- Köln verzichtet trotz zahlreicher Verstöße gegen die Corona-Regeln darauf, weitere beliebte Treffpunkte abzuriegeln.
- Ist das eine fahrlässige, oder eine kluge Entscheidung?
- Thorsten Breitkopf findet, dass ein zweiter Shutdown dringend verhindert werden muss.
- Helmut Frangenberg meint, dass die Stadt mehr Gelassenheit braucht - und keine neuen Verbote.
Köln – Pro: Wenn wir auf Distanz verzichten, gibt es amerikanische Verhältnisse
Es sind harte Zeiten für alle Menschen. Seit Monaten ist es nur sehr begrenzt möglich, Freunde und Verwandte zu treffen, ein Date zu vereinbaren oder im Freien zu feiern. Schützenfeste, Sommerkirmes, Open-Air-Konzerte – alles abgesagt wegen Corona. Es ist verständlich, dass Menschen, vor allem junge Menschen, sich danach sehnen, wie in „normalen Zeiten“ in Gesellschaft zu trinken, zu flirten, sich zu umarmen, ja auch zu knutschen.
Aber was wir haben, ist eine Sehnsucht, die in der aktuellen Lage nun einmal nicht erfüllt werden kann. Zu Beginn des Shutdown war die Einhaltung der Hygiene-Abstände eine Selbstverständlichkeit. Für fast alle. Psychologen kennen den Grund dafür: die pure Angst. Doch mit rückläufigen Fallzahlen und dem Fehlen von Krankheitsfällen im eigenen Umfeld ist die Angst geschwunden. Das ist gut, denn dauerhaft in Angst zu leben ist in höchstem Maße ungesund, purer Stress.
Doch manche scheinen bei Abwesenheit von Angst zu vergessen oder zu verdrängen, dass diese für Hunderttausende Menschen tödliche Krankheit keineswegs besiegt ist. In Nord- und Lateinamerika werden gerade Rekordhöhen erreicht, bei Infizierten und bei Toten.
Das ist, was viele nicht wahrhaben wollen, eine unmittelbare Folge des leichtfertigen Umgangs mit der Pandemie. Besonders in den Vereinigten Staaten tritt das klar zum Vorschein. Dort ist die Freiheit noch einmal mehr als bei uns ein schier unanfechtbar hohes Rechtsgut. Wollen wir die Freiheit des Einzelnen nun über die Unversehrtheit an Leib und Leben vieler anderer stellen? Das wäre ein Fehler.
Die klare Ansage, im Zweifel wieder öffentliche Plätze zu sperren, falls es zu engen Ansammlungen und hunderten und tausenden engen Kontakten kommt, ist eine richtige Entscheidung. Sie zeigt, dass bei der Beachtung der Verhältnismäßigkeit unbequeme, ja stark begrenzende Einschnitte in die Freiheit vonnöten sind. Noch immer sterben sehr viele Menschen an dieser heimtückischen Krankheit. Und noch immer haben wir keinen Schimmer, wie wir sie bekämpfen können. Aber wir wissen, wie wir die Ausbreitung bremsen können: durch Distanz.
Wollen wir nun wegen eines launigen Sommerabends mit Tausenden die Errungenschaften der vergangenen 120 Tage über Bord werfen? Haben die Menschen vergessen, wie viele Entbehrungen sie geleistet haben, damit wir auf dem Stand sind, den wir heute erreicht haben? Dass wir heute nur noch vier Covid-Infizierte auf 100 000 Kölner haben, ist ja Verdienst unserer Gemeinschaftsleistung.
Und das hieß: monatelange Kontaktsperre, Isolation von Risikogruppen wie Großeltern, Schließung von Restaurants, Schulen und teilweise Geschäften. Wenn wir heute große Ansammlungen auf öffentlichen Plätzen nicht zur Not per Verbot unterbinden, laufen wir Gefahr, all das wiederholen zu müssen. Obendrein wären die geleisteten Entbehrungen umsonst gewesen.
Unsere Wirtschaft ist zum Glück und dank vieler Schulden wieder auf dem Weg nach oben. Eine zweite Welle, ein zweiter Shutdown würde Insolvenzen und damit Arbeitsplatzverluste verursachen, wie wir sie in der Geschichte unseres Landes noch nicht gesehen haben. Wenn sich Menschen also nicht an die Anti-Corona-Regeln halten, sind Verbote wie Platzsperrungen unumgänglich, zum Wohle aller, so unbequem es auch sei.
