Irina Gurskaia flüchtete nach Köln, als sie Todesdrohungen erhielt. Eine Geschichte zum Internationalen Tag der Menschenrechte.
„Unerträglich“Russin wurde gefoltert, weil sie Ukrainern half – In Köln soll sie nun ihren Kater abgeben
Es gibt Geschichten, in denen sich der ganze Irrsinn der Gegenwart spiegelt. Krieg und Propaganda, die Familien entzweit, unerbittliche Bürokratie, Hass und unermüdlicher Kampf um ein bisschen Menschlichkeit.
Irina Gurskaia ist in Russland gefoltert worden, weil sie Flüchtlingen aus der Ukraine geholfen hat, das Land zu verlassen. Ein Teil ihrer Familie hält sie deswegen für eine Vaterlandsverräterin. Sie musste selbst flüchten und ihre 96-jährige Mutter zurücklassen. Nun auch noch Markus, ihren achtjährigen weißen Kater, zu verlieren, weil die Stadt Köln die Sonderregelung für Geflüchtete aufhebt, Haustiere in Unterkünften zu halten, „das wäre unerträglich“, sagt sie.
Irina Gurskaia sitzt in ihrem knapp 15-Quadratmeter großen Zimmer mit Etagenbett und Schwimmbadspind in einer Flüchtlingsunterkunft am Bonner Wall, das sie mit ihren erwachsenen Zwillingstöchtern teilt, Kater Markus streift um ihre Beine. Sie zeigt ein Schreiben vom Gesundheitsamt, eine posttraumatische Belastungsstörung wird ihr darin bescheinigt. „Es ist eine große Tragödie“, sagt die Frau mit der sanften Stimme. Und meint damit so vieles.
Das Putin-Regime, das sie von Anfang an „für eine große Katastrophe“ gehalten habe, und den Krieg in der Ukraine. Dass sie nicht mehr mit ihrer geliebten Mutter sprechen kann, weil ein Teil der Familie sie für eine Verräterin hält. In ihrer Kölner Flüchtlingsunterkunft, in der die Wände so dünn sind, dass jeder Seufzer der Nachbarn zu hören ist, haben Ukrainer sie schon als „Russin“ beschimpft. Und jetzt ist da auch noch dieses Schreiben der Stadt Köln, in dem ihr gesagt wird, dass sie ihren Kater privat unterbringen müsse.
„Sie können eine Privatwohnung suchen, in dem das Halten ihres Haustieres erlaubt ist“, steht da geschrieben. „Sie können das Tier zu Freunden oder Verwandten in Pflege geben“, dritte Alternative, die keine Alternative ist: „Sie können sich an eine Organisation wenden, die Haustiere an neue Halter*innen oder Pflegestellen vermittelt.“
Jammern will Irina Gurskaia nicht. Die Frau, die mit jeder Regung Gutmütigkeit ausstrahlt, lernt Deutsch, sie hilft immer noch ukrainischen Flüchtlingen, die nach Russland deportiert wurden. Sie knüpft Kontakte zur ukrainischen Community in Köln. Die Flüchtlingshelferin, die selbst flüchten musste, lässt sich nicht brechen, obwohl sie gebrochen wurde.
Rund 800.000 der mehr als sechs Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlinge sind über einen Fluchtkorridor nach Russland gebracht worden. Im von Zäunen umgebenen Lager Leonidow nahe der Stadt Pensa strandeten 2500 Menschen aus Mariupol, jener Stadt, die von der russischen Armee wie keine zweite dem Erdboden gleichgemacht wurde. Als sie erfahren habe, dass es in dem Lager nahe ihrer Heimatstadt an fast allem fehlte – ärztlicher Versorgung, Medikamenten, Kleidern, Obst – sei es für sie selbstverständlich gewesen, zu helfen, erzählt sie.
