Indira Oberdiek spart an allen Ecken und Enden, sie ist Studentin mit Bafög und einem Job. Klagen will die 23-Jährige dennoch nicht.
Kölnerin verzichtet auf Vieles wegen Bafög„Die ständige Not ist sehr belastend. Das wünsche ich niemandem“
Wenn Indira Oberdiek einmal richtig über die Stränge schlagen will, dann kauft sie sich Farben und Pinsel und tüncht großflächig. „Luxusartikel“ nennt sie das. In ihrer Kostenaufstellung stehen derlei Überflüssigkeiten neben Kosmetik, Pflanzen, Büchern und Spielen. Letzter Posten, Kategorie „muss ja nicht sein“. Einkalkuliertes Budget: 30 Euro.
Was man dafür kriegt: Planeten. Pilze, grüne Landschaft, ein feuriger Sonnenuntergang. Zwei mal ein Meter groß prangt das Gemälde in der geräumigen Wohnküche in Köln-Mülheim. Die Stühle alle zusammen für fünf Euro von Ebay, die Couch geschenkt, Paprika, Kohlrabi und Pampelmuse im Regal, zwischendurch auch schon mal vom Fairteiler an der Ecke, wo man sich umsonst Lebensmittel aus Kisten holen kann, die andere sonst weggeworfen hätten.
Zwischen Basilikum und Petersilie schleicht Nando über das Fensterbrett. Ein Sprung, ein Schnurren, dann Mittags-Napping auf Indiras Schoß. „Wir sind nur die Katzensitter. Nando und Julie gehören den Eltern meines Mitbewohners. Die bezahlen auch Futter und Tierarzt. Wir könnten uns das gar nicht leisten“, sagt die Studentin und streicht der Siamkatze lächelnd über das grau-braune Fell.
Indira Oberdiek, 23 Jahre, grün gefärbte Haare, eine Vorliebe für das Kochen afrikanischen Essens und Spieleabende, studiert Soziale Arbeit im siebten Semester. Sie wohnt mit zwei Freunden in einer WG in Köln-Mülheim. Um ihr Leben zu finanzieren, puzzelt sie verschiedene Geldquellen zusammen: Bafög, eine Honorartätigkeit als Seminarleiterin im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes, manchmal geht sie Blut spenden. „Beim ersten Mal gibt es nur einen Gutschein, ab dem zweiten Mal kriegt man zwanzig Euro.“
Manchmal muss Indira auch ihr Sparkonto anzapfen. Zum Beispiel jetzt. Im Juli habe sie den neuen Bafög-Antrag gestellt, seit August hat sie keine Zahlung mehr erhalten. Nun kam die Nachricht, es würde eine Bescheinigung fehlen. „Ich muss beweisen, dass meine Arbeit als Übungsleiterpauschale gilt. Muss ich zum ersten Mal. Wurde jahrelang einfach so anerkannt.“
Wer Bafög bezieht, darf nicht mehr als 1454 Euro im Monat haben
Oberdiek wird die Bescheinigung beibringen, sie ist bares Geld wert. Denn: Wer in Deutschland Bafög bezieht, darf eigentlich nicht mehr als 1454 Euro im Monat zur Verfügung haben. 934 Euro beträgt der Bafög-Höchstsatz, zu diesem darf ein Student höchstens 520 Euro im Monat hinzuverdienen. Erwirtschaftet er mehr, sinkt die Geldsumme vom Amt. Wenn Oberdiek aber den Nachweis erbringen kann, dass ihre Arbeit gemeinnützigen Zwecken dient, bleiben 3000 Euro Verdienst im Jahr unberücksichtigt. In Oberdieks Rechnung bedeutet das hundert Monate Luxusartikel.
Mehr als 50 Jahre lang ist die Geschichte des Bundesausbildungsgesetzes. Schon vorher konnten Studierende mit besonders guten Leistungen gefördert werden, erst seit 1971 gibt es aber einen Rechtsanspruch. Abhängig ist die Zahlung seither nicht mehr von den Leistungen der Studierenden, sondern vom Einkommen der Eltern. In den 70er Jahren gelang dem Bafög ein Höhenflug, fast die Hälfte aller Studierenden erhielt die Förderung. Seither geht es fast kontinuierlich bergab. Heute profitiert nur noch rund jeder Zehnte.
