AboAbonnieren

Serie

Der Moment
Tristan kam allein von der Krim nach Köln, um nicht als Soldat in den Krieg ziehen zu müssen

Lesezeit 5 Minuten

Tristan Simon lebt seit eineinhalb Jahren in Köln.

Tristan Simon (19) war sechs, als er mit seinen Eltern von Köln auf die Krim zog. Vor eineinhalb Jahren kam er zurück – allein.

Er hatte viel früher den Entschluss gefasst, die Krim zu verlassen und nach Köln zurückzugehen, allein, ohne seine Mutter und seine Schwestern. Aber es war auf der Fahrt nach Moskau zur deutschen Botschaft, als Tristan Simon klar wurde, um was es bei dieser Entscheidung eigentlich ging.

Im Zug sah der 17-Jährige junge russische Soldaten und hörte, wie sie sich unterhielten. „Sie sprachen die ganze Zeit darüber, dass sie sich wegen des Geldes zum Militärdienst in der Ukraine gemeldet hatten. Ich habe gehört, wie sie von Autos und Datschas sprachen und dass sie noch nie so viel Geld verdient hätten. Ich fand das schlimm. Es ging nicht um Menschen und um diesen sinnlosen Krieg, es ging nur um Geld.“

Simons deutscher Kinderreisepass war abgelaufen. Er musste in der Botschaft in Moskau einen Personalausweis und einen Reisepass beantragen, um nach Deutschland ausreisen zu können. Was aber, wenn die Beamten das nicht machten? Wenn sie ihn nur anlächelten und sagten, dass sie die Geburtsurkunde erstmal überprüfen müssten? Etwas mit dem Kinderpass nicht stimme? Er hatte schon so viele Geschichten von Korruption und irren Behörden gehört. Und in einer Woche war sein 18. Geburtstag. „Ohne deutschen Pass hätte ich dann vielleicht von der russischen Armee eingezogen werden können.“ Selten sei er so nervös gewesen wie bei dieser Zugfahrt nach Moskau.

Tristan Simon war sechs, als er mit seinen Eltern aus Köln auswanderte auf die Krim. Seine Eltern wollten dort eine Urlaubspension eröffnen. Sie kauften ein Grundstück und begannen, ein Haus zu bauen. Am Anfang seien sie voller Tatendrang gewesen, erinnert sich der inzwischen 19-Jährige an einem heißen Sommertag in einem Café am Neptunplatz in Ehrenfeld. „Aber irgendwann haben sie sich immer mehr gestritten.“ Irgendwann verließ der Vater die Familie und ging zurück nach Deutschland. Tristan Simon, seine beiden jüngeren Schwestern und die Mutter blieben zurück auf der Krim. Seine Erinnerungen an das, was Heimat war, aber blieben mit Köln verbunden.

Tristan breitet am Strand seine Arme aus.

Tristan auf der Krim

„Auf der Krim haben mich die Kinder manchmal als Deutschen beschimpft und manchmal als Faschisten“, erinnert er sich. Je länger er auf der Urlaubsinsel lebte, desto verklärter erschienen die Jahre in Köln. Als Kind habe er sein Leben hingenommen, wie es war. Er war neun, als das russische Militär die Krim annektierte. „Wir haben das zuerst nur daran gemerkt, dass wir mit Rubel zahlen mussten.“ Und es seien weniger Touristen gekommen. Seine Mutter habe in Küchen ausgeholfen, um die Familie über Wasser zu halten.

Ich kam mir vor wie Tarzan, der aus dem Wald in die Zivilisation kommt
Tristan Simon über sein Ankommen in Köln

Er habe geahnt, dass er sich auf die Schule konzentrieren muss, um später die Möglichkeit zu haben, wegzukommen. In der Pubertät habe er angefangen, darüber nachzudenken, wie es wäre, zurückzugehen nach Köln. Tristan Simon hörte jetzt deutsche Popmusik über Streamingdienste, auch kölsche Musik. Er hatte eine Freundin, der er von Deutschland erzählte.

Seine Geschichte klingt wie ein schöner Traum in Zeiten der Tristesse

Als er seiner Mutter das erste Mal sagte, dass er nach dem Abitur gern nach Köln zurückgehen würde, habe die gesagt, sie könne das verstehen, ihm aber leider nicht helfen. Sie werde bleiben.

Eineinhalb Jahre ist Tristan Simon inzwischen in Köln. Seine Geschichte klingt wie ein schöner Traum in Zeiten der Tristesse – ein Junge, der sich gegen den Krieg entscheidet und für die Freiheit, der sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt und mutig auszieht, um in der Heimat seiner Kindheit, die ja keine richtige Heimat sein konnte, da er sie so früh verließ, sein Glück zu finden. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat schon nach Simons Ankunft über diesen Traum berichtet – viele Leserinnen und Leser zeigten sich gerührt.

Tristan in Moskau auf dem Roten Platz

Tristan in Moskau, wo er seinen deutschen Pass beantragte.

Als die Kölner Band AnnenMayKantereit las, dass ihr Lied „Tommi“ Tristan Simons Lieblingslied ist, das er nach seiner Ankunft in Köln am Rhein hörte, luden sie ihn spontan backstage zu ihrem Konzert im Kölner Stadion ein. „Das war gigantisch“, sagt Tristan Simon. Überhaupt habe er die ersten Monate in Köln wie in einem kitschigen Film erlebt. Die Cafés, die freundlichen Menschen, die Möglichkeiten, wegzugehen, ins Kino, Theater, Konzerte. „Ich kam mir vor wie Tarzan, der aus dem Wald in die Zivilisation kommt.“

Porträt von Tristan Simon, der an einer mit Graffiti besprühten Garage lehnt.

Tristan Simon (19) im Sommer 2024 in Köln.

Die Euphorie der ersten Monate ist Realismus gewichen, der sich manchmal mit Traurigkeit mischt. In der Schule laufe es recht gut – Tristans ukrainisches Abitur wird in Deutschland nicht anerkannt, hier wird er nächstes Jahr Abitur machen – er habe inzwischen keine Sorge mehr, es nicht zu schaffen. Er arbeitet an einigen Nachmittagen in einem Imbiss in der Innenstadt, um sich etwas leisten zu können. Lebt in seiner zweiten Gastfamilie – und sucht ein eigenes Zimmer. „Das ist wahnsinnig schwierig.“

Fast täglich telefoniert Tristan Simon mit seiner Familie auf der Krim. Vor kurzem gab es einen Bombenangriff, ganz bei seiner Mutter und den Schwestern in der Nähe. Vier Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Auch die Fassade der Pension der Mutter wurde beschädigt. „Ein paar Tage später hatte ich eine Englisch-Klausur und konnte kein Wort schreiben, weil ich die ganze Zeit daran denken musste.“ Sein Lehrer hatte Verständnis: Tristan durfte die Arbeit an einem anderen Tag schreiben. „Zum Glück treffe ich immer wieder nette Menschen, die es mir leichter machen, hier richtig anzukommen“, sagt er.„ Meine Gedanken sind trotzdem ständig bei meiner Familie auf der Krim.“