Als Helferin schaffte sie es mit einigen Freunden, Zutritt zum Lager zu bekommen. Viele der Flüchtlinge, die über Wochen in Kellern von Mariupol gesessen hatten und fast verhungert wären, wollten unbedingt raus aus Russland. „Also haben wir angefangen, Geld zu sammeln.“ Die Solidarität unter versteckt regimekritischen Russen sei groß gewesen.
Irina Gurskaia wurde in ein verlassenes Waldstück gebracht, gefoltert und mit dem Tode bedroht
Nachdem ein erster Bus mit ukrainischen Flüchtlingen nach Estland aufgebrochen war, wurden die Freiwilligen über den Messenger-Dienst Telegram bedroht. Wenige Tage später beschmierten Unbekannte die Haustüren von Flüchtlingshelfern. „Ukrainische Nazi-Helferin“ stand in blau-gelben Lettern auf Irina Gurskaias Haustür.
Sie habe die Schmierereien der Polizei gemeldet. Beamte seien wenig später gekommen – sie hätten allerdings vor allem wissen wollen, was es mit den vielen Paketen auf sich habe, die ständig in ihre Wohnung gebracht wurden. „Sie fragten, ob ich mit Drogen handele oder Munition darin sei.“
Gurskaia wurde aufs Polizeirevier geladen und nach ihrer Hilfe für die Flüchtlinge gefragt. Nach der Vernehmung war es dunkel. „100 Meter neben der Wache sind zwei Männer mit Skimasken auf mich zugestürmt und haben mich in ein Auto gezerrt. Sie haben mir eine Mütze übergestülpt und mich im Auto festgehalten. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass ich meine Familie nie wiedersehen würde.“
Die Männer hielten in einem verlassenen Waldstück, drückten sie mit dem Gesicht auf den Boden und zündeten eine Leuchtrakete wenige Zentimeter neben ihrem Kopf an. „Sie haben geschrien, für wen ich arbeite. Wenn ich mein Telefon nicht entsperren würde, würden sie die Hunde auf mich hetzen.“ Sie entsperrte das Telefon, die Männer zapften ihre Daten ab und verbrannten ihren Pass. „Dann haben sie mich mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, so, dass es keine blauen Flecken gab. ‚Wenn Du nochmal Ukrainer über die Grenze bringst, begraben wir Dich hier bei lebendigem Leib‘, haben sie gesagt.“
Die Männer zogen sie an den Haaren ins Auto und schmissen sie kurz vor ihrer Haustür raus. Sie sollte sich erst umdrehen, wenn der Motor des Autos nicht mehr zu hören wäre. „Es war ein großer Schock, aber es war auch wie eine zweite Geburt“, sagt sie.
Sie wusste sofort, dass sie nicht weitermachen könne. Irina Gurskaia floh „nur mit einer vollgestopften Tüte in der Hand“ nach Moskau, Journalisten des Fernsehsenders „Arte“, die schon zuvor mit ihr in Pensa gedreht hatten, halfen ihr, ein humanitäres Visum für Deutschland zu beantragen. Auch die „Washington Post“ berichtete über sie. Markus, ihren Kater, hatte sie in Pensa vergessen – Freunde holten ihn ab, sie selbst wagte nicht mehr, zurückzukehren. Als klar war, dass der Geheimdienst sie nicht orten konnte, half sie noch von Moskau aus wieder den ukrainischen Flüchtlingen.
Ihre Freunde, sagt Irina Gurskaia, würden inzwischen wegen Landesverrats verfolgt. „Ein Mitstreiter aus Belogrod ist im Gefängnis gestorben. Er hatte auch Ukrainern geholfen, aus Russland zu fliehen“, sagt sie. Dass sie selbst gerade noch rechtzeitig fliehen konnte, „ist ein großes Glück“. An einen Neuanfang in Köln aber glaube sie erst, „wenn wir eine Wohnung finden – und unser Kater bei uns bleiben kann“.
Die Stadtverwaltung teilt auf Anfrage mit, dass „in jedem Einzelfall nach einer spezifischen Lösung gesucht wird, die auch die bisherigen Bemühungen der Bewohner*innen zur Lösung des Problems berücksichtigt“.