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Serie

„Der Moment“
Grenze geöffnet – Als ein DDR-Flüchtling im Privatjet zum „Tanz in der Freiheit“ flog

Lesezeit 8 Minuten
Privatjet mit drei Passagieren auf dem Rollfeld

Wenige Tage nach der Ausreise aus Ungarn flog der englische Fernsehsender ITN Evelyn und Hans-Georg Stallnig nach Blackpool. Für die DDR-Flüchtlinge ein surreales Erlebnis.

Der Kölner Tanzlehrer Hans-Georg Stallnig flüchtete 1989 aus Erfurt in den Westen – und schrieb ein Kapitel deutsch-deutscher Geschichte mit.

Hans-Georg Stallnig tanzt die Flucht. Er trippelt die Fahrt zur ungarisch-österreichischen Grenze, erstarrt, als er von der Festnahme erzählt, dreht eine Pirouette und ballt die Fäuste, während er sich an den Moment erinnert, als Csilla Freifrau von Boeselager in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 im überfüllten Flüchtlingslager verkündet, dass DDR-Bürger mit gültigem Reisepass von 0 Uhr an in den Westen ausreisen dürfen. Der Tanzlehrer hüpft durch sein Tanzstudio in Bayenthal, wie die Menschen vor 35 Jahren durch die Zelte vor der „Kirche zur Heiligen Familie“ in Budapest gehüpft sind. „Das“, sagt Stallnig, „war der Moment.“

Seine Sehnsucht nach Freiheit manifestierte sich in einer wiederkehrenden Vorstellung: „Ich habe geträumt, ich schwinge auf einem Bambusstab, 100 oder 200 Meter hoch, von Ost-Berlin über die Mauer in den Westen. Ich lande weich und bin in der Freiheit.“ Immer wieder habe er dieses Bild im Kopf gehabt. „Bis es wahr wurde.“

Jugend in der DDR: Der Einfluss von West-Fernsehen und den Beatles

Sein Leben beginnt mit einem Vater, der abhaute und den er nie kennenlernte, beginnt mit einem ängstlichen Jungen, der stottert und gehänselt wird. „Dann kam der Sport und ein Lehrer, der mir sagte: Georg, Du bist schnell, Du bist drahtig. Du bist gut!“ Selbstbewusstsein durch Sport, erst Leichtathletik, dann Fußball, Schülermeister mit Rot-Weiß Erfurt. Ein anderer Lehrer, auf der Sprachheilschule, sagt ihm: „Überlege, bevor Du sprichst, geh weich hinein in jeden Satz!“ So gelingt der Sieg gegen das Stottern.

1969 macht er den ersten Tanzkurs, die Tochter des Tanzlehrers ist es und keine andere. Mit 19 wird Hans-Georg Stallnig Evelyn Nierhaus heiraten, nicht viel später kommt Sohn Lars zur Welt. Im West-Radio laufen die Beatles und die Stones, die Bee Gees und The Who. „Freiheit und Rebellion in Reinform. Der Wahnsinn.“ Er steht schon wieder und tigert durch den Raum. „Im Kopf“ habe er schon in den 1970er Jahren im Westen gelebt. Millowitsch und Monitor, Tagesschau, Sportschau und „Der blaue Bock“. Alles habe er geschaut. Mit dem West-Fernsehen und der Musik wachsen die Zweifel am System der DDR, wo alle gleich sein sollten. Er, Hans-Georg, war nie gleich und wollte es nie sein.

Im Sommer 1989 lag etwas in der Luft, im Kino lief Dirty Dancing. Hollywood gab es sonst nie in der DDR
Hans-Georg Stallnig

Im Sommer 1989 berichtet die Tagesschau, wie Grenzsoldaten in Ungarn Stacheldrahtzäune abbauen. Belauscht nur von hohen Bäumen, stellt Hans-Georg Stallnig seiner Evelyn an einem Julitag 1989 in einem Erfurter Wald die entscheidende Frage: „Wollen wir flüchten?“ Das „Ja“ kommt ohne Umschweife. Sie stellen Visa-Anträge für Ungarn, täglich gibt es jetzt Berichte über gelungene Fluchten über die ungarisch-österreichische Grenze. Im Erfurter Kino läuft derweil „Dirty Dancing“ – „es lag etwas in der Luft, Hollywood gab es sonst nie in der DDR.“

Am 24. August 1989 kommen die Visa. Am gleichen Tag brechen Hans-Georg, Evelyn und Lars mit ihrem braunen Lada 2107 auf. Der Vater trägt drei Jacketts übereinander, drüber die gute Lederjacke. Lars nimmt das Kofferradio mit den Kopfhörern mit. In einen Wanderrucksack kommen Sommerkleider, Socken, Unterhosen und persönliche Fotos, von Familienfeiern, Erinnerungen an Tanzturniere.

