Drei Jahre ist der erste Corona-Fall in Köln her. Experten ziehen eine Bilanz und blicken in die Zukunft. Hat Köln aus Corona gelernt?
Bilanz der PandemieDrei Jahre nach Patient Null – was Köln aus der Corona-Krise gelernt hat
Am 27. Januar 2020 verzeichnet die Corona-Chronik den ersten nachgewiesenen Fall einer Infektion in Deutschland. So wenig man damals noch über das neuartige Virus wusste, eines war Fachleuten wie Laien klar: Irgendwann würde auch Köln seinen Patienten oder seine Patientin 0 haben. Einen Monat danach, am 28. Februar, war es so weit.
Drei Jahre ist das nun her. Vieles, was in den ersten Monaten der Pandemie geschah, erscheint aus heutiger Perspektive fast unwirklich. An manches erinnert man sich womöglich schon gar nicht mehr so genau. Zum Beispiel daran, wie groß die Wissensdefizite und damit die Unsicherheiten waren – in der Medizin ebenso wie in der Politik, vor allem aber auch in der Bevölkerung. Als Journalisten waren wir von dem allgemeinen Informationsdefizit natürlich nicht ausgenommen – aber möglichst verlässliche Erklärungen und – wenn möglich – beruhigende Antworten auf viele, viele besorgte, ja ängstliche Fragen wollten wir dennoch geben.
Aus diesem doppelten Bedürfnis entstand der „Corona-Expertenrat“, in dem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ Männer und Frauen unterschiedlicher Profession versammelte. Über Wochen und Monaten beantworteten mehrere Mediziner, Psychologen, eine Juristin und Vertreter der Kölner Stadtverwaltung mit großem Engagement nach bestem Wissen und Gewissen Hunderte von Leserfragen.
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Drei Jahre später haben wir unsere Expertinnen und Experten noch einmal gefragt: nach ihrer persönlichen Bilanz auf die – nun hoffentlich zu Ende gehende – Pandemie. Was ist rückblickend ihre wichtigste Erkenntnis? Welche Einschätzung haben sie revidieren müssen? Gibt es aus ihrer Sicht einen positiven Effekt oder erfreuliche Entwicklungen, die wir als Gesellschaft der Pandemie verdanken? Und wir haben die Mitglieder des Expertenrats gebeten, einen Blick in die Zukunft zu wagen: Sind wir in Deutschland heute besser aufgestellt als vor drei Jahren, was den Umgang mit möglichen neuen Pandemien betrifft?
Lesen Sie nachfolgend die Antworten unserer Expertinnen und Experten.
Dr. Jürgen Zastrow, Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Köln: Die wichtigste Erkenntnis, die wir aus den vergangenen drei Jahren ziehen, ist doch die: Unsere Sicherheit ist nur eine scheinbare, denn unser hoher Lebensstandard basiert auf komplexen, komplizierten und damit fragilen Systemen. Auf ein Neues hat sich der alte Satz bewahrheitet: „Du weißt nie was du kannst, solange du es nicht versuchst!“ Gelernt haben wir: Basics beachten. Kritische Infrastruktur ist wichtig, Lieferketten müssen überdacht werden. Starre Budgets zerstören Basisversorgung! Starre, meist von Juristen formulierte Regelungen und Rahmenbedingungen haben sich in der Krise nur bedingt tauglich gezeigt. Denn die Anfälligkeiten der Befehlsketten von oben nach unten liegen in der fehlenden Kenntnis der Lage vor Ort und der sich daraus ergebenden fehlenden erforderlichen Anpassungen. Sich flexibel einer sich ständig ändernden Lage anzupassen erfordert Mut, denn: „Die Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen!“
Die Nachrichten hatten einen gewissen Wert für die Vergangenheit, einen beschränkten Wert für die Gegenwart und keinen Wert für die Zukunft. Der positive Effekt, den ich der Pandemie zu verdanken habe: In meiner eigenen beruflichen Tätigkeit habe ich neue Sinnhaftigkeit und Wertschätzung gefunden. Während wir außerhalb der Krise in einem Gesundheitswesen mit Gratismentalität in den Praxen häufig mit Wellness-Fragen konfrontiert worden sind, ging es in der Krise plötzlich wieder um essenzielles, nämlich Schutz des Lebens und der Gesundheit des Einzelnen. Gesellschaftlich hatten Zusammenhalt, Solidarität, Loyalität und werteorientiertes Verhalten plötzlich wieder Konjunktur. Heute sind wir anders aufgestellt als vor drei Jahren. Aktuelle Mängel wurden identifiziert und dann zunächst im Krisenmodus und anschließend vorbeugend bearbeitet. Es sind Netzwerke gebildet worden, die auch über die Krise hinaus Kommunikation und Zusammenarbeit erleichtern und auch neue Projekte mit neuen Lösungen erreichbar machen. Durch diese Arbeit wurde von Vielen Vieles erlernt und infolgedessen eine höhere Wertschätzung für andere, vorher dem Einzelnen weniger bekannte Bereiche, erreicht.
