In acht von 194 ungelösten Kapitalverbrechen in Köln waren Babys die Opfer. Sie wurden ausgesetzt oder weggeworfen von ihren Eltern.
Cold Cases KölnWenn Eltern ihre Babys töten
August 2018: Um 8.30 Uhr ertönt das hausinterne Signal des „Moses“-Babyfensters im Haus Adelheid in Bilderstöckchen. Eine Mitarbeiterin findet ein Mädchen auf dem Wärmebettchen, es ist tot. Wie und woran es genau gestorben ist, steht bis heute nicht fest.
März 2006: In einem Waldstück am Neurather Weg in Mülheim stößt ein Hund auf eine Plastiktüte mit kyrillischen Schriftzeichen und der Aufschrift „Planet Hollywood“. Die Dogge bellt, ihre Besitzerin wirft einen Blick in die Tüte, darin steckt ein unbekleideter Neugeborener, eingewickelt in eine blaue Herrenjacke. Die Leiche ist halb verwest.
Dezember 2003: In Eckenhagen bei Gummersbach, eine knappe Autostunde von Köln entfernt, will die 68 Jahre alte Maria H. um 21.15 Uhr noch einmal nach ihrer Nachbarin schauen. Else M. ist 98 Jahre alt, bettlägerig, und lebt allein in einem alten Bauernhaus im Ortskern. Die Temperatur bewegt sich nahe am Gefrierpunkt.
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Vor der Haustür liegt „ein Bündel“, wie Maria H. später berichten wird. Es ist ein Baby, nur laienhaft abgenabelt, eingepackt in einen dünnen, alten Schlafsack. Aber es lebt. „Es hat mich angeschaut, aber es hat nicht geweint, es war ganz still“, sagt Maria H. Sie nimmt es mit ins Haus, legt es neben der Heizung ab und ruft den Rettungsdienst. Dann setzt der schwache Organismus aus. Der Notarzt kann den Jungen zwar noch wiederbeleben, aber zweieinhalb Stunden später stirbt er im Krankenhaus an Unterkühlung.
Serie Cold Cases
194 Tötungsdelikte von 1974 bis heute sind in Köln ungeklärt. In acht Fällen sind die Opfer Säuglinge, darunter auch die Babys in Köln und Eckenhagen. Wissenschaftler sprechen von „Neonatizid“, wenn Mütter oder – seltener – Väter ihr Neugeborenes innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt gewaltsam töten. Oder sterben lassen, indem sie es nicht versorgen.
Einer Studie des Landeskriminalamts NRW zufolge haben die meisten Mütter ihre Schwangerschaft zuvor verdrängt und vor Freunden und Angehörigen verheimlicht. In manchen Fällen ist das Kind durch eine Vergewaltigung entstanden, in anderen haben Mütter es getötet, weil sie Konsequenzen innerhalb der Familie fürchteten oder sich aus anderen Gründen überfordert fühlten.
Kindsmorde sind auch für Polizisten eine besondere Herausforderung
Fest steht: Viele betroffene Frauen befinden sich in einer psychischen Ausnahmesituation. Die Polizei sucht dann nicht nur eine Täterin, sondern auch eine Frau, die dringend Hilfe benötigt.
Die Ermittlungen treffen meist auch erfahrene Kripobeamtinnen und -beamte mitten ins Herz. „Es ist definitiv etwas anderes, auch bei der Obduktion, ob da ein Kind liegt oder ein Erwachsener“, sagt Markus Weber, der bei der Polizei Köln die Abteilung für „Cold Cases“ leitet. Werde eine Kinderleiche gefunden, frage man vorher alle im Team, ob sie sich die Ermittlung zutrauten, „insbesondere wenn unter den Kollegen junge Mütter oder Väter sind“.
Manche lehnten dann ab. „Aber selbst bei Kollegen, die sagen, sie schaffen das, ist es nicht ausgeschlossen, dass es eine besondere Belastung für sie darstellt.“ Und manchmal machten sich Probleme auch erst im Nachhinein bemerkbar.
Das Drama um den toten Säugling von Eckenhagen kurz vor Weihnachten 2003 erschüttert den gesamten Ort. Drei Tage später bittet der Landrat die umliegenden Krankenhäuser, die Einrichtung einer „Babyklappe“ zu prüfen, um Frauen in Extremsituationen die Möglichkeit zu bieten, ihr Neugeborenes anonym in Obhut zu geben. Neun Monate später ist es so weit: Das Krankenhaus Gummersbach weiht ein „Babyfenster“ ein.
