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„Ihr könnt hier alles sagen“Häftlinge schütten Ex-RAF-Terroristen in Kölner Gefängnis ihr Herz aus

Lesezeit 4 Minuten
Erzählwerkstatt in der Kölner JVA: Häftling, von dem nur der Rücken zu sehen ist, im Gespräch mit Klaus Jünschke.

Häftlinge im Gespräch mit Klaus Jünschke, der selbst schon im Gefängnis saß.

Klaus Jünschke war Mitglied der frühen RAF und wegen gemeinschaftlichen Mordes im Gefängnis – heute arbeitet er mit Häftlingen.

Misstrauisch gegenüber dem Staat ist Klaus Jünschke geblieben. Als die Frau im Eingangsraum der Justizvollzugsanstalt in Ossendorf die Tüte mit Süßigkeiten für die Teilnehmer seiner Erzählwerkstatt kontrolliert und Waffel-Plätzchen moniert, kann der 75-Jährige seinen Unmut nicht verbergen. „Sie wissen doch, nichts mit Schichten, keine Prinzenrolle, auch nicht solche Waffeln“, sagt die Frau. „Die Packung ist doch verschlossen. Hatte ich die letzten Male auch immer mit“, sagt Jünschke genervt. „Die Häftlinge lieben diese Waffeln!“ Und, zum Reporter: „Es wird immer schwieriger hier. Man darf auch keinen Tabak mehr mitbringen, keine Zigaretten, nicht mal aus dem Automaten hier. Früher ging das alles.“ Er darf die Waffeln schließlich doch mit reinnehmen. „Wahrscheinlich nur, weil die Zeitung mit dabei ist.“

Vom gewaltbereiten Kampf gegen den Staat hat Jünschke sich distanziert

Als Mitglied der ersten Generation der Rote-Armee-Fraktion (RAF) wollte Klaus Jünschke helfen, die „staatliche Herrschaftsstruktur der BRD“ zu zerstören. 1977 wurde er wegen gemeinschaftlichen Mordes an einem Polizisten zu lebenslanger Haft verurteilt, 1988 als erster RAF-Terrorist überhaupt begnadigt. Vom gewaltbereiten Kampf gegen den Staat hat sich der heute 75-Jährige längst distanziert, Aktivist ist er geblieben.

Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er immer wieder ehrenamtlich oder projektbezogen in Justizvollzugsanstalten – der Strafvollzug ist sein Lebensthema. An der Kölner Universität hat er über drei Jahre daran geforscht, warum Jugendliche mit Migrationshintergrund in deutschen Gefängnissen überrepräsentiert sind. Sein Studium in Sozialwissenschaften hatte er als Inhaftierter abgeschlossen. Am liebsten sähe er Gefängnisse ganz abgeschafft – insofern ist er auch Ideologe geblieben.

Jedes Jahr kommen hierzulande 20.000 Menschen ins Gefängnis, weil sie ihre Geldstrafen – oft für begangene Bagatelldelikte – nicht bezahlen können.
Klaus Jünschke, Sozialwissenschaftler

Seit einigen Jahren engagiert sich Jünschke zudem im Kölner Bündnis gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung. „Die Themen Straffälligkeit, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit hängen eng zusammen“, sagt er. Knapp 14 Prozent der Inhaftierten in Deutschland hätten keinen festen Wohnsitz. „Jedes Jahr kommen hierzulande 20.000 Menschen ins Gefängnis, weil sie ihre Geldstrafen – oft für begangene Bagatelldelikte – nicht bezahlen können.“ 50.000 Menschen müssten jedes Jahr eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen könnten.

Auf dem Bild ist eine Hand von Klaus Jünschke zu sehen, die ein Diktiergerät hält, Jünschke leitet eine Erzählwerkstatt in der Kölner JVA.

Die Gespräche werden aufgenommen - Jünschke schreibt aus den erzählten Geschichten ein Buch.

Jünschke kritisiert, dass der Staat nicht genug tue, „um den Kreislauf aus Armut, Drogenabhängigkeit und Kriminalität zu durchbrechen“. Für viele Obdachlose, die infolge von Alkohol- oder Drogensucht kriminell würden, bedeute „der Aufenthalt im Knast eine Erholung und fast einzige Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen“. Hier hätten sie ein abschließbares, warmes Zimmer, warme Mahlzeiten, bestenfalls Gruppenangebote, um zu reden und ihr Leben besser in den Griff zu bekommen.

Jünschke kritisiert „vermeintlichen Sozialstaat“ heftig

„Auf der Straße oder in Obdachlosenunterkünften gibt es so etwas oft nicht. Dort lässt die Gesellschaft zu, dass die Menschen verwahrlosen.“ Das, meint Jünschke, sei „ein Riesenskandal, über den der vermeintliche Sozialstaat hinweggeht“. Dabei bleibe „die Würde des Menschen auf der Strecke“.

Seit September 2022 leitet Klaus Jünschke, der mit Christiane Ensslin, Schwester der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin und Mitgründerin der Zeitschrift „Emma“, bis zu deren Tod im Jahr 2019 verheiratet war, eine Erzählwerkstatt im Kölner Gefängnis. Insassen, die in Untersuchungshaft sitzen, können ihm einmal pro Woche erzählen, was ihnen auf dem Herzen liegt, welche Hilfen sie brauchen, was sie sich wünschen. Kritik ist ausdrücklich erwünscht. Aus Gesprächen mit den Häftlingen der JVA in Siegburg und in Köln entsteht ein Buch, das im Sommer im Kölner Weissmann-Verlag erscheint.

An diesem Nachmittag kommen Tollek und Blecki in die Erzählwerkstatt. Blecki ist 57, Alkoholiker, und war vor Haft obdachlos. Tollek, groß und massig, imposante Statur, ist 26, seine kriminelle Laufbahn begann so früh wie sein Drogenkonsum.

Insassen sollen alles sagen dürfen – „auch das, was Euch stört“

Ein JVA-Angestellter sitzt mit in dem staubigen kleinen Raum, der offenbar lange nicht geputzt wurde. „Stört Euch nicht an dem, der ist für uns gar nicht da“, sagt Jünschke, bevor die Männer zu erzählen beginnen. „Ihr könnt hier alles sagen – auch das, was Euch stört.“

Als die Männer anfangs etwas zurückhaltend sind, gibt er ihnen Stichworte: keine Therapiemöglichkeiten, keine Chance, das Leben nach der Haft zu planen, kaum Auffanghilfen für die Zeit in Freiheit, Erlebnisse mit vermeintlich brutalem Vorgehen von Polizisten.

Hingenommen hat der 75-Jährige, der jede Woche in Köln gegen Armut und Wohnungslosigkeit demonstriert, gesellschaftliche Zustände, die ihm nicht passen, noch nie.