Ab 24 Wochen gelten die Überlebenschancen von Frühchen als gut. An der Uniklinik Köln versucht man auch unreiferen Kindern eine Chance zu geben.
Geboren zwischen Leben und TodAls Lia in Köln viel zu früh zur Welt kommt, wiegt sie 420 Gramm
Lias erste Mütze ist ein Eierwärmer, gehäkelt aus lilafarbener Wolle. Jede Babymütze würde dem Mädchen bis zur Brust reichen. Denn als Lia am 30. April 2024 zur Welt kommt, wiegt sie nicht viel mehr als vier Tafeln Schokolade. 420 Gramm. Es ist mitten in der Nacht, Köln rüstet sich für den ersten heißen Tag des Jahres. Auf den Wiesen der Stadt wird gegrillt, geschwatzt, gesungen. Es ist laut und fröhlich. Im Kreißsaal der Uniklinik liegt derweil eine Mutter, betäubt und „in Tränen“, ein vor Sorgen stummer Vater am Kopfende daneben, beide beschäftigt mit nur einer einzigen bangen Frage: Wird ihr Kind leben?
Lia muss aus dem Bauch raus. Dabei sind ihre Lungen noch nicht funktionstüchtig
Erst 22 Wochen und vier Tage wächst dieses Kind im Bauch. Der Muttermund hat sich viel zu früh geöffnet, schon Anfang April in Aurich an der Nordseeküste, wo Mutter Vanessa Janssen und Vater Kevin Kutscher eigentlich wohnen. Eine extra angebrachte Schlinge, die den Gebärmutterhals noch ein Weilchen zuschnüren soll, führte zu einer aufsteigenden Infektion und zum Platzen der Fruchtblase. Lia muss aus dem Bauch raus. Dabei sind ihre Lungen noch nicht funktionstüchtig, außerhalb der Fruchtblase drohen sie zusammenzufallen.
Auch das Immunsystem ist noch lange nicht fertig, die weißen Blutkörperchen sind noch nicht entwickelt, die Haut ist dünn wie Pergamentpapier. In einer normalen Geburtsklinik hätte man sie sterben lassen müssen, auf die Therapie solch extremer Frühchen wie Lia ist man auch in Aurich nicht vorbereitet. „Die Ärzte sagten mir, ich soll mich darauf einstellen, mich von meinem Kind zu verabschieden“, sagt Janssen. Alle Hoffnungen liegen deshalb auf dem Team der Neonatologie an der Uniklinik Köln unter Leitung von Oberärztin Angela Kribs. Sie sagt: Wir versuchen es. Mutter und Kind werden nach Köln verlegt, der werdende Vater rast hinterher. Und dann irgendwann, in den stillen, nächtlichen Kreißsaal hinein, ruft einer die beiden erlösenden Worte: „Es atmet.“
Vanessa Janssens Gesicht glimmt und strahlt wie eine Nachttischlampe, wenn sie von dieser Nacht erzählt. Obwohl sie sich beim ersten Anblick des zarten Geschöpfs schon erschrocken habe. Aber dann obsiegt das Glück. „Mir wurde sie kurz auf die Brust gelegt. Mein Freund durfte mit in den Erstversorgungsraum. Er hat mir von dort Handyfotos geschickt. Das war das Schönste.“ Es ist nicht so, dass die Sorgen der 29 Jahre alten Frau seitdem ein Ende hätten. Die postnatale Liste ist lang, es kann hier nur ein Auszug stehen: Sauerstoffabfall, Adrenalinspritzen, ein Tubus zur Beatmung, 40 Gramm plus, 50 Gramm minus, eine Infektion, die ihrer Tochter jede Kraft raubt. „Da hat sie vor Schwäche kaum die Augen öffnen können.“
