Vor drei Jahren begann Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zum Jahrestag erzählen zwei ukrainische Frauen von ihrer Flucht und ihrem Leben in Köln.
Drei Jahre Krieg in der UkraineWie ist es, die Heimat zu verlassen? Zwei Frauen berichten

Nina (links) und Julia flohen mit ihren Familien nach Deutschland. Nina war schon im Rentenalter, als sie ihre Heimat verließ, Julia wurde gerade erst erwachsen. Beide helfen heute ehrenamtlich beim Blau-Gelben Kreuz.
Copyright: Lena Heising
Köln, wenige Tage vor dem 24. Februar. Die 71-jährige Nina betritt ein Café in der Kölner Südstadt mit Alla Kovalenko, die übersetzen wird. Nie hätte die Rentnerin aus Charkiw gedacht, dass sie auch den dritten Jahrestag des russischen Angriffskrieges in Köln verbringt, in einem fremden Land, in einer Stadt, die sie durch Spaziergänge gut kennt, die aber nie ihr Zuhause geworden ist. Kaum eine Minute später erreicht Julia den Treffpunkt. Sie ist 19 Jahre alt, die ersten eineinhalb Kriegsjahre blieb sie mit ihrer Familie in der Ukraine. Bis sie die Unsicherheit dort nicht mehr aushielten. Nina wollte eigentlich ihren Ruhestand mit Gärtnern und ihrem Job in der Universitätsbibliothek verbringen, Julia an der Universität studieren, neue Freundschaften schließen, unbeschwert leben. Dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ haben die beiden Frauen ihre Geschichte erzählt.
Nina (71): „Meine Seele ist noch in der Ukraine“

Nina (71 Jahre) floh aus Charkiw nach Köln.
Copyright: Lena Heising
„Mein ganzes Leben habe ich in Charkiw verbracht. Hier spielte ich als Kind, hier ging ich zur Schule, hier wuchsen meine Kinder und Enkelkinder auf. All diese Bilder kommen mir in den Kopf, wenn ich an das Wort Zuhause denke. Köln ist nicht mein Zuhause. Meine Seele ist noch in der Ukraine.
Unsere Wohnung lag am Stadtrand von Charkiw, im neunten Stock. Wir blickten vom Fenster auf Felder, fast konnten wir die Grenze zu Russland sehen. Am ersten Kriegstag blickte ich aus dem Fenster und sah Explosionen. Es muss einen Unfall gegeben haben, dachte ich, vielleicht an einer Tankstelle. Meine Tochter stand weinend neben mir. Sie fragte: Was ist das? Was passiert hier?
Als wir hörten, dass die Vollinvasion begonnen hat, liefen wir hinunter in den Keller. Meinen Enkelkindern setzten wir Fahrradhelme auf, aus Angst vor Raketen und Bomben. Heute muss ich darüber fast lachen. Als ob die Fahrradhelme da geholfen hätten. Einmal, als unser Wasser leer war, lief mein Enkel aus dem Haus in Richtung eines öffentlichen Trinkbrunnens. Ich rief ihm hinterher: Was machst du? Wieso bist du draußen? Dann sah und hörte ich, wie sich am Horizont wieder Raketen näherten.
Zehn Tage schliefen wir im Keller. Ich ging immer wieder hoch in die Wohnung, schaltete den Fernseher an und hoffte auf gute Nachrichten. Doch als die Russen den Norden von Saltiwka, ein Wohngebiet im Nordosten der Stadt, erreichten, entschlossen wir uns zur Flucht. Wir haben in der Ukraine ein Sprichwort: Mein Haus ist mein Schloss. Dieses Schloss fühlte sich nicht mehr sicher an. Ich hatte Angst, dass die Wände über mir zusammenfallen und uns alle begraben. Nur Menschen, die Krieg erlebt haben, können dieses Gefühl verstehen.
Wir fuhren ohne Ziel los. In einem Auto mein Mann, meine Tochter und zwei Enkelkinder; mein Sohn und seine Familie in einem anderen. Wir brauchten sieben Stunden, bis wir Charkiw verlassen hatten. Den ersten Halt machten wir in Winnyzja westlich von Kiew, hier wird es ruhiger, dachten wir. Doch schon in der ersten Nacht bombardierte Russland den Flughafen. Also fuhren wir weiter, erst nach Polen, dann nach Deutschland. Mein Sohn blieb in der Ukraine. Er schickte uns weg, sagte, wir sollen gehen.
