort am häufigsten höre, wenn die Menschen vom Westen reden, sei: „Die da drüben.“ An dem Begriff habe sich in 35 Jahren so wenig geändert wie am Gefühl, benachteiligt zu sein. „Dass die Reallöhne bis heute nicht gleich sind, halte ich für den größten Kardinalfehler“, sagt sie.

Dass die AfD im Osten so stark ist, hängt natürlich damit zusammen, dass die Sowjetunion der größte Freund der DDR war und die USA der Feind
Ingrid Bahß

Wenn jemand erzählt, dass er „Muslime einfach nicht mag“, weil es „einfach zu viele“ seien, hört Bahß zu. Wenn jemand sagt, Deutschland müsse „alle Flüchtlinge aufnehmen“ genauso. Im sozialistischen Modell ging es ums Wir, nicht ums Ich. Mit der westdeutschen Ego-Gesellschaft, in der „Menschen schnell auf den Sockel gestellt, aber auch schnell vergessen werden“, hat sie lange gefremdelt. Auch mit der Arroganz, die sie bis heute spüre. Die Problematik des Rechtsextremismus sei im Osten größer als im Westen, gewiss. „Das liegt natürlich auch daran, dass die Sowjetunion der größte Freund der DDR war und die USA der Feind.“ Mit dem Finger auf den Osten zu zeigen, helfe aber nicht weiter. „Dadurch verfestigen sich die Gedanken eher, und die Klischees.“

Stasi-Observationsfoto von Ingrid Bahß aus der Akte der Gauck-Behörde

Stasi-Observationsfoto aus der Akte der Gauck-Behörde

Weitermachen ist Bahß‘ Prinzip geblieben. Die 75-Jährige engagiert sich für eine offenere, vertrauensvollere und aus ihrer Sicht gerechtere Welt. In Köln setzt sich die Fotografin Ingrid Bahß für wohnungslose Menschen ein und macht Fotoausstellungen über sie („Kunst trotz(t) Armut“), sie arbeitet für die Obdachlosenzeitung Draußenseiter und für den Vringstreff. Als Zeitzeugin hat sie in Schulen und Universitäten gesprochen, gerade kommt ein Dokumentarfilm über sie („Anna und ihre Oma“) und ihre Enkelin in die Programmkinos.

Als Kind fand Ingrid Bahß es ungerecht, dass ihre Mutter an sieben Tagen in der Woche von morgens bis abends arbeitete, ihr Vater sich dagegen die Arbeit einteilte, länger schlief und auf seinen Pausen bestand. Sie habe als Kind Mitleid empfunden mit den Vertriebenen, die nach Werben kamen und über Jahrzehnte nicht aufgenommen wurden in die Gemeinschaft. „Heute bin ich mir sicher, dass mein Sinn für Ungerechtigkeit und Benachteiligung in der Kindheit ihren Anfang hatte.“ Ihr Wille, dagegen anzugehen, war stärker als der Vertrauensverlust.