Die Schwiegermutter hat schon vor der Geburt ein buntes Sorgenwürmchen mit Perlenkopf geschenkt, das Vanessa begleitete und nun im Inkubator hängt und dort seiner Aufgabe nachkommt. Es hat viel zu tun. Der Lebensstart ein einziger Trampelpfad voller Geröll. Aber: „Wir haben uns für diesen Weg entschieden. Lia soll die maximale Therapie bekommen. Sie ist so willkommen, wie sie ist. Wenn sie später pflegebedürftig sein wird, dann leben wir auch damit.“
Eine Therapie empfohlen wird erst ab der 24. Reifungswoche
Etwa 60.000 Babys kommen in Deutschland pro Jahr zu früh zur Welt. 10.000 von ihnen wiegen bei der Geburt weniger als 1500 Gramm. Lia startet noch niedriger: An der Grenze zwischen Leben und Tod. Gut 1000 Kinder jährlich verlassen den Mutterleib unter 500 Gramm. „Unreifere Kinder, die vor Abschluss von 22 vollen Wochen geboren werden, haben kaum eine Überlebenschance. Und wenn doch, ist das Risiko für schwere und dauerhafte Schäden sehr groß“, sagt Angela Kribs von der Uniklinik. „Eine Therapie wird in diesen Fällen nicht empfohlen.“
Lia ist in eine Grauzone hineingeboren. Die Überlebensraten liegen Studien zufolge in der 23. Woche bei 38 Prozent, das Risiko einer mittleren bis schweren Beeinträchtigung im Kleinkindalter bei 50 Prozent. 20 bis 25 Kinder in dieser Grauzone therapiert die Uniklinik Köln pro Jahr. Wie hier macht man auch am Klinikum Leverkusen und an den Kliniken der Stadt Köln in Holweide ein Therapieangebot für Kinder, die mit einem Schwangerschaftsalter von abgeschlossenen 22 oder 23 Wochen geboren werden.
Auf Intensivmedizin wie die maschinelle Beatmung durch einen Tubus verzichtet man dabei immer häufiger. „Früher sagte man: Ein Kind unter 1500 Gramm kann gar nicht atmen. Aber das stimmt nicht“, sagt Kribs. Ab den 1990er Jahren habe man sich an den Skandinaviern orientiert, die schon früh nur mit Atemmasken die Sauerstoffzufuhr unterstützten. Arbeitet die Lunge gegen den Druck der Maske an, werden die Bläschen auf sanfte Art gestärkt.
Jana Rosenberger, Pflegeteamleitung der neonatologischen Intensivstation der Uniklinik, sagt: „Unsere Erfahrung ist: Gute Pflege kann Intensivmedizin oft verhindern.“ Wer Zeit habe, die Babys genau zu beobachten, der komme manchmal auf Ideen, welche die gesundheitliche Stabilität ohne den Einsatz invasiver Geräte und damit auch risikoarm verbesserten: „Plan auf dem Rücken liegend atmet es sich beispielsweise schwer, manchen Kindern hilft es dann schon, wenn wir es ihm in der Seitenlage kuschelig machen“, sagt Rosenberger.
Der Faktor Körpernähe und Eltern spielt auch medizinisch eine immer größere Rolle
Und dann ist da ja noch der Faktor Familie – Wärme, Elterninstinkt, Muttermilch – dem Mediziner heute eine viel größere Bedeutung für die Überlebenschancen einräumen als früher. Vanessa Janssen schlägt die Augen nieder, das Kinn schmiegt sich eng an ihre Brust, denn ihr Blick hat nur ein Ziel: Das winzige Mädchen, das wie ein Känguru-Baby auf ihrer Brust liegt, ein feiner rötlicher Flaum überzieht ihre Schulter. Ab und zu blinzelt es, zwischendurch meckert es ein bisschen. „Schimpfst du mich aus“, flüstert Janssen zärtlich.