Als wir Köln erreichten, sagte ich: Wir warten hier. Die Kinder waren krank und wir Erwachsenen unglaublich müde. Die ersten Tage standen wir unter Schock, mir war alles gleichgültig. Ich fühlte keinen Wunsch mehr, keine Hoffnung, gar nichts. Doch die Kinder und die Probleme des Alltags zogen mich aus diesem Zustand wieder heraus.
Ich hätte nie gedacht, dass wir so lange in Köln bleiben, auch wenn die Deutschen sehr nett zu uns waren. Wie kann es sein, dass der gesamte Westen einen Verrückten nicht stoppen kann? Es reicht alles nicht. Putin griff erst Tschetschenien an, dann Georgien. Dann nahm er sich den Donbass und die Krim. Wenn die Ukraine fällt, sind die anderen europäischen Länder als Nächstes dran. Mir tut es weh, dass so viele gute Menschen in der Ukraine sterben, so viele Familien.
Einfach nur herumsitzen konnte ich noch nie. Selbst im Rentenalter habe ich weiter als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bibliothek der Karasin-Universität gearbeitet. Die Bibliothek ist immer noch geöffnet, obwohl die Universität mehrmals beschossen wurde. Meine Kollegen schreiben mir heute noch und fragen, wo sie welches Buch finden. Sie haben große Angst, dass Charkiw unter russische Besatzung fallen könnte.
Mein Bruder hat diese Besatzung zu Beginn des Kriegs selbst erlebt: Er wohnt in einem Ort außerhalb von Charkiw, zehn Kilometer von Russland entfernt. Als die Russen das Dorf eroberten, betraten Soldaten jedes Haus. Sie haben gefragt: Wer von euch diente seit 2014 im Militär? Ist einer von euch Politiker? Wer von euch arbeitet für die Regierung? Wer arbeitet als Lehrer? Diese Erfahrungen machen den Leuten Angst. Mein Bruder hatte Glück: Nach einem Monat eroberte das ukrainische Militär sein Dorf zurück. Wowtschansk, eine Stadt in seiner Nähe, existiert heute nicht mehr. Seit der Befreiung unterstützt mein Bruder das ukrainische Militär so gut er kann.
Kurz nach meiner Ankunft in Köln begann ich, im Lager vom Blau-Gelben Kreuz zu helfen. Dort bin ich fast jeden Tag. Ich brauche das, ich muss müde sein, damit ich nachts gut schlafen kann. Meine Tochter lernte schnell Deutsch, sie hat schon das Sprachniveau C1 erreicht und arbeitet für eine deutsche Firma. Meine Enkelkinder gehen hier aufs Gymnasium. Würde die Ukraine morgen befreit werden, müssten sie selbst entscheiden, ob sie in Deutschland bleiben oder nicht. Mein Mann und ich würden sofort nach Charkiw zurückfahren.
Nach drei Jahren Vollinvasion, drei Jahren in Köln, kommt und geht die Hoffnung in Wellen. Sie schwillt an, wenn die Armee Erfolge verkündet, wenn es diplomatische Durchbrüche gibt. Aber momentan? Sie kennen ja die Nachrichten. Ich dachte, die Welt wird sich einen, um Russland zu stoppen. Stattdessen sehe ich mehr Spaltung als je zuvor und höre Leute sagen, es sei doch unsere Schuld, dass wir angegriffen wurden. Ich habe große Angst vor einer Besatzung, große Angst, dass die Ukraine hintergangen wird. Und ich sorge mich um alle Ukrainer, die kämpfen. Es sind doch unsere Kinder.“
Julia (19): „Durch den Krieg musste ich schnell erwachsen werden“
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Als die Vollinvasion der Ukraine begann, war Julia 16 Jahre alt. Nach eineinhalb Jahren Krieg floh sie mit ihrer Familie nach Deutschland.
