Domian schreibt neuer Brüssel-Chefin„Ich fühle mich hintergangen, Frau von der Leyen”
- Der Kölner Moderator und Autor Domian hat die Wahl Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin einigermaßen fassungslos verfolgt.
- In einem persönlichen Brief an die neue Spitzenfrau in Brüssel beschreibt er seinen Frust über das Hinterzimmer-Geschacher – und von der Leyens „devote Bonbon-Rede” nach dem Motto: Kamelle für alle Parteien.
- Außerdem erzählt er, was sein sehnlichster Wunsch für Europa ist und was sich am politischen „Wanderzirkus” schleunigst ändern muss.
Sehr geehrte Frau von der Leyen, jetzt also Sie! Ich kann nicht gerade sagen, dass ich mich darüber freue. Aber egal ist es mir auch nicht. Sicher geht es mir so wie vielen anderen Leuten auch: Man reibt sich die Augen, fühlt sich hintergangen und versteht irgendwie nur noch Bahnhof. Die ach so große europäische Idee ist für mich nach dem Machthickhack und den Tricksereien der europäischen Regierungschefs verschwommener denn je. Und das ist noch sehr freundlich ausgedrückt. Vermutlich werde ich zur nächsten Europawahl erst gar nicht mehr hingehen. Wozu auch?
Hätte ich konservativ (und somit Herrn Weber) gewählt, ich fühlte mich jetzt regelrecht betrogen. Er war der Spitzenkandidat, er war der Wahlsieger, er war für diesen Fall allen als neuer Kommissionspräsident verkauft worden. Es hatte sogar große TV-Duelle zwischen Weber und seinem sozialdemokratischen Konkurrenten Frans Timmermans gegeben. Und jetzt?
Sie, sehr geehrte Frau von der Leyen, habe ich auf keinem Plakat gesehen. Hätten Sie ernsthafte Ambitionen gehabt, warum haben Sie sich nicht schon vor der Europawahl in Stellung gebracht? Nun gut, diese Frage erübrigt sich eigentlich. Die Menschen hätten Sie bestimmt nicht gewählt. Zu schlecht war Ihr Image, zu unbeliebt galten sie überall. Sie wären krachend gescheitert. Jetzt aber kommen Sie durch die Hintertür an die Macht. Sie haben keine wirklich demokratische Legitimation. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie mit 383 Stimmen vom Europäischen Parlament gewählt wurden. Nach einer – wie ich finde – devoten Bonbon-Rede: Kamelle für (fast) alle!
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Ich glaube Ihnen nicht, dass es Ihnen um Europa geht. Es geht Ihnen in erster Linie um Ihre Karriere. Die Staats- und Regierungschefs haben das Spitzenkandidaten-Prinzip mir nichts dir nichts über Bord geworfen. Wie perfide! Die Damen und Herren hätten schon vor der Wahl sagen können, dass sie davon nichts halten. Das wäre wenigstens ehrlich gewesen. Stattdessen hat man alles irgendwie so laufen lassen und am Ende doch im Hinterzimmer entschieden. Dabei hat der französische Präsident Macron auf ganzer Linie gewonnen. Er hat nicht europäisch entschieden, sondern französisch, sprich zu seinen eigenen Gunsten. France first. Macron first. Ist das die viel beschworene europäische Demokratie?
Verheerend finde ich auch, dass meine Partei, die SPD, sich weigerte, Manfred Weber nach seinem Wahlsieg zu unterstützen. Stattdessen saßen die deutschen Genossinnen und Genossen in der Schmollecke und hielten Fähnchen mit dem Bild ihres unterlegenen Spitzenkandidaten Frans Timmermann aus den Niederlanden in die Luft. Als Bürger und Wähler wende ich mich fassungslos ab.
Jetzt sind Sie es also, Frau von der Leyen, die neue Präsidentin der Europäischen Kommission. Nun gut. Viele vernünftige politische Wünsche wurden schon an Sie herangetragen. Ich schließe mich ihnen an. Allerdings habe ich noch einiges hinzuzufügen. Vorneweg: Machen Sie die europäischen Institutionen und den Moloch Brüssel für die Menschen fassbarer und klarer! Nur die wenigsten verstehen dieses riesige Gebilde. Erklären Sie uns die Befugnisse der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates, des Rates der Europäischen Union und des Europäischen Parlaments! Denn wer blickt da noch durch? Zumal es dann ja auch noch den Präsidenten des Europaparlaments gibt, den EU-Außenbeauftragten, die Präsidenten von Rat und Kommission und die Kommissare. Wer hat was zu sagen? Machen Sie dazu mal eine Umfrage auf deutschen oder europäischen Straßen! Das Ergebnis fiele garantiert katastrophal aus. Ach ja, und erklären Sie den Leuten den Wanderzirkus des Europäischen Parlaments und die damit verbundenen immensen Kosten! Das Parlament hat drei Arbeitsorte: Brüssel, Straßburg und Luxemburg.
Wie die Brieftauben flattern die Abgeordneten hin und her. Besonders zwischen Brüssel und Straßburg. Selbst die nötigen Akten werden immer und immer wieder von einem Ort zum anderen transportiert. Darf ich fragen, warum das alles? Warum konzentriert sich nicht alles in Brüssel? Warum genießt Frankreich nach wie vor eine Sonderstellung?
Mit all diesen Fragen sollten Sie sich demnächst entschieden beschäftigen, Frau von der Leyen. Nur so könnten Sie bei den Menschen Punkte sammeln. Gerne würde ich von Ihnen auch Visionen hören. Ja, ich weiß, wer Visionen hat, sollte einen Arzt aufsuchen, meinte der von mir hochgeschätzte Helmut Schmidt. Aber dennoch: Wo soll alles hingehen? Was ist das Ziel? Was ist Ihr Ziel?
Aber bitte kein Wischiwaschi, keine Sonntagsreden! So etwas will niemand mehr hören. Mein Wunsch ist klar und eindeutig. Ich möchte die Vereinigten Staaten von Europa. Einen Staat, eine Regierung, einen Präsident oder eine Präsidentin - und Deutschland oder Frankreich oder Italien würden zu Bundesländern. Warum nicht? Nur so werden wir in Zukunft auf der Welt noch etwas zu sagen haben und Respekt genießen. Und ich gehe noch weiter: Zu den Vereinigten Staaten von Europa sollte irgendwann auch Russland zählen. Auf dieses Europa wäre ich mächtig stolz.
Mit freundlichen GrüßenJürgen Domian