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Armut und Obdachlosigkeit in Köln„Die Menschen haben nichts mehr zu essen”

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Helfer verteilen Suppe, Einkaufsgutscheine und Hygieneartikel.

Köln – Früher hieß es, Armut sei unsichtbar. Davon kann zumindest am Wiener Platz keine Rede sein. Man muss nicht sehr lange hingucken, um den alten Mann in einer Nebenstraße zu entdecken, der im Halbschlaf und in sich zusammengesunken auf einer Bank sitzt. Die alte Frau, die vor einem Discounter an der nahen Frankfurter Straße ihre Decken ausgebreitet hat und monoton vor sich hinspricht und den jungen Flaschensammler, der die Mülleimer inspiziert. Vor einem Eingang an der Liebfrauenkirche hat sich jemand ein Bettenlager errichtet, um hier wohl die Nacht zu verbringen, während an der Buchheimer Straße die Helfer der Vereine Heimatlos in Köln und Arche für Obdachlose Essen an bedürftige Kölner verteilen.

Auf einem kleinen Bollerwagen hat das Team um Linda Rennings, Leiterin von Heimatlos in Köln (HIK), und Streetworker Franco Clemens, pädagogischer Berater der Arche, Suppen in Plastikschälchen aufgetürmt, die das Restaurant Willomitzer gespendet hatte. Dazu gibt es Hygieneartikel und Gutscheine für einen Supermarkt. Es dauert nur wenige Minuten, bis sich 40 Menschen zusammenfinden und eine Schlange bilden. Manche holen sich Essen ab und bedanken sich, manche brauchen einen Rat und manche lassen ihre Geschichten da.

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Franco Clemens im Gespräch

Geschichten von der Straße

Es sind Geschichten wie die von Simon (Name geändert), der seit zehn Jahren in Köln meist auf der Straße lebt. Wie das so genau gekommen ist, kann der 41-Jährige, der eigentlich aus Buxtehude kommt, nicht genau erzählen. Die Tischlerlehre hatte er einst abgebrochen, er wurde Punk, dann waren Drogen im Spiel. Simon wurde abhängig vom Heroin, ist es heute noch, landete auf der Straße.

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Linda Rennings, Vorsitzende von Heimatlos in Köln

Als Wohnungsloser hat er ganz Europa bereist, er war in Barcelona, in Amsterdam, hat lange in Hannover gelebt. „Mein Leben besteht aus Schlafen, Essen, Schnorren und Drogen besorgen“, sagt er und wischt sich eine Träne weg. Die Corona-Zeit habe das Leben auf der Straße noch schwerer gemacht, Simon hat Angst vor dem Virus. „Das Immunsystem ist nicht mehr so gut“, sagt er. Immerhin sei er, als die Tage und Nächte kürzlich immer kälter wurden, bei einem Kumpel untergekommen. Er will nun in eine Methadon-Therapie beginnen, will weg vom Alkohol.

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Nicht weit entfernt sitzt Dieter (55), den seine Freunde „Bomber“ nennen, auf den Treppen des Wiener Platzes und lässt die Sonne auf sich scheinen. Dieter, der wie andere nicht mit Nachnamen in der Zeitung stehen will, ist in Bayern geboren, der Vater ist abgehauen, die Mutter hat die Kinder ins Heim gesteckt und später wieder herausgeholt, als sie zum zweiten Mal heiratete.

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Dieter (2.v.l.) auf der Treppe auf dem Wiener Platz

Zu Hause gab es fast täglich Prügel, mit 15 ist Dieter dann abgehauen, kam erneut ins Heim, wo man ihn mit 18 „rausgeworfen“ hat. Er kam in der Punkszene unter, besetzte Häuser in Ehrenfeld. „Das war die geilste Zeit meines Lebens“, sagt er. Es gab viele Partys und viele Drogen, auch Dieter hing jahrelang an der Nadel, bis seine damalige Freundin ihn vor die Wahl stellte: Entweder die Drogen oder sie. Mittlerweile kommt er ohne Heroin aus, hat sogar einen Untermietvertrag in einer Mietwohnung am Rande von Mülheim. Das Leben auf der Straße zeichnet er nicht romantisch: „Man versucht nur zu überleben.“

Gut 6000 Menschen gelten in Köln als obdachlos

Wohnungslosigkeit ist oft ein schleichender Prozess. Gut 6000 Menschen gelten in Köln als obdachlos. Die Stadt schätzt, dass etwa 300 auf der Straße leben. Andere schlafen bei Freunden auf der Coach oder werden von der Kommune in Sozialhäusern untergebracht. Weitere stehen auf der Kippe: Jeder Zehnte hat im Bezirk Mülheim keinen Job, jeder Fünfte lebt von Hartz IV. Die Geschichte des Rentners, der im Rollstuhl zur Essensausgabe kommt, mag nur ein Beispiel von vielen sein. Auf 113 Quadratmetern lebte er jahrelang mit seiner Mutter zusammen. 2013 wurde ihm wegen einer Knochenmarksentzündung ein Bein amputiert. Als die Mutter starb, reichte die staatliche Unterstützung von 700 Euro nicht mehr, um die Wohnung zu halten. Der Vermieter droht nun zu kündigen und der Rentner auf der Straße zu landen.

