Köln – Viel hat es nicht mehr zu bieten, das Virus. Die Pandemie ist auf dem besten Weg, keine mehr zu sein. Deutschlandweit sinken die Fallzahlen, die Inzidenz geht zurück und liegt aktuell bei 6,6. In Köln ist der rückläufige Trend ebenfalls zu sehen, auch wenn die Inzidenz mit 8,5 zurzeit über der des Bundes liegt. Nicht verwunderlich also, dass in der Stadt ein Gefühl der „zurückgewonnenen Normalität“ umgeht, die Straßen voller und die Einhaltung der Corona-Regelungen lockerer gesehen werden. Doch der Schein trügt.
„Es wird nur möglich sein, zur Normalität zurückzukehren, wenn alle geimpft sind. Sonst wird es so weitergehen wie bisher“, sagt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Denn: Eine rasante Ausbreitung der Delta-Variante, die erstmals in Indien nachgewiesen wurde, bahnt sich inzwischen auch in Deutschland an.
Neuinfektionen mit Delta-Variante nehmen zu
15,1 Prozent der Neuinfektionen sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) aktuell auf diese Variante zurückzuführen. Die Tendenz ist steigend: Vor einer Woche wurde der Anteil zunächst mit 6,2 Prozent angegeben. Aufgrund von Nachmeldungen musste das RKI den Prozentanteil auf 7,9 Prozent korrigieren. Laut RKI ist es möglich, dass auch der Wert von 15,1 Prozent nachträglich nach oben korrigiert werden muss. Ohnehin erwarten Experten einen Anstieg: „Ich rechne mit vier bis sechs Wochen, bis die Delta-Variante eine kritische Größenordnung erreicht hat”, sagt Karl Lauterbach dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ gegenüber. Das bedeute, dass die Variante nicht nur in ihrem Anteil, „sondern auch in absoluten Zahlen rapide ansteigt, sodass auch die Gesamtzahl der Infektionen steigt“.
Laut RKI wurden in den vergangenen vier Wochen 1441 Infektionen mit der Delta-Variante registriert. Zuletzt stieg die Zahl auf 470 Ansteckungen pro Woche. In Köln wurden laut Gesundheitsamt bislang 29 Infektionen mit der Virusvariante entdeckt, davon elf in der vergangenen Woche. „Die Zahl der Erkrankten, bei denen wir eine Mutation der Delta-Variante feststellen, steigt auch in Köln – aber langsam”, sagt Johannes Nießen, Leiter der Behörde. Beim Großteil der Betroffenen „handelt es sich um Reiserückkehrer und deren Angehörige”, so Nießen. „In Köln haben wir die Variante bislang gut im Griff.“
Corona-Pandemie hätte anders aussehen können
Zu Beginn habe man unterschätzt, wie ansteckend Delta sei, meint Lauterbach: „Das stellt uns im Herbst vor eine ganz neue Herausforderung, doch es ist kein unlösbares Problem.“ Experten schätzen, dass die Virusvariante 40 bis 60 Prozent ansteckender ist als die zuerst in Großbritannien identifizierte Alpha-Variante. „Wäre die Delta-Variante der Wildtyp gewesen, hätten wir eine völlig andere Pandemie erlebt“, betont Lauterbach. Sie sei „um den Faktor zweieinhalb bis vier ansteckender als die Ursprungsvariante, das ist ein riesiger Unterschied.”
Doch in den neuen Daten stecken auch gute Nachrichten. So zeigen Untersuchungen aus England und Schottland, dass die Wirkung der Impfstoffe von Biontech und Astrazeneca gegen die Delta-Variante ähnlich gut wirken wie gegen die derzeit noch dominante Alpha-Variante, die erstmals in Großbritannien nachgewiesen wurde. Man habe das Escape-Potenzial des neuen Virustyps – also seine Fähigkeit, der Immunantwort zu entkommen – bislang eher überschätzt, meint Lauterbach. Vollständig geimpfte Menschen bleiben gut geschützt.
Erstimpfungen wirken schlechter gegen Delta-Variante
Der Haken: Erstimpfungen wirken gegen Delta deutlich schlechter als gegen andere Virusvarianten. „In Großbritannien hat man die Schutzwirkung der Erstimpfung bei der Delta-Variante überschätzt, diesen Fehler dürfen wir nicht machen“, fordert Lauterbach. Zwar sei die Entscheidung der Gesundheitsminister, zunächst „voll auf Erstimpfungen zu setzen“, richtig gewesen. Mit Blick auf das spezielle Verhalten der neuen Variante müsse man nun jedoch „konsequent von dem Vorgehen abrücken, zwölf Wochen bis zur zweiten Biontech-Impfung verstreichen zu lassen“.