Dr. Johannes Nießen, Leiter des Kölner Gesundheitsamts und Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung: Wir konnten viele Corona-Tote verhindern! Entscheidende Grundlage hierfür war ein starker Kölner Krisenstab mit intensiver Zusammenarbeit aller Beteiligten. Insbesondere die Feuerwehr und das Gesundheitsamt haben gemeinsam vieles bewegen können. Weitere Faktoren für die niedrige Sterberate waren die intensive Kontaktverfolgung, der rasche Aufbau einer Teststruktur, das schnelle Impfen der vulnerablen Gruppen und die zunehmende Hinführung der Bürgerinnen und Bürger zur Selbstverantwortung.
Der Dreiklang aus Impfen, Testen, Maske-Tragen hat nicht nur viele Ansteckungen und schwere Verläufe verhindert, sondern tatsächlich zu diesem erfreulichen Fakt beigetragen. Beispiel: In den USA liegt die Sterblichkeit bei Corona bei 1,1 Prozent, in Deutschland bei 0,44 Prozent. Wir hätten also die mehrfache Zahl an Toten gehabt, hätten wir die Sterblichkeit der USA. In Köln lag die Sterblichkeit sogar bei 0,24 Prozent. Niemand von uns hat gedacht, dass die Pandemie sich über einen Zeitraum von drei Jahren erstrecken würde und das Virus mit immer neuen Varianten weitere und noch größere Infektionswellen anstößt. Auch hätte kein Experte gedacht, dass am Ende weltweit 6,87 Millionen Corona-Tote zu beklagen sind. Unterdessen haben wir ordentlich aufgerüstet, die Pandemie hat uns einen Digitalisierungsschub beschert, Homeoffice, Videokonferenzen sind heute selbstverständlich.
Das Programm DIKOMA, das wir in der Pandemie entwickelt haben, hat sich als großartiges Instrument in der Pandemiebekämpfung bewährt. Wir haben zahlreiche Studien angestoßen und unterstützt, mit der Cocos-Studie etwa bauen wir eine Wächterkohorte auch für künftige Pandemien auf. Wir sind besser aufgestellt als vor drei Jahren. Wir haben gesehen, dass wir in Deutschland schnell einen Impfstoff entwickeln können und ihn rasch an die vulnerablen Gruppen von Menschen verabreichen können – in Köln sogar gezielt in die Stadtteile mit den höchsten Inzidenzen. Wir haben einen gewaltigen Wissensschatz in der Pandemiebekämpfung aufgebaut, das Zusammenrücken von Medizin und Katastrophenschutz (Feuerwehr, Bundeswehr) erlebt und gesehen, dass sich zügig eine breite Teststruktur aufbauen lässt.
Thomas Preis, Chef des Apothekerverbands Nordrhein: Unser Gesundheitssystem mit einem gut funktionierenden ambulanten System von Hausärzten und Apotheken war das Rückgrat in der Bewältigung der Pandemie. Denn die allermeisten Patienten wurden ja dort behandelt und versorgt. Alleine bei den Corona-Impfungen wurden über 200 Millionen Impfungen durch öffentliche Apotheken, in Arztpraxen und Impfzentren im Wochenrhythmus geliefert. Und der größte Teil der Impfungen wurde durch niedergelassene Ärzte und am Ende auch durch öffentliche Apotheken geimpft. Deshalb ist es wichtig, das ambulante System mit Hausarztpraxen und Apotheken zu stärken. Denn nach der Pandemie ist vor der nächsten. Und es wäre sehr gefährlich, beim Auftauchen eines neuen gefährlichen Erregers schlechter dazustehen als in den letzten drei Jahren.
Alles deutet daraufhin, dass die Corona-Pandemie schon bald von der Weltgesundheitsorganisation WHO zur Endemie erklärt wird. Dann werden wir noch lokale und zeitlich begrenzte Infektionsausbrüche erleben. Nach drei Jahren Corona-Pandemie scheint die Bevölkerung weitgehend immunisiert zu sein. Mit weltweit etwa 15 Millionen Toten reiht sich die Covid-19-Pandemie in die traurige Liste der weltweit größten und schwersten Epidemien und Pandemien ziemlich weit oben ein. Trauriger Spitzenreiter dürfte die Pest im 14. Jahrhundert gewesen sein, mit etwa 125 Millionen Toten in der damaligen alten Welt. Damals starb etwa ein Drittel der Bevölkerung in Europa. Von 1918 bis 1920 grassierte die Spanische Grippe. Weltweit forderte sie etwa 50 Millionen Tote. Im damaligen deutschen Reich allein über 400 Millionen.