Thorsten Breitkopf ist Leiter der Wirtschaftsredaktion, hat mehr als 100 Tage im Homeoffice gearbeitet und will einen zweiten Shutdown notfalls durch Verbote verhindern.
Contra: Wir brauchen dringend eine gelöstere Stimmung
Von 100 000 Kölnern sind nur noch vier Menschen an Covid-19 erkrankt. Nach der massiven Ausweitung der Tests ist klar, dass die Dunkelziffer der Infizierten gering ist. Die Erfahrungen nach dem Pfingstwochenende oder den Anti-Rassismus-Demos, wo Tausende junge Menschen zusammenkamen, haben die vielen Lauterbachs widerlegt, die vor steigenden Zahlen warnten. Wer jetzt weitere Platzverbote fordert, reagiert grundlos und unverhältnismäßig.
Das Instrument bringt außer Applaus bei den Freunden von Law-and-Order-Politik ohnehin recht wenig. Am Kölner Stadtgarten, über den zuletzt diskutiert wurde, kann man das exemplarisch sehen: Dort stehen vor allem diejenigen herum, denen man zuvor den Aufenthalt auf dem Brüsseler Platz verboten hat. Wenn Stadt und Polizei die Menschen auch dort vertreiben, ziehen sie einfach eine Ecke weiter.
Es gibt gute Gründe, den Treffen an lauen Sommerabenden mit mehr Gelassenheit zu begegnen. Zu den niedrigen Zahlen kommt die gute Arbeit der Gesundheitsbehörden nach den lokalen Corona-Ausbrüchen. Noch wichtiger aber ist: Wir brauchen dringend eine gelöstere Stimmung, damit Kreativität, Kommunikation und das soziale Miteinander wieder in Gang kommen.
Doch davon wollen Oberbürgermeisterin Reker und Polizeipräsident Jacob offenbar noch nichts wissen. Der Polizeichef geht sogar auf direkten Konfrontationskurs, wenn er junge Leute, die auf Plätzen und Bürgersteigen herumstehen, sich unterhalten und dabei ein Bier trinken, „Ausgeflippte“ nennt und ihnen ernsthaft vorwirft, dass sie „alle anderen“ gefährden. Das ist weder klug noch hilfreich. Außerdem bezeugen die Aussagen von Jacob und Reker Entfremdung und Distanz.
Die Oberbürgermeisterin sagt auf die Frage, wann man denn in Sachen Abstandsregeln weiter gehen kann: „Wir werden uns auf Abstand begegnen müssen, bis es einen Impfstoff gibt und alle geimpft worden sind.“ Im Ernst? Es könnte sein, dass so bald gar kein Impfstoff gefunden wird. Und wenn, werden sich sicherlich nicht alle impfen lassen. Werden OB und Polizeipräsident dann nach und nach die ganze Stadt sperren?
Es würde helfen, sich klarzumachen, über wen da geurteilt wird: Diese„Ausgeflippten“ haben monatelang geduldig drastische Kontaktbeschränkungen ertragen, weil Unis, Schulen, Sporteinrichtungen, Clubs und Diskotheken geschlossen wurden und zum Teil immer noch sind. Studenten haben ihre Nebenjobs verloren. Ihnen fehlt auch der Platz in Gärten und Wohnungen, über den die meisten derjenigen verfügen, die ihnen das Rumstehen auf öffentlichen Plätzen und die Treffen in Parks verbieten wollen.
Man kann die Fragen der „Ausgeflippten“, die sich wahrscheinlich fast alle eigenverantwortlich am ersten Tag die neue Corona-Warn-App aufs Handy geladen haben, an die politisch Verantwortlichen nachvollziehen: Warum sind Reisen in vollen Flugzeugen zu europäischen Stränden erlaubt, während zu Hause junge Leute von öffentlichen Plätzen vertrieben werden?
Warum dürfen am Tanzbrunnen 1700 Menschen ohne Abstand nebeneinander sitzen, auf der benachbarten Rheinboulevard-Treppe aber keine 200 Menschen Platz nehmen? Das passt alles nicht zusammen. Wir brauchen Verantwortungsbewusstsein, Vorsichtsmaßnahmen und etwas mehr Gelassenheit – aber nicht noch mehr Verbote.
Helmut Frangenberg ist Redakteur in der Kölner Lokalredaktion. Er will, dass die Stadt zu ihrem Leben zurückfindet. Lockerungen müssen sein.