Kein Anrecht auf Hilfe

Auf dem Wiener Platz verteilt auch die Sozialistische Selbsthilfe (SSM) um Rainer Kippe Kleidung an Bedürftige. In seinem Team arbeitet Eduardo, der derzeit im Projekt Obdachlose mit Zukunft (OMZ) in Deutz lebt. Eduardo kommt aus dem rumänischen Siebenbürgen und ist immer wieder als Arbeiter nach Deutschland gefahren. Er hat als Schausteller auf der Kirmes gejobbt, im Lager von Discountern und in Metzgereien ausgeholfen. Es hat nie gereicht, um sich in Deutschland etwas aufzubauen. Im Gegenteil: Manchmal ist er tagsüber auf der Arbeit erschienen, während er nachts am Rheinufer geschlafen hat. Einmal hätte er fast eine Wohnung bekommen, konnte aber die Kaution von 500 Euro nicht bezahlen.

Ein Bruder hat ihn ins OMZ an der Marktstraße geholt, wo Wohnungslose ein leeres Haus besetzt hatten. Mittlerweile ist das Projekt, in dem etwa 40 Menschen leben, nach Deutz umgezogen. Der neue Verein Arche, in dem sich auch Konstantin Neven DuMont und Andreas Schubert engagieren, hat dem OMZ 5000 Euro gespendet, wovon unter anderen bereits zwei Waschmaschinen gekauft wurden. Eduardos Geschichte werfe ein Licht auf einen Teil der Obdachlosenszene, die aus Osteuropa nach Köln gekommen ist, sagt Kippe. Weil sie oft in illegalen Jobs ausgebeutet würden und daher keine Sozialbeiträge zahlen könnten, hätten sie keinen Anspruch auf staatliche Hilfe. „Die Menschen haben nichts mehr zu essen.”

Clemens und Rennings wollen aufmerksam darauf machen, dass es Obdachlosigkeit nicht nur in der Innenstadt gibt, wo sich viele Unterstützungsangebote befinden, sondern auch im Rechtsrheinischen. Rennings fordert nun einen Ort in der Nähe des Wiener Platzes, an dem Obdachlose in Ruhe beraten werden können. Und eine öffentliche Toilette, die nicht nur, aber auch Obdachlose nutzen können. Die hatte die Bezirksvertretung Mülheim bereits vor einem Jahr beschlossen, erläutert Bezirksvertreter Nijat Bakis (Linke), den man auf dem Wiener Platz trifft. Geschehen sei aber bisher nichts.

Die Arche für Obdachlose – ein Überblick

Mit einem neuen Verein engagieren sich zahlreiche Helfer für Obdachlose. Die Arche für Obdachlose wurde am Rosenmontag gegründet, zu den Unterstützern zählen unter anderem Konrad Adenauer, Tom Gerhardt, Christoph Kuckelkorn, Hedwig und Konstantin Neven DuMont, die Pfarrer Franz Meurer und Hans Mörtter, Peter Pauls und Günter Wallraff. Die Bethe-Stiftung von Roswitha und Erich Bethe aus Bergisch Gladbach unterstützt den Verein und verdoppelt alle eingehenden Spenden bis 250. 000 Euro.

Als pädagogischer Berater unterstützt Franco Clemens, der seit Jahren im Rheinland als Streetworker tätig ist, den Verein. Unter anderem hat er in den sozialen Brennpunkten in Finkenberg, am Kölnberg in Meschenich und in einem Grevenbroicher Flüchtlingsheim gearbeitet. Derzeit ist er im sogenannten Maghreb-Viertel in Düsseldorf-Oberbilk aktiv.

Die Hilfen für Obdachlose will der Verein bündeln. „Wir erfinden das Rad nicht neu, wir haben viele tolle Angebote in der Obdachlosenarbeit“, sagt Clemens. Ziel des Vereins sei es zum einen, Geld für kleinere Initiativen zu sammeln. Jeweils 5000 Euro seien bereits an das Projekt Obdachlose mit Zukunft und Heimatlos in Köln gegangen. Andererseits will die Arche eine eigene Einrichtung aufbauen, in der sich Obdachlose auch tagsüber aufhalten können.

Derzeit gibt es nur eine Übergangsregelung, die Wohnungslosen Plätze bis zum 31. März dieses Jahres garantiert. In der Einrichtung, die Clemens im Visier hat, sollen wohnungslose Menschen von Sozialarbeitern betreut werden, Obdachlose aber auch helfen können. Möglichst soll es auch Kooperationen mit anderen Trägern und der Stadt geben. „Ich will, dass wir keine Konkurrenz sind, sondern dass wir uns vernetzen“, so Clemens.