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Kindesmissbrauch in Bergisch GladbachAnklage gegen Jörg L. offenbart tiefe Abgründe

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Ein Bild aus früheren Ermittlungstagen: Die Kölner Polizei streamt ihre Pressekonferenz zum Missbrauchsfall.

  1. In Bergisch Gladbach wurde 2019 einer der größten deutschen Missbrauchsskandale der letzten Jahrzehnte aufgedeckt.
  2. In der nun vorgelegten Anklage gegen Jörg L. werden erschreckende menschliche Abgründe sichtbar.
  3. Er ist eine der Schlüsselfiguren des Netzwerks. Sein Umfeld? Die „Mitte der Gesellschaft“.
  4. Hinweis: Der Text enthält Details zum Verhalten des Missbrauchenden, die für einige Leserinnen und Leser zu drastisch sein können.

Köln – Die Vorbereitungen für ihr heimliches Treffen waren weit gediehen, Jörg L. (43) hatte sogar schon Reizwäsche in Kindergröße besorgt. Auch für Sexspielzeug sei gesorgt gewesen. So hat es die Polizei später anhand eines Chatverlaufs des Messengerdienstes Threema ermittelt. In der Wohnung seines Chatkumpels Bastian S. wollten sich die beiden Männer demnach treffen, am 3. November 2019 – Bastian S. hätte an dem Tag seine drei Jahre alte Nichte zu Besuch gehabt, Jörg L. habe seine zweijährige Tochter mitbringen wollen.

Der weitere Plan der Männer, so fasst es die Staatsanwaltschaft nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in ihrer Anklage zusammen, sei es gewesen, die Kleinkinder mit Medikamenten oder Alkohol zu betäuben, Schokolikör zum Beispiel, um sie dann sexuell zu missbrauchen. Von ihren Taten hätten Jörg L. und Bastian S. Fotos machen und die Bilder an gleichgesinnte Chatpartner verschicken wollen. Aber dazu kam es nicht mehr.

Am 21. Oktober 2019 durchsuchte die Polizei – durch einen Hinweis aus einem anderen Verfahren längst aufmerksam geworden auf den 43-Jährigen – das Haus in Bergisch Gladbach, in dem L. mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter lebte. Die Beamten stellten unter anderem sein Handy sicher und sollen darauf kinderpornografische Bilder und Videos gefunden haben, unter anderem auch eben jenen Chat mit der Verabredung zum Missbrauch am 3. November.

Tags darauf erließ das Amtsgericht Köln Haftbefehl gegen Jörg L., seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Der Prozess gegen den gelernten Koch und Hotelfachmann soll im Juli vor dem Kölner Landgericht beginnen. Bastian S. wurde kürzlich in Moers wegen Kindesmissbrauchs zu zehn Jahren Haft verurteilt und in die Psychiatrie eingewiesen.

Missbrauchsskandal: Jörg L. ist eine Schlüsselfigur

Der 43-jährige Jörg L. gilt als eine der Schlüsselfiguren in einem der größten deutschen Kindesmissbrauchsverfahren der vergangenen Jahrzehnte. Die Ermittlungen der „Besonderen Aufbauorganisation (BAO ) Berg“ unter Federführung der Staatsanwaltschaft und der Polizei Köln laufen seit mehr als einem halben Jahr, ein Ende ist nicht absehbar. Bundesweit gibt es bislang mehr als 70 Tatverdächtige und 44 Opfer. Das jüngste ist drei Monate alt, das älteste 14 Jahre.

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Die Staatsanwaltschaft wirft Jörg L. fast 80 Taten vor, unter anderem mehrere Fälle schweren sexuellen Missbrauchs an der eigenen Tochter sowie an anderen Kindern. Viele Taten soll er gefilmt und über das Handy weiterverbreitet haben. Seine Frau – auch das stellten die Ermittler fest – sei bis zum Tag der Hausdurchsuchung komplett ahnungslos gewesen. Der Verteidiger von Jörg L. ließ eine Anfrage dieser Zeitung unbeantwortet.

Als erwiesen sieht es die Staatsanwaltschaft zum Beispiel an, dass Jörg L. und sein Kumpel Bastian S. sich mit ihren beiden Töchtern im Januar 2019 für drei Stunden in eine Privatsuite in einer Wellnesslandschaft im Ruhrgebiet eingemietet haben. Dort sollen sich die Männer gegenseitig befriedigt und anschließend ihre Kinder missbraucht haben.

L. ging zielstrebig und strategisch vor

Beiläufig oder zufällig ist die Mehrzahl der Taten nach den Erkenntnissen der Ermittler wohl nicht geschehen, vielmehr ist die Staatsanwaltschaft davon überzeugt, dass L. insgesamt zielstrebig und strategisch vorgegangen ist. Ihr Wissen ziehen die Fahnder vor allem aus Chats, in denen L. sich Gleichgesinnten gegenüber in teils erstaunlicher Offenheit präsentiert haben soll. In seinen Vernehmungen hingegen soll er weniger gesprächig gewesen sein und sich bislang nicht zu den Vorwürfen eingelassen haben.

