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Evelyn Stallnig ist im Osten aufgewachsen35 Jahre nach Mauerfall – „Der Westen war erstmal ein Kulturschock“

Lesezeit 3 Minuten
Evelyn Stallnig wuchs in Erfurt auf und kam 1989 nach Köln

Evelyn Stallnig wuchs in Erfurt auf und kam 1989 nach Köln.

Wie war es, als Frau in der DDR zu leben? 35 Jahre nach dem Mauerfall erinnert sich Evelyn Stallnig (70), Kölner Tanzlehrerin.

35 Jahre ist der Mauerfall jetzt her – und ich selbst habe exakt 35 Jahre in der DDR gelebt und lebe seit ziemlich genau 35 Jahren in der BRD. Beide Teile meines Lebens möchte ich nicht missen, auch wenn ich natürlich lieber im Westen geboren worden wäre, hätte ich denn die Wahl gehabt. Schon meine Eltern wollten in den Westen – der Mauerbau ist ihnen 1961 zuvorgekommen. Sie waren Tanzlehrer und genossen Privilegien: Wir konnten manchmal in den Exquisit-Kaufhäusern einkaufen, in denen es auch West-Waren gab.

Die Stellung der Frau habe ich als relativ gleichberechtigt erlebt: Anders als im Westen sind Frauen nach der Geburt eines Kindes schnell wieder arbeiten gegangen – die Versorgung mit Kita-Plätzen war besser als im Westen und in den meisten Familien mussten Vater und Mutter arbeiten, um über die Runden zu kommen. Patriarchalisch ging es trotzdem auch in meiner Familie zu. Meine Mutter hat die Tanzschule am Laufen gehalten, mein Vater hat sie nach außen repräsentiert und den Macker gespielt.

Angezogen haben mich immer starke Frauen: Die Musikerin Nina Hagen zum Beispiel oder die Bürgerrechtlerinnen Bärbel Bohley und Ulrike Poppe, die 1983 mal zusammen verhaftet worden waren, aber auch viele westdeutsche Frauen wie Iris Berben. Wenn ich heute darüber nachdenke, waren das alles Frauen, die Grenzen überwunden und sich gegen Widerstände durchgesetzt haben.

Die Grenzen habe ich in der DDR mit zunehmendem Alter als immer enger erlebt. Ich habe nur West-Medien geschaut, nur West-Musik gehört, man lebte innerlich im Westen – durfte das aber nicht sagen. Das hat zu starken inneren Spannungen geführt. Dazu kam, dass wir nur nach Tschechien, Polen oder in die Sowjetunion reisen durften – nicht aber nach Frankreich, England oder Spanien.

Die Grenze haben wir dann in einem geschichtsträchtigen Moment überwunden: Im Sommer 1989 bin ich mit meinem damaligen Mann Georg und unserem Sohn Lars über Ungarn ausgereist und schließlich in Köln gelandet. Dass Ungarn die Grenze öffnen würde, wussten wir nicht, als wir uns entschieden hatten, aus der DDR zu fliehen.

Der Westen war erstmal ein Kulturschock: Es war von allem zu viel, zu laut, zu schnell. Ich hatte gedacht, alle westdeutschen Frauen müssten so aussehen wie in der Reklame – das war dann nicht so. Der Kapitalismus mit seinen Vorstellungen von Effizienz und Disziplin schuf neue Unfreiheit – die allerdings nichts war gegenüber des diktatorischen DDR-Systems. Ich hoffe, dass auch im Osten Deutschlands die Menschen, die damals vom Westen überrollt wurden, verstehen, dass eine Diktatur keine Alternative zur Demokratie sein kann.


Der Film „Die Unbeugsamen II“ feierte jüngst Premiere im Kölner Filmpalast – er erinnert an starke Frauen aus der DDR. Produziert hat die Hommage der Kölner Leopold Hösch.