Copyright: lena heising
„Als die Vollinvasion begann, war ich 16 Jahre alt. Am Morgen des 24. Februar 2022 wachte ich durch einen lauten Knall auf. Im ersten Moment dachte ich nicht an eine Explosion, eher an eine Tür, die unten krachend ins Schloss gefallen ist. Meine Mama hat an dem Morgen sehr viel geweint. Sie war verzweifelt, wusste nicht, was wir als Familie nun machen sollen. Als meine Eltern trotz allem zur Arbeit gingen, bereiteten mein Bruder, meine Schwester und ich ein Schlaflager im Keller vor. Das war gut, denn nachts hörten wir viele Explosionen.
Ich komme aus der Stadt Poltawa, nur 20 Kilometer von uns war eine Militärbasis, die permanent beschossen wurde. In den ersten Tagen war die Unsicherheit am schlimmsten: Wir wussten nicht, wie es unseren Freunden und Verwandten geht, weil die Russen die Telefonmasten zerschossen hatten. Wenn dazu auch noch der Strom ausfiel, waren die Tage besonders schwer. Ohne Heizung ist es im Februar in der Ukraine sehr, sehr kalt.
Anfangs dachten wir: In ein, zwei Wochen ist dieser Albtraum vorbei und unser Alltag zurück. Also pausierten wir unser Leben und blieben meist im Keller. Die Schule war sowieso geschlossen. Als der Krieg nach drei, vier Wochen noch immer nicht vorbei war, unterrichtete meine Schule online weiter. Die Ablenkung tat mir gut, und so konnte ich mein Abitur trotz Krieg abschließen. Im Herbst begann ich mein Fernstudium an der Karasin-Universität in Charkiw.
Es ist schrecklich, wie schnell man sich an diese neue Normalität gewöhnt. Doch nach eineinhalb Jahren war meine Familie erschöpft. Es war eine Zeit voller Unsicherheit und Angst. Das macht so müde, so depressiv. Und Russland rückte weiter vor. Wir wollten nicht warten, bis die russischen Soldaten Poltawa erreichen und beschlossen, zu fliehen.
Die ersten Wochen in Frankfurt habe ich jeden Tag geweint. Meine Familie suchte in ganz Deutschland nach Jobs und dadurch zogen wir fast alle voneinander weg: Meine Eltern wohnen heute in Schleswig-Holstein, meine Schwester ist noch immer in Frankfurt. Ich ging in die Niederlande, weil meine Freunde dort waren und mir von einem Job in einer Gärtnerei erzählt haben. Ich blieb nur ein paar Monate dort, weil ich meine Familie so vermisst habe. Wenn dein Land und dein Haus nicht mehr sicher sind, dann wird deine Familie zu deinem Zuhause. Und ich hatte Heimweh.
Also zog ich bei meinem Bruder und meinem Onkel in Troisdorf ein und begann, in einem Kölner Nagelstudio zu arbeiten. Meist fahre ich schon morgens nach Köln, damit ich vor der Arbeit im Lager des Blau-Gelben Kreuzes helfen kann. Ich möchte so gerne zurück in die Ukraine. Aber ich weiß langsam nicht mehr, welcher Ort mein Zuhause ist. Und ich frage mich oft, was von meiner Heimatstadt übrig bleiben wird, wozu ich zurückkehren kann.
Durch den Krieg musste ich schnell erwachsen werden. Sehr schnell. Meine Jugend, meine mentale Stabilität, meine Freunde, mein Studentenleben – das alles hat der Krieg mir genommen. Ich vermisse die Ruhe in meinem Leben. Ich vermisse es, meine Zukunft planen zu können, die Möglichkeiten und die Sicherheit. Ich vermisse meine Familienmitglieder, die in der Ukraine geblieben sind und meine Freunde, die an der Front kämpfen. Der Gedanke an eine Besatzung macht mir große Sorgen. Und ich habe stets Angst vor Bomben, die auf die Häuser meiner Verwandten und Freunden fallen könnten.
Wenn ich an Zuhause denke, dann denke ich an meine Familie. Aber ich verbinde mit dem Wort auch mein glückliches Leben. Das Leben, das ich vor dem Krieg hatte.“
Übersetzung: Alla Kovalenko