Im Zuge ihrer Recherchen gewannen die Ermittler den Eindruck, dass der 43-Jährige seine Tochter so erziehen wollte, dass sie sexuelle Handlungen an ihm zunehmend freiwillig vornehmen sollte. Das Kind, so der Plan, sollte wohl so aufwachsen, dass es den Missbrauch durch den eigenen Vater und dessen Freunde als normal wahrnahm.

Ein Täter aus der „Mitte der Gesellschaft“

Und noch etwas hat die Ermittler nach eigenen Aussagen in diesem Verfahren entsetzt: die Gewissheit, dass Kindesmissbrauch offenbar „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ ist, wie es BAO-Leiter Michael Esser ausdrückt. „Diesen Umfang, die Ausprägung und die Intensität hätten wir am Anfang nicht erwartet“, ergänzt Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer.

Auch Jörg L. lebte bis zu seiner Verhaftung in einem Umfeld, das man getrost als „Mitte der Gesellschaft“ bezeichnen kann: zwei abgeschlossene Berufsausbildungen, ein ordentlich bezahlter Pförtnerjob im Krankenhaus, dazu noch ein 450-Euro-Job, ein Haus, eine Ehefrau, eine Tochter, keine Vorstrafen. Wen die Ermittler im Nachhinein in seinem Freundes- oder Verwandtenkreis auch befragten – fast alle bescheinigten L., ein aufopferungsvoller, liebender Vater zu sein. Selbst die eigene Frau soll er erfolgreich über seine sexuellen Neigungen getäuscht haben, über die mutmaßlich begangenen Missbrauchstaten sowieso.

Konspirativ und berechnend soll er sein Handeln vor seiner Frau verborgen haben, notieren die Ermittler. Anhand der Zeitstempel auf Fotos und Videos in seinem Handy können sie in vielen Fällen präzise nachvollziehen, wann L. die Taten an seiner Tochter mutmaßlich begangen hat – fast immer am frühen Vormittag. Er selbst war da oft gerade von der Nachtschicht zurückgekehrt, seine Frau kurz darauf zur Frühschicht aufgebrochen. Bevor er das Mädchen in die Kita brachte, soll er sich an ihm vergangen haben, in der letzten Zeit vor seiner Verhaftung nahezu täglich. In einigen Fällen soll er auch Gewalt angewandt haben, um das Kind gefügig zu machen. Manchmal soll es dabei geweint und nach seiner Mutter gerufen haben.

Männer inszenierten Familien-Treffen

Die Sorge, seine Tochter könne sich eines Tages jemandem anvertrauen, trieb L. durchaus um, glauben die Ermittler. Auch aus diesem Grund habe er das Mädchen früh an den Missbrauch gewöhnen wollen, habe ihm aber auch zusätzlich eingeschärft, niemandem etwas zu erzählen. Um die Treffen mit seinem Kumpel Bastian S. und den beiden Töchtern unauffällig vorzubereiten, sollen die Männer vorab auch ein Treffen beider Familien initiiert haben, bei dem die ahnungslosen Ehefrauen mit am Tisch gesessen haben sollen. Wenn seine Frau Wind von seinen Taten bekäme, soll L. einem Chatpartner einmal sinngemäß offenbart haben, würde sie ihn umbringen.

Konspirativ soll L. auch bei der Speicherung von Filmen, Fotos und Chatprotokollen auf seinem Handy vorgegangen sein, jedenfalls teilweise. Einerseits legte er brisante Dateien angeblich in besonders gesicherten Ordnern ab. Andererseits wiederum benötigten die Fahnder nur wenige Versuche, um sein Passwort für die Messengerdienste Threema und Telegram zu knacken: Es war das Geburtsdatum seiner Tochter.

Bei ihren Recherchen stießen die Ermittler auf Hinweise, wonach Jörg L. als Jugendlicher selbst missbraucht worden sein könnte, von einem Nachbarsjungen. Er wiederum habe mutmaßlich schon als Teenager Nachbarskinder und eine jüngere Verwandte sexuell missbraucht. In den vergangenen Jahren soll er Kinderpornografie konsumiert und mit anderen über das Internet getauscht haben. Einem Chatpartner soll Jörg L. anvertraut haben, bereits vor der Geburt seiner Tochter mit dem Gedanken gespielt zu haben, auch sein eigenes Kind später einmal missbrauchen zu wollen.

Wie viele Tage für den Prozess gegen den Bergisch-Gladbacher voraussichtlich benötigt werden, steht noch nicht fest. Den Ermittlern gegenüber soll er seine Bereitschaft bekundet haben, bei der Identifizierung weiterer Tatverdächtiger behilflich sein zu wollen. In Briefen aus der U-Haft an seine Frau soll L. geschildert haben, wie leid ihm alles tue. Im Falle einer Verurteilung drohen dem 43-Jährigen mehrere Jahre Gefängnis. Auch Sicherungsverwahrung steht ihm Raum.