Deutschland scheint auf eine Ausbreitung der Delta-Variante insgesamt vergleichsweise gut vorbereitet. So wurden in Großbritannien weitreichende Lockerungen bereits bei einer stabilen Sieben-Tage-Inzidenz von rund 25 beschlossen, bevor sich der neue Virustyp ausgebreitet hat und die Zahlen gestiegen sind. Mit einer stabilen Inzidenz von unter zehn hat Deutschland einen Vorsprung. Zudem stehen inzwischen eben mehr Daten zur Verfügung. Lauterbach sieht Deutschland „insofern privilegiert, als dass wir die Delta-Variante spät bekommen haben.” Seine Hoffnung: „Wir werden über die Runden kommen, denn wenn die Delta-Variante hier breit gestreut ist, werden sehr viele Menschen doppelt geimpft sein.“
Lieferung von rund 40 Millionen Biontech-Impfdosen
Das Impftempo jedoch lässt derzeit zu wünschen übrig. „Die Impfstoff-Lieferungen treten jetzt fünf Wochen lang auf der Stelle“, sagt Thomas Preis, Vorsitzender der Kölner Apotheken. Impfzentren, Arztpraxen und Betriebsärzte bekommen von den Herstellern Biontech und Pfizer laut Lieferankündigungen im dritten Quartal rund 40 Millionen Impfdosen, das sind etwa 20 Prozent weniger als im zweiten Quartal. Bei den Mitteln von Astrazeneca und Johnson & Johnson, die einen weit weniger großen Anteil der Impfungen ausmachen, ändert sich die erwartete Menge nur marginal.
Preis hält es sei dennoch für wahrscheinlich, dass das Ziel der Bundesregierung, allen Impfwilligen in Deutschland bis zum Ende des Sommers ein Impfangebot machen zu können, erreicht wird. „Ob die jüngste Ankündigung des Gesundheitsministers, dies möglicherweise schon Anfang August gewährleisten zu können, scheint angesichts fehlender konkreter Lieferzusagen aber nicht so sicher zu sein", so Preis weiter.
Lauterbach hält die Forderung, man müsse nun schneller impfen als bisher, für „absurd, denn es fehlt schlicht der Impfstoff“. Ein möglichst hohes Impftempo sei das Ziel aller Beteiligten: „Wir müssen so schnell impfen wie wir können, um den Effekt möglichst gut abzumildern.“ Doch „die Herdenimmunität mit über 80 Prozent der Erwachsenen werden wir nicht vor Mitte September erreichen“. Aus seiner Sicht war es ein politischer Fehler, sich zu sehr darauf konzentriert zu haben, den Impfstoff zu kaufen – und kaum „über den Zeitpunkt der Verfügbarkeit nachzudenken“. Das könne man nun allerdings nicht mehr ändern.
Delta-Variante beeinflusst weiteren Verlauf der Pandemie
Wie also wird sich die Delta-Variante auf den weiteren Verlauf der Pandemie auswirken? „Die vierte Welle wird auf jeden Fall kommen, das ist leider so“, sagt Lauterbach. Wer sich nicht impfen lasse, werde sich auf kurz oder lang unweigerlich mit dem Virus infizieren. Bei der Delta-Variante seien Ansteckungsfälle „beim Vorbeigehen“ bereits mehrfach nachgewiesen worden. „Der Anstieg wird spätestens dann kommen, wenn wir uns wieder mehr in Innenräumen aufhalten“, so Lauterbach. Wichtig sei dann weiterhin, dass nur Geimpfte, Genesene und Getestete hineingelassen werden. Denn „in dem Moment, wo man nicht testet, hat man möglicherweise Superspreader im Raum“, so Lauterbach. In zwei Jahren werde es hierzulande „nur noch zwei Gruppen geben: Menschen, die mit dem Virus infiziert waren und Menschen, die geimpft wurden“, sagt der Epidemiologe.
Durch die hohe Viruslast bei einer Infektion mit der Delta-Variante drohen Ungeimpften zudem schwere Verläufe. Lauterbach geht davon aus, dass ein Großteil dieser Gruppe noch verstehen werde, „wie schwer die Delta-Variante in vielen Fällen verläuft“. Dies werde im Herbst dazu führen, dass die Impfbereitschaft noch einmal zunimmt und die Impfkampagne einen Schub erhält.
Verhalten jedes Einzelnen wichtig
Dass die Delta-Variante das Infektionsgeschehen schon bald dominieren wird, hält auch Thomas Preis für unvermeidbar: „Delta wird die dominierende Variante.“ Entscheidend sei allerdings die Frage, ob die absoluten Zahlen steigen. Solange sich diese im niedrigen Bereich befinden, „können wir relativ entspannt bleiben. Klar ist aber, dass das Virus noch nicht überwunden ist.”
Das Kölner Gesundheitsamt behalte die Delta-Infektionen „besonders im Auge“, verspricht Johannes Nießen. Doch er betont, dass die die Ausbreitung der Delta-Variante „ auch sehr vom Verhalten jedes Einzelnen abhängt.“ Seine Botschaft: „Die Pandemie ist noch nicht vorbei.“