In Deutschland gab es 164 000 Tote infolge von Corona. Ohne die vielen Corona-Schutzmaßnahmen und die Impfungen wäre es höchstwahrscheinlich viel schlimmer für uns ausgegangen. Dass Deutschland bei der jetzt zu Ende gehenden Pandemie einiges richtig gemacht hat, zeigen auch die länderspezifischen Übersterblichkeiten in den letzten drei Jahren. Mit fünf Prozent liegt da Deutschland laut einer Österreicher Untersuchung ziemlich am Ende der Liste. Lediglich Australien, Norwegen, Dänemark und Luxemburg schneiden dort geringfügig besser ab. Österreich selber liegt dort bei neun Prozent, Italien bei zwölf Prozent und die USA und Polen bei 17 Prozent.
Damaris Sander, Kölner Psychologin: Die wichtigste Erkenntnis aus der Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten ist es, dass Menschen in Veränderungsprozessen, in Lebensumbrüchen besonders anfällig waren für Verletzungen durch die pandemiebedingten Einschränkungen. Ich behandele nur Erwachsene, so dass ich von Kindern und Jugendlichen nichts mitbekommen habe.
Aber es war auffällig für mich, dass sich in meiner Praxis deutlich mehr ganz junge Erwachsene, 18 bis 23 Jahre alt, gemeldet haben als zu „normalen“ Zeiten. Sie wurden in ihrer Orientierungsphase und ihren Plänen für die Zeit nach dem Schulabschluss jäh unterbrochen. Ich hatte viele Studierende bei mir, die für den Besuch der Uni nach Köln gezogen waren, nun allein in einem kleinen Apartment saßen, niemanden kennen lernen und nicht in ihren neuen Lebensabschnitt starten konnten. Oder die dann zurück zu ihren Eltern zogen, was wiederum zu eigenen Konflikten führte. Revidiert habe ich meine Einschätzung, dass sich mit Hilfe der modernen Kommunikationstechnik vieles ausgleichen und lösen lasse.
In der Anfangszeit der Pandemie habe ich Behandlungen über Videocalls angeboten. Das war aber für beide Seiten so anstrengend und unbefriedigend, dass ich schleunigst zur Behandlung in Präsenz zurückgekehrt bin. Für künftige Pandemien oder vergleichbare Herausforderungen nehme ich die Hoffnung mit, dass wir als Gesellschaft im Großen und Ganzen etwas an Flexibilität gewonnen haben und der Fähigkeit, mit Unsicherheiten („Ambiguitätstoleranz“) umzugehen.
Prof. Gerd Fätkenheuer, Leiter der Infektiologie an der Uniklinik Köln: Es gibt für mich nicht die eine wichtigste Erkenntnis, wir haben insgesamt enorm viel gelernt. Besonders beeindruckend ist für mich die Geschwindigkeit, mit der es gelungen ist, sowohl Impfstoffe als auch Medikamente gegen diese Viruserkrankung zu entwickeln. Deshalb sind wir heute – nur drei Jahre nach dem Auftauchen eines völlig neuen Virus – in einer ganz anderen Situation als am Anfang. Dies zeigt, wie machtvoll Wissenschaft sein kann.
Die Effekte der Impfung habe ich zunächst überschätzt. Ich ging davon aus, dass die Impfung nicht nur vor einer schweren Erkrankung, sondern auch stärker vor einer Infektion schützen würde. Das Virus hat sich als viel schneller wandlungsfähig gezeigt, als ich das vermutet hätte. Wichtig bleibt aber dennoch die Erkenntnis, dass mit der Impfung die Häufigkeit schwerer Krankheitsfälle massiv gesenkt werden konnte. Das ist ein großer medizinischer Erfolg. Positiv ist: In der Pandemie ist das Vertrauen der Bevölkerung in den Wert und die Möglichkeiten der Wissenschaft laut aktuellen Umfragen insgesamt gewachsen. Das finde ich sehr erfreulich. Ein anderer Aspekt hat zwei Seiten: Mit der Pandemie sind zentrale Probleme unseres Gesundheitswesens sehr deutlich hervorgetreten, etwa der Pflegenotstand und die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens.
Positiv finde ich, dass jetzt offenbar intensiv nach Verbesserungen gesucht wird. Natürlich wird man ganz viele Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Corona-Zeit nutzen können, wenn es erneut zu einer Pandemie kommt. Insofern sind wir heute besser aufgestellt. Wir haben aber nach wie vor ein riesiges Problem in der Verknüpfung und Nutzung von Daten. Länder wie Dänemark, in denen Patientendaten direkt genutzt werden können, um daraus den Verlauf einer Epidemie genau zu erkennen, um Gegenmaßnahmen zu treffen sowie neue Behandlungsverfahren zu entwickeln, sind uns hier viele Jahre voraus. Hier haben wir also einen enormen Nachholbedarf.