Mutter des toten Säuglings hinterließ ihre DNA an einer Klingel
Die Nachforschungen der Polizei indes stocken. Die Mutter bleibt unbekannt. Aber: Sie hat ihre DNA hinterlassen – an der Klingel des Bauernhauses. Maria H., die den Jungen entdeckte, sagte damals, sie sei überzeugt, „dass das Kindlein gefunden werden sollte. Hier brannte immer Licht.“
Was die Mutter offensichtlich nicht wusste, ist, dass Else M. wegen ihrer Gehbehinderung nicht die Tür öffnen konnte. Wie lange der Säugling in der eisigen Kälte lag, ehe Maria H. ihn am Abend fand, ist unklar. Von einer „menschlichen Tragödie“ sprachen die Menschen seinerzeit in Eckenhagen. „Das Herz dieser Mutter ist so oder so gebrochen“, sagte der Sprecher der Kreispolizeibehörde.
Die Mordkommission ging davon aus, die Frau müsse sich im Ort auskennen. Denn der Eingang des Bauernhauses liegt eher verborgen. „Im Vorbeifahren sieht man ihn jedenfalls nicht“, sagt heute Markus Weber, der 2003 auch die Ermittlungen leitete.
Die Polizei startet eine Reihenuntersuchung, bittet 520 Frauen, die in der Umgebung wohnen oder arbeiten und weitere Kriterien erfüllen, im Februar 2004 zur freiwilligen Abgabe einer Speichelprobe ins „Haus des Gastes“. 433 kommen, die übrigen werden später befragt. Die Mutter aber bleibt verschwunden.
War der Radius zu eng gewählt? Hätten noch mehr Frauen angeschrieben werden müssen? „Das Problem ist“, sagt Markus Weber, „dass wir die Daten für eine Reihenuntersuchung ja irgendwo herkriegen müssen. Und wenn die gesuchte Person zum Beispiel zwar im betreffenden Ort lebt, aber nicht gemeldet ist, dann geht sie uns durch.“
Noch schwieriger wird es, wenn die DNA der Mutter nicht bekannt ist, wenn die Polizei nur die DNA des Kindes kennt. „Damit hat man dann zwar auch die Hälfte von Mutter und Vater“, sagt Weber, „aber es lässt sich nicht sagen, welcher Teil von wem stammt.“ Und eine bloße Fragmentsuche in der DNA-Datenbank des Bundeskriminalamts, in der das Genmaterial vorbestrafter Personen gespeichert ist, verläuft meist vergeblich.
Mädchen mit massiver Gewalt getötet und im Altpapier entsorgt
Und nicht in allen Fällen wollen die Mütter, dass ihre ausgesetzten Neugeborenen gefunden und gerettet werden. Im September 1998 findet die Polizei einen toten männlichen Säugling auf einer Mülldeponie in Kerpen-Manheim. Im Mai 1990 liegt eine Babyleiche in der Sortieranlage eines Müllunternehmens in Rodenkirchen – das Mädchen war mit massiver Gewalt getötet und im Altpapier entsorgt worden.
Und im Februar 1982 entdeckt ein Passant einen toten männlichen Säugling auf einem Parkstreifen am Sandweg in Bickendorf. Alle Fälle sind bis heute ungeklärt, die Eltern nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Mordes.
Serie Cold Cases
Im Fall Eckenhagen treibt die Kölner Ermittler inzwischen besondere Eile an. Denn weil die Mutter durch das Klingeln offenbar noch Hilfe für ihr Baby holen wollte, bevor sie untertauchte, ist juristisch nicht von Mord, sondern von Totschlag auszugehen. Und Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Findet die Polizei die Mutter nicht bis zum 12. Dezember 2023, wird die Akte für immer geschlossen.
Markus Weber appelliert an mögliche Mitwisser – und an den Vater. „Ich kann mir grundsätzlich nicht vorstellen“, sagt er, „dass in all diesen Fällen keiner der Väter zumindest eine Ahnung gehabt hat, dass das vielleicht sein Kind gewesen sein könnte.“
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ stellt ungelöste Kölner Mordfälle aus den vergangenen 33 Jahren vor. Die Folgen erscheinen samstags und donnerstags in der Zeitung. Online sind alle acht Folgen abrufbar unter ksta.de/coldcases.
Zeuginnen und Zeugen, die Angaben zur Tat, zum Täter oder zur Täterin machen können, werden gebeten, sich bei der Polizei Köln zu melden – entweder telefonisch unter 0221/229-0, per E-Mail an poststelle.koeln@polizei.nrw.de oder auf einer Polizeiwache.