In der ersten Nacht, ein Motel bei Prag, „mehr Zweifel als Euphorie, mehr Angst als Zuversicht“. Stallnig bleibt jetzt sitzen und nippt an seiner Bio-Orangenlimo. An der Grenze zu Ungarn werden sie durchgewinkt. An der ersten Tankstelle sehen sie Männer, die wie Handwerker aussehen. Stallnig spricht sie an: „Hier Lada, da Austria“, sagt er und zeigt auf sein Auto. Die Männer verstehen. Sie verabreden sich für den Abend.

Der Treffpunkt liegt an einem kleinen See. Stallnig bekommt Puls. „Ich fühlte mich plötzlich voller Angst. Du hast keine Heimat mehr, Du weißt nicht, was wird. Es gibt keinen, der auf Dich wartet. Wie es den Geflüchteten geht, die nach Deutschland kommen, kann ich seit diesem Tag nachempfinden.“

Die Familie verwirft den Fluchtplan. Aber zurück? Auf keinen Fall. Sie waren erfolgreich mit ihrer Tanzschule in Erfurt. Wenn sie aber im Ausland tanzen wollten, durften sie das nur in Tschechien, Bulgarien, oder Ungarn. Nicht in Paris, nicht in Blackpool, dem englischen Mekka des Tanzsports. „Vieles war nicht möglich, für vieles war kein Geld da – aber allen wurde gesagt, dass das Leben in der DDR besser sei. Wir wussten, dass das eine Lüge war.“

Am See in der Nähe zur österreichischen Grenze beginnt es zu dämmern. Stallnig läuft in einen nahen Wald und stößt auf eine Familie, die auf dem Heimweg vom Baden ist. Er läuft auf sie zu, zeigt den Lada-Schlüssel und sagt: „Lada, Austria?“

So verlassen wie bei der Flucht durch ein Maisfeld habe ich mich nie zuvor und nie danach gefühlt
Hans-Georg Stallnig

Die Familie lotst die Stallnigs mit ihrem Lada durch den Wald. In einer Küche ein Abendessen mit Spiegeleiern. Als die Dunkelheit da ist, geht es los. Ohne Licht im Lada über holprige Wege. An einem Maisfeld sollen Hans-Georg, Evelyn und Lars aussteigen. „So verlassen“, sagt Stallnig, „habe ich mich nie zuvor und nie danach gefühlt.“ Sie robben eine gefühlte Ewigkeit durch ein Maisfeld. Als sie auftauchen und auf einen Bahndamm stoßen, hören sie Hunde bellen. Scheinwerfer blenden. Grenzsoldaten rufen: „Stehen bleiben, Sie sind verhaftet!“

Ein Grenzpolizist vernimmt sie auf der Wache die halbe Nacht lang. Schließlich schiebt er ihnen ein Formular zu. Sinngemäß steht da, dass sie sich unerlaubt im Grenzgebiet aufgehalten haben. „Ich habe gedacht: Wenn Du das jetzt nicht unterschreibst, landest Du in Bautzen.“ Wenig später der nüchterne Satz: „Sie können gehen.“ Den Lada finden die Grenzpolizisten in einer Scheune und geben ihn den Stallnigs zurück.

Hans-Georg Stallnig ballt die Fäuste.

Hans-Georg Stallnig erzählt von der Flucht.

Draußen geht ein Gewitter nieder. Stallnig fühlt sich „voll Schuldgefühl, traurig, müde und verzweifelt“. Der rettende Gedanke: In Budapest gibt es die BRD-Botschaft. Sie fahren nach Budapest, doch die Botschaft ist geschlossen, sie werden an eine Kirchengemeinde verwiesen. Dort gibt es ein Flüchtlingslager mit DDR-Bürgern, 3000 Menschen sind es mindestens. Hunderte kommen täglich in die Stadt.

Die Malteser aus der Bundesrepublik haben Duschen und Toiletten aufgestellt und verteilen Essen. Die BRD-Botschaft hat zwei Schalter aufgebaut, an denen sich morgens lange Schlangen bilden: DDR-Bürger mit gültigen Reisepässen können sich registrieren. Stasi-Mitarbeiter stehen auf dem Dach eines Nachbarhauses und filmen mit. „Gespenstisch“, sagt Stallnig. Vor den Zäunen des Lagers stehen Journalisten aus aller Welt und führen Interviews.

Ein Fernsehteam fragt Stallnig, warum er wegwolle aus der DDR: „I will to go to Blackpool“, radebrecht er

Ein Fernsehteam des englischen Senders ITN fragt Stallnig, warum er wegwolle aus der DDR: „I will to go to Blackpool“, zum „Blackpool Dance Festival“, dem größten Tanzfestival der Welt. Er sei Tanzlehrer, radebrecht er mit seinen fünfeinhalb Sätzen Englisch. Am nächsten Tag dürfen einige Flüchtlinge zum Hungary-Ring, einer Autorennstrecke – der Porscheverband Baden-Württemberg lädt einige DDR-Flüchtlinge zur Probefahrt ein. „Was für eine maßlose Arroganz das war.“

In der Nacht vom 10. auf den 11. September verkündet Csilla Freifrau von Boeselager im Lager, was auch das ungarische Fernsehen vermeldet: Ab 0 Uhr dürfen DDR-Bürger mit gültigem Reisepass Richtung Westen ausreisen. Das Flüchtlingslager tanzt. Wenige Stunden später ist das Lager leer. Fast alle sind unterwegs Richtung Grenze.

