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Ein Abend wie ein SchmetterlingAnnenMayKantereit und das Konzert ihres Lebens in Köln

Lesezeit 4 Minuten
Sänger Henning May von der Band AnnenMayKantereit glücklich im Stadion

Sänger Henning May von der Band AnnenMayKantereit glücklich im Stadion

Die Band verwandelt das Stadion am Samstagabend in ihr Wohnzimmer – 40.000 Freunde bilden dazu den gigantischen Chor.

Mit einem selbst gezapften Kölsch in der Hand stimmt Henning May „Tommi“ an. Es ist – natürlich – das allerletzte Nachspiel des zweistündigen Konzerts in Müngersdorf, auf das drei Jungs aus Sülz und ihre Fans länger gewartet haben. Auch nach 22 Uhr ist die Luft im Kölner Westen noch ziemlich warm. Über den Fans im Stadion ist sie noch ein paar Grad heißer.

Und dann singen, nein, schreien 40.000 Menschen „Ich glaub‘, ich hab Heimweh“. Bis wohin kann man das diesen gigantischen Chor eigentlich gerade hören? Das Lied „Tommi“, das Henning May vor fünf Jahren bei einem Konzert am Fühlinger See plötzlich aus dem Klavier zauberte, steht inzwischen auch bei Menschen in München für Sehnsucht. Aber nur in Köln weiß man genau, wonach.

Samstagabend im ausverkauften Rhein-Energie-Stadion: Es ist das Abschlusskonzert von AnnenMayKantereits fünfwöchiger Deutschland-Tournee und ihr bislang größtes Konzert überhaupt. Wenn der Begriff Heimspiel hier nicht passt, dürfte er nie passen. Und war das eigentlich gerade schon wieder eine Träne auf dem Gesicht von Henning May?

„Wir sind AnnenMayKantereit und das ist unser Wohnzimmer“, hatte der nassgeschwitzte, überglückliche Sänger zu Anfang des Konzerts gerufen. Überheblich? Im Gegenteil.

May und seine Bandkollegen Severin Kantereit und Christopher Annen werden später am Abend einen kleinen Tisch aus ihrem Proberaum auf die Bühnenmitte tragen, sich drum herumsetzen und ihr melancholieumwehtes Lied „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ spielen. Es ist der Titelsong ihres aktuellen Albums und einer von vielen besonderen Momenten im Stadion.

Das Album hat das Trio nach der Pandemie mit einer Horde Freunden zusammen im Studio aufgenommen. „Corona hat uns gezeigt: Wir wollen nicht nur zu dritt sein, wir wollen eine Gang sein“, erklärt Henning May. Und so stehen in Müngersdorf neben der unglaublich souveränen Bandbassistin Sophie Chassée noch sieben weitere Musikerinnen und ein Musiker mit Streich- und Blasinstrumenten auf der Bühne. Da knallen Songs wie „21, 22, 33“ oder „Ausgehen“ nochmal bedeutend mehr.

Ein Blick zurück muss sein an diesem Abend: Woher kennen sich die drei nochmal? Vom Schiller-Gymnasium in Sülz, 2011 gründete sich die Band. Und schon, als das Trio Straßenmusik auf der Schildergasse machte, war eigentlich klar: Diese unfassbare, tiefe, nach Whisky und Kippen klingende Stimme kann auch ein ganzes Stadion füllen. Mehr als diese Stimme und etliche gute, ein paar richtig große Songs hat es nie gebraucht.

Auch im Stadion gibt es keine Show-Show, kein Gedöns. Die große Regenbogenfahne vor dem Klavier ist der einzige Farbtupfer: Gute Musiker und gute Menschen wollen sie sein, das ist der Band aufrichtig wichtig. Christopher Annen macht zwischen zwei Songs Werbung für den Stand der Umwelthilfe.

Die Fans im Stadion feiern AnnenMayKantereit.

Die Fans im Stadion feiern AnnenMayKantereit.

Fast zwei Stunden lang also Repertoire aus zwölf Jahren Bandgeschichte. „Pocahontas“, der von der Band zwischenzeitlich ungeliebte Megahit vom Anfang, darf auch dabei sein. Und, klar, „Barfuß am Klavier“. Großer Jubel, als AnnenMayKantereit nach einem Instrumental-Lied ihrer fulminanten Mitmusiker plötzlich in der Mitte des Stadions auf einem Podest auftauchen. Sie singen „Viva Colonia“ – wirklich – und das ganze Stadion gröhlt mit. Sie singen „Nur nicht aus Liebe weinen“ von Zarah Leander – der Chor lässt sie wieder nicht im Stich.

Gemütlich am Tisch: die Band AnnenMayKantereit im Stadion

Gemütlich Mucke machen am Tisch: die Band AnnenMayKantereit im Stadion

„Es gibt Momente, die sind zu groß, um sie in Bildern festzuhalten, und heute ist so ein Moment“, sagt dann diese mächtige, plötzlich zittrige Stimme. Der Song „Schmetterling“, ein neuer „Tommi“-Moment, beschreibt dieses Gefühl. Henning May sitzt mal wieder alleine am Klavier und singt diese wunderschöne Ballade von Schönheit und Vergänglichkeit – zum ersten und, wie er schwört, zum einzigen Mal. Nur fürs Stadion. Singt davon, wie er nach dem Konzert einen Kölschkasten auf die Südtribüne stellen wird, um mit dem ganzen Team anzustoßen. Und davon, dass er weiß: „Jeder Moment hat seinen Preis, weil das Gefühl nie lange bleibt.“

Es ist ein Abend wie ein Schmetterling. Wunderschön, selten und viel zu schnell vorbei.