Schwarzgeld und Steuerbetrug: Die vier Angeklagten, die für Amazon und Hermes die Logistik übernahmen, haben Millionen-Umsätze verschleiert.
Amazon-Subunternehmer vor GerichtAngeklagte gehören zum Kreis um den „Kalifen von Köln“, Metin Kaplan
Justizwachtmeister führen den Untersuchungshäftling nach oben in den Saal 210 des Kölner Landgerichts. Harun A. begibt sich zu seinem Anklageplatz, der weißhaarige Mann geht leicht nach vorne gebeugt. Bisher hat die Öffentlichkeit kaum Notiz von dem Strafprozess rund um den 51-jährigen Deutschen türkischer Abstammung genommen.
Dabei verhandelt die 6. Große Strafkammer ein höchst brisantes Verfahren: Zum einen gibt die Hauptverhandlung Einblicke in mutmaßlich kriminelle Abläufe des Lieferwesens beim Online-Händler Amazon und dem Paketdienst Hermes. Andererseits zählte ein Teil der insgesamt vier Angeklagten nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zum engen Kreis rund um den so genannten Kalifen von Köln, Metin Kaplan.
Der inhaftierte Harun A. wurde vor 22 Jahren im Terror-Prozess gegen den „Kalifen“ freigesprochen. Später geriet A. in den Verdacht, einen Sprengstoffanschlag geplant zu haben, wurde jedoch entlastet. Aktuell aber, ließ die Vorsitzende Richterin an einem Verhandlungstag im vergangenen Dezember durchblicken, drohen Harun A. sechs Jahre Haft. „Natürlich nur bei entsprechender Schadenwiedergutmachung.“
Scheinrechnungen verschleiern Schwarzgeld
Die Vorwürfe gegen die Männer wiegen schwer. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, über drei Firmen ihre Paketboten überwiegend schwarz bezahlt zu haben. So sollen Harun A. und die Mitangeklagten zwischen 2018 und Januar 2023 in 1000 Fällen keine Sozialabgaben für die Mitarbeiter abgeführt haben. Auch sollen sie Steuern hinterzogen haben. Insgesamt bezifferten die Ankläger den Schaden auf knapp 17 Millionen Euro.
Das komplexe Wirtschaftsstrafverfahren führt in die Untiefen der Online-Paketbranche. Der Anklage zufolge sollen Harun A. und seine Geschäftspartner Ayhan T. und Turgay C. die Zusteller über die Logistik-Gesellschaften AYL in Frechen und AHT und Etnoma in Köln bar entlohnt haben. Zudem hatten sie Servicefirmen eingerichtet, über die sie mittels Scheinrechnungen den Schwarzgeldfluss verschleiert haben sollen. Der Staatsanwaltschaft zufolge wurden Kurierfahrten abgerechnet, die nie stattfanden. Auch kassierte man demnach illegal Umsatzsteuerbeträge. Man geht davon aus, dass Millionengewinne angefallen sind, die etwa der mutmaßliche Hauptakteur Harun A. verschwiegen haben soll. Zwischen 2016 und 2022 reichte er wohl keine Steuererklärung ein.
Angeklagter soll Hauptansprechpartner für Amazon gewesen sein
Die AYL GmbH fuhr jahrelang als großer Subunternehmer für etliche Amazon-Verteilzentren in Rheinland-Pfalz und NRW die Pakete aus. Im Hintergrund soll Harun A. die Fäden gezogen haben. Die Akten besagen: Obschon ohne offizielle Funktion managte A. die Bankgeschäfte, die Lohnbuchhaltung, legte die illegalen Vergütungstarife fest und fungierte als Hauptansprechpartner für Amazon. Meist sollen die Zusteller offiziell als Mini-Jobber angestellt gewesen sein, der restliche Lohn wurde unter der Hand bezahlt. Auf diese Weise konnten die Paketboten zusätzlich als Aufstocker Sozialleistungen beziehen.