Kangarooing nennt man das, an der Uniklinik macht man das schon seit den 90ern, während Frühchen anderswo den Brutkasten noch kaum verlassen durften. Mutter oder Vater liegen auf einem Liegestuhl neben dem Brutkasten, das Frühchen direkt auf der Brust. Kuschelstunde. Haut auf Haut. Der Höhepunkt des Tages. Auch in die Pflege bindet man die Eltern der Frühchen heute vom ersten Tag an mit ein, erzählt Rosenberger. Schließlich müssten Mutter und Vater lernen, wie sie ein zartes, aber keinesfalls zerbrechliches Menschlein am besten anfassen, wickeln, eincremen oder tragen können.
Darüber hinaus hat der Praxisbezug auch einen medizinischen Vorteil: „Die Eltern sind die Experten für ihr Kind. Sie sind anders als die Pflegenden den ganzen Tag bei ihm und merken sofort, wenn es blasser ist oder sich weniger bewegt. Wenn wir mit den Eltern zusammenarbeiten, erkennen wir deshalb Probleme schneller, können schneller helfen.“
Lias Hand hält den Finger ihrer Mutter fest
Lias Hand hat in etwa die Maße eines Fünf-Cent-Stücks. Sie hält damit den Finger ihrer Mutter fest. „Sie hat ganz schön viel Kraft“, sagt die. Lia trägt eine Sauerstoffmaske auf der Nase, ein Schlauch führt in den Darm, hierüber wird sie gleich ihr Mittagessen bekommen. Zwei Milliliter Muttermilch, zwölfmal am Tag. Die Tagesration passt knapp in ein Schnapsglas oder auf fünf Teelöffel. Vanessa Janssen pumpt alle drei Stunden ab, was das Töchterchen nicht schafft, landet im Gefrierfach. „Wir haben mittlerweile literweise Vorrat“, sagt sie und lächelt zärtlich. Und ununterbrochen.
Schwer vorstellbar, dass sie einmal eine freche Teenagertochter anmeckern wird, weil die ihr Widerworte gibt. Aber genau das hat Janssen vor: Ihr zu Hause den Berner Sennenhund Milow vorstellen, viel an der nahe gelegenen Nordsee spazieren gehen, den Zoo besuchen, kuscheln, für die ganze Familie Hühnersuppe mit Klößchen kochen, irgendwann gemeinsam zum Lieblingscampingplatz nach Kroatien reisen. Familienleben eben. „Ich rege mich auch jetzt schon manchmal auf, wenn sie wieder an der Magensonde rumzerrt. Lass das!, sag ich dann.“ Vanessa Janssen lächelt noch breiter.
Die Grenze zur Lebensfähigkeit hat zwei Seiten. Noch in den 70er Jahren starb in Deutschland jedes zweite Kind, das mit einem Geburtsgewicht von unter 1500 Gramm zur Welt kam. Die Wende brachte das Medikament Surfactant, ein Stoff, der die Lungenbläschen stabilisiert, in der unreifen Lunge aber fehlt. Und die Erkenntnis, dass auch Liebe und Körperkontakt beim Wachsen helfen können. Heute erreicht die Überlebenschance schon in der 28. Schwangerschaftswoche 96 Prozent.
Aber allem medizinischen Fortschritt zum Trotz: Manchmal geht es für die Eltern an der Uniklinik Köln auch heute noch ums Abschiednehmen. Das hat auch ethische Gründe. „Ich würde ein 22-Wochen-Baby nach der Geburt nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln reanimieren“, sagt Kribs. „Manchmal kann es die bessere Entscheidung sein, dem Kind die Therapie zu ersparen und den Eltern dafür die Zeit, die es leben kann, zum Loslassen zu geben. Ganz ohne Geräte“, sagt Kribs. „Wir schauen aber immer auf das einzelne Kind und machen ein Therapieangebot, wenn die Eltern das wollen.“ Steige das Leid, das man dem Kind zufügt, allerdings über die Maßen, sei es auch ärztliche und pflegerische Aufgabe, mit den Eltern zu besprechen, wieviel und welche Therapie noch sinnvoll ist. Und damit über den Tod. „In