Evelyn und Hans-Georg Stallnig tanzen, sie im gepunkteten Ballkleid, er im Wrack. Eine Frau kniet hinter Evelyn, um das Kleid zu kürzen.

Anprobe der Festkleider in Blackpool, dem Mekka des Tanzsports.

Die Stallnigs sitzen derweil im Restaurant des Budapester Hyatt-Hotels, weil Lars sich so gewünscht hatte, dort Nudeln mit Tomatensauce zu essen. Über die Grenze fahren sie am nächsten Tag im Schlepptau eines niederbayerischen Unternehmers. „Vor dem Flüchtlingslager waren viele Unternehmer aus der BRD, die geguckt haben, ob es dort gut qualifizierte Leute gibt. Die haben versucht, jeden abzugreifen, der was draufhatte.“ An der Grenze stehen internationale Medien, auch ITN. Stallnig ruft ihnen zu: „Now, I will to go to Blackpool!“

Wenige Tage nach der Flucht aus der DDR tanzen Evelyn und Hans-Georg Stallnig im Ballsaal von Blackpool, dem Mekka des Tanzsports.

Wenige Tage nach der Flucht aus der DDR tanzen Evelyn und Hans-Georg Stallnig im Ballsaal von Blackpool, dem Mekka des Tanzsports.

Der Unternehmer ist freundlich, lädt sie zum Übernachten in Deggendorf ein, ist ihnen aber nicht geheuer. Im Telefonbuch findet er die Nummer eines früher bekannten DDR-Tänzers, der 1961 in den Westen geflüchtet war, ein Bekannter von Evelyns Vater. Er lebt in Münster und hat eine Tanzschule. „Klar, kommt vorbei“, sagt der Mann.

Hans-Georg Stallnig läuft wieder im Tanzstudio umher, die Orangenlimo ist leer. Jetzt prasselte die geballte BRD auf ihn ein. Die Autos, die Mode, die überfüllten Regale, die Dekadenz und Arroganz. Es sollte lange dauern, bis er sich daran gewöhnen würde.

Privatjet und Fünf-Sterne-Hotel für die DDR-Flüchtlinge

Der Tanzlehrer, der in Münster lebt, kümmert sich um die Familie. Stallnig registriert sich beim Deutschen Tanzlehrerverband als arbeitssuchend – wenige Tage später meldet sich ein Redakteur von ITN. Über den Verband hat er Stallnig ausfindig gemacht – und fragt: „Willst Du nach Blackpool kommen? Wir laden Dich ein.“

Der Journalist erzählt Stallnig, dass das englische Fernsehen seine Grenzüberquerung übertragen hat. Jetzt dürfe er in Blackpool mit Evelyn „den ersten Walzer in der Freiheit“ tanzen. „Das ist zu viel“, habe er gedacht. Und doch zugesagt. Mit einem gecharterten Privatjet fliegen Hans-Georg und Evelyn am 15. September 1989 nach Blackpool. Der Bürgermeister empfängt sie auf einem roten Teppich. Die DDR-Flüchtlinge werden in einem Fünf-Sterne-Hotel untergebracht, mit Frack und Ballkleid ausgestattet und im Rolls Royce zum Ballsaal gefahren. „Ich weiß noch, dass wir viel geweint haben, weil wir total überfordert waren“, erinnert sich der Tanzlehrer. „Es war alles fünf Nummern zu groß.“

03.09.2024 Köln. Georg Stallnig flüchtete aus der DDR und baute in Köln eine Tanzschule auf. Foto: Alexander Schwaiger

Hans-Georg Stallnig flüchtete aus der DDR und baute in Köln eine Tanzschule auf.

Fünf Tage nach der Ausreise aus Ungarn stehen die Flüchtlinge auf der Tanzfläche des „Blackpool Power Ballroom“, um schwitzend und nervös ihren Walzer zu tanzen. Der Sender hat eine Band eingeflogen, unter den Zuschauern sind viele geladene Gäste. Der erste Tanz in Freiheit wird in den Fernsehnachrichten ausgestrahlt.

Im Oktober 1989 ziehen die Stallnigs nach Köln, wo Hans-Georg für eine bekannte Tanzschule arbeiten kann, an der er sich später beteiligen wird. Die Ehe hält nicht, längst ist Hans-Georg Stallnig zum zweiten Mal verheiratet. Seit 17 Jahren hat der inzwischen 70-Jährige eine eigene Tanzschule. Er tanzt mit Teenagern und mit Demenzkranken, lehrt Achtsamkeit und Respekt, schafft gute Orte und lebt so jene Freiheit und Demokratie, nach der er sich in der DDR so gesehnt hatte.