Ein ähnliches System wurde laut Anklage mit der AHT GmbH (150 Autos, 170 Fahrer) aufgebaut. Beinahe im gesamten Kölner Raum will die Gesellschaft die Auslieferung für den Paketdienst Hermes übernommen haben. Hier spielte der Mitangeklagte Turgay C. eine wichtige Rolle. Der Schwiegersohn des türkischen Hasspredigers Metin Kaplan wurde in einem Staatsschutzprozess vor fast elf Jahren zu drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Damals hatte er eine Terror-Gruppe in Afghanistan mit 50.000 Euro unterstützt. Nun sitzt Turgay C. erneut vor einem Strafgericht wegen diverser Wirtschaftsdelikte im Logistikwesen.
Strafverteidiger macht Amazon Vorwürfe, der Versandriese widerspricht
Professor Klaus Bernsmann, einer der Strafverteidiger in dem Verfahren, wirft der Staatsanwaltschaft vor, die Schadensumme falsch berechnet zu haben. Zudem vertrat der Anwalt bereits zu Prozessbeginn die Auffassung, dass die falschen Personen vor Gericht säßen. „Eigentlich müsste hier Amazon angeklagt werden.“ Tatsächlich sei die Transportfirma AYL GmbH seines Mandanten, so der Tenor, ein ausgegliedertes Unternehmen des Online-Giganten. Amazon zahle weltweit Niedriglöhne, erklärte der Verteidiger. Subunternehmen wie die AYL „unterliegen der gleichen straffen Führung“ wie die weltweit operierenden Töchter des US-Konzerns, so sein Fazit.
Ein Amazon-Sprecher widersprach der Darstellung: „Die Zusammenarbeit mit dem betreffenden Lieferpartner haben wir im Juli 2022 beendet.“ Der Konzern überprüfe seine Lieferpartner regelmäßig, „um sicherzustellen, dass sie die geltenden Gesetze und unsere Richtlinien einhalten“, hieß es. „Bei wesentlichen Vertragsverletzungen oder Hinweisen auf illegale Handlungen beenden wir – wie in diesem Fall – die Zusammenarbeit mit dem Partner.“
Seit Jahren kritisieren Gewerkschaften ausbeuterische Strukturen zulasten von Paketboten in der Transportsparte. Bei Amazon oder Hermes werden die Kuriere nicht angestellt, sondern arbeiten für Subunternehmen, die auch die Transporter stellen. Ferner legt der Internet-Versandhändler laut der Recherche-Plattform Correctiv einseitig die Preise für die Lieferfirmen fest. Zehn Cent fließen demnach pro Paket, wenn die Lieferwagen das Amazon-Logo tragen, nur die Hälfte, wenn nicht. Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit kommen häufig vor in einer Branche, in der von oben nach unten der Wettbewerb die Preise diktiert. Das gelte laut der Gewerkschaft Verdi für Amazon genauso wie für Hermes und DPD.
Amazon weist die Vorwürfe zurück. Die Lieferpartner seien überwiegend äußerst zuverlässig. Transportfirmen müssten Programmvereinbarungen unterschreiben und sich laut dem Konzern-Sprecher an die geltenden Gesetze halten - „insbesondere in Bezug auf faire Löhne und angemessene Arbeitszeiten“. Amazon vergüte seine Lieferpartner entsprechend, damit diese ihre Mitarbeiter „gut bezahlen können.“
Im Kölner Fall um Harun A. scheinen Tarif- oder Mindestlohnzahlungen ein Fremdwort gewesen zu sein. Jahrelang lief das mutmaßliche Schwarzgeld-Karussell, ein Teil der Millionengewinne sollen die Angeklagten in die Türkei transferiert haben. Da die Behörden dort nur selten Rechtshilfeersuchen beantworten, kennen die Kölner Strafverfolger die Empfänger bis heute nicht.
Somit bleibt unklar, ob etwa der Chef der islamistischen Splittergruppe Kalifatstaat in der Türkei zu den Nutznießern zählte. Metin Kaplan galt Ende der 90er Jahren in Deutschland als Staatsfeind Nummer 1, ehe er in einem Terrorprozess wegen eines vollstreckten Mordaufrufes gegen einen Rivalen zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. 2004 schoben die deutschen Behörden Kaplan in die Türkei ab. Dort saß er zwölf Jahre lang im Gefängnis, weil er einen Terroranschlag in seiner Heimat befohlen haben soll. Ein Berufungsgericht sprach ihn 2016 von allen Vorwürfen frei. Seither agitiert der Islamistenführer wieder über einen eigenen Videokanal.