In Nordrhein-Westfalen wurde es im vergangenen Jahr an 150.198 junge Frauen und Männer ausgezahlt. Das sind gut ein Prozent mehr als im Jahr zuvor, aber fast ein Drittel weniger als vor zehn Jahren, als noch mehr als 216.000 Studenten und Schüler die Förderung bezogen. Etwa die Hälfte des Geldes wird als zinsloses Darlehen gewährt und muss bis zum Höchstsatz von 10.000 Euro vom Studierenden nach dem Abschluss zurückbezahlt werden. Gerade dieser Punkt, aber auch der bürokratische Aufwand, der vor einem Geldeingang gestemmt werden muss, steht seit einigen Jahren in der Kritik. Denn: Studien belegen, dass immer weniger Studierende Bafög beantragen, weil sie sich vor einer Verschuldung fürchten.
Indiras Monatsrechnung
- Miete, Strom, Wasser, Internet: 460 Euro
- Handy, Konto, Mail: 19 Euro
- Versicherungen: 128 Euro
- Semesterbeitrag: 55 Euro
- Essen: 340 Euro
- Klamotten: 50 Euro
- Gesundheit: 50 Euro
- Bahntickets: 100 Euro
- Streaming: 14 Euro
- Sport: 60 Euro
- Essen gehen: 30 Euro
- Urlaub: 100 Euro
- Luxusartikel wie Kosmetik, Bücher, Spiele, Hobbybudget: 30 Euro
Die Bundesregierung nahm die sinkenden Bedarfszahlen nun sogar zum Anlass, im Haushalt des kommenden Jahres 650 Millionen Euro weniger für die Unterstützung Studierender bereitzustellen. Dabei ist die Zahl derer, die eine Hilfe nötig hätten, nicht etwa gesunken. Laut einer Auswertung des Paritätischen Verbands waren 2020 knapp 30 Prozent der Studierenden von Armut betroffen. Bei Bafög-Beziehern liegt die Quote gar noch höher: Etwa 45 Prozent von ihnen haben im Monat weniger als 1250 Euro zur Verfügung und gelten als armutsgefährdet. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil der Menschen in Armut bei 16,6 Prozent.
Das liegt auch daran, dass die Bafög-Sätze nicht die individuellen Lebenshaltungskosten abdecken. Der Wohnkostenzuschlag, der für den Bafög-Höchstsatz zugrunde gelegt wird, liegt beispielsweise bei 360 Euro im Monat. In Städten mit hohen Mietkosten wie in Köln reicht das oft hinten und vorne nicht. Indira Oberdiek zahlt für ihr WG-Zimmer in Mülheim zum Beispiel 460 Euro inklusive Strom und Gas. „Und da bin ich schon total happy, dass ich sowas Günstiges gefunden habe.“
Bildungsökonom: 40 Prozent der Anspruchsberechtigten beantragen kein Bafög
Dass der Bafög-Mietanteil mit den Mietsteigerungen nicht Schritt hält, führt dazu, dass immer mehr Studierende bei ihren Eltern wohnen bleiben. „Wir haben die Situation, dass in Großstädten gerade bei Neuverträgen die Mieten im unteren Einkommensbereich dramatisch steigen“, sagt Bildungsökonom Dieter Dohmen, Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie. Dies treffe gerade Studenten und junge Menschen, die von zu Hause ausziehen wollen, besonders hart. Dazu komme, dass mehr als 40 Prozent aller Anspruchsberechtigten gar kein Bafög beantragten. „Viele wollen sich nicht verschulden. Andere wissen zum Teil gar nicht, dass es Bafög gibt“, sagt Dohmen.
Dohmen fordert eine Vereinfachung der Anträge, aber auch eine nochmalige Erhöhung der Einkommensfreibeträge und Bedarfssätze. „Die Regierung hat hier zwar schon reagiert, gemessen an der Inflation ist das aber immer noch zu wenig.“ In die Politik setzt er gut 50 Jahre nach Einführung des bildungspolitischen Instruments nur noch bedingt Hoffnung. „Gerade bei den Vorgängerregierungen gab es kein Interesse, das Bafög auszubauen.“ Von der Ampelregierung habe es nun zwar Absichtserklärungen gegeben. Allerdings komme man nicht in die Umsetzung. Ein Grund: Öffentliches Geld sei nach Corona, dem Angriffskrieg auf die Ukraine und dem Flüchtlingszustrom knapp bemessen.
In die Bresche springen könnte nach Dohmens Vorstellungen ein privatwirtschaftlicher Bildungsinvestitionsfonds. „Da zahlen dann Stiftungen, Lebensversicherer, Pensionsfonds, Kapitalgesellschaften, Privatpersonen und Rentenversicherer ein und stellen das Geld öffentlichen Institutionen zur Finanzierung von Bildungsinvestitionen zur Verfügung.“ Gesamtwirtschaftlich könnte die Rechnung aufgehen, da höher gebildete Menschen weniger häufig auf Arbeitslosen- oder Bürgergeld angewiesen seien und zudem höhere Steuern und Sozialabgaben erwirtschafteten. Die Ausgaben seien so refinanzierbar und könnten an den Fonds zurückfließen. Der Weg zu einem solchen Instrument werde aber steinig, das weiß auch Dohmen. „Der Staat mit seiner quasi verriegelnden Gesetzgebung verhindert derlei Innovationen eher, als dass er sie fördert.“ Erstmal also Zukunftsmusik.
„How I wanna live…“ steht handschriftlich und von einer Wolke umrahmt auf einem Zettel an Indira Oberdieks Zimmertür. Daneben: „What am I capable of?“, „Growth, Growth, Growth“ und dazwischen ein Zettel mit den Blutspendenzeiten. Dass das Geld knapp ist, sagt sie, dieser Zustand begleite sie schon ihr Leben lang. Aufgewachsen ist sie zusammen mit einer neun Jahre älteren Schwester bei ihrer alleinerziehenden und arbeitslosen Mutter im Harz. „Wenn ich ins Kino wollte, dann musste ich vorher arbeiten und sparen. Das war nicht wie bei Freunden, die einfach zu ihren Eltern gegangen sind und dann gab es 20 Euro in die Hand.“ Gleich nach dem Abitur ist sie noch mit 18 Jahren nach Münster gezogen, um dort ihr Freiwilliges Soziales Jahr zu absolvieren. „Mit dem FSJ-Gehalt plus Kindergeld war es richtig hart, über die Runden zu kommen. Es war eigentlich nie klar, ob das klappt. Verglichen damit lebe ich heute im Luxus“, sagt sie.
Durch Sparsamkeit hat sie es geschafft, schmale Rücklagen zu bilden. „Ich will nie wieder, dass mich eine kaputte Waschmaschine, ein Umzug, oder ein streikender Laptop komplett ins Unglück stürzen kann. Diese Ungewissheit hat mich sehr gestresst.“ Jeden Euro, den sie entbehren kann, legt sie zur Seite. Ihre Spartipps: Klamotten grundsätzlich Secondhand, Urlaub immer in Gruppen, vorzugsweise auf dem Campingplatz, teure Lebensmittel wie Brotaufstriche, Sirup oder Eistee selbst herstellen, bei Produkten, die nicht hochwertig sein müssen wie Nudeln, Mehl oder Toilettenpapier konsequent die günstigste Variante wählen, alles verwerten, nichts wegschmeißen, bei größeren Anschaffungen grundsätzlich auf Rabattaktionen warten. „Fast immer kann man den Kauf auch nochmal ein paar Monate hinauszögern, die Winterjacke zum Beispiel noch eine Saison länger tragen.“
Geldknappheit ist purer Stress
Wer Indira Oberdiek fragt, ob sie nicht stolz sei, so gut mit Geld umgehen zu können, der erntet Zurückhaltung. Ihre dunklen Augen heften sich an Nandus Fell, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hat. „Natürlich ist es gut, dass ich die Kompetenz habe, mit Geld umzugehen. Aber die ständige Not, der ständige Stress, die die Geldknappheit hervorruft, ist eben auch sehr belastend. Das wünsche ich niemandem.“
Und in der Hauptsache, das vergisst man leicht, wenn man bei Oberdiek sitzt und über noch verwendbare Runzelpaprika oder die gute Pflege von Winterschuhen spricht, ist da ja noch das Studium. 35 Stunden die Woche, schätzt Oberdiek, wendet sie für die Erlangung ihres Abschlusses auf. In Wochen, in welchen sie für Geld Seminare leitet, kann sie nicht an Vorlesungen teilnehmen. Dann heißt es nacharbeiten. „Gott sei Dank habe ich die glückliche Voraussetzung, dass mir das Lernen und Schreiben von Hausarbeiten leicht fällt. Sonst würde ich das vielleicht gar nicht schaffen.“
Manchmal, wenn sie an ihrem Schreibtisch sitzt und hinunter auf Hinterhofgärten blickt, dann überlegt sie, ob sie nicht vielleicht nach ihrem Abschluss noch Biochemie studieren könnte. Das Interesse ist da. „Es wäre ein Zweitstudium, ich müsste es mir also komplett selbst finanzieren“, sagt Oberdiek. Man könnte das Träumerei nennen, Übermut sogar. Aber irgendetwas in Indira Oberdieks fröhlichen Augen sagt auch: Das muss ja wohl zu schaffen sein! Und: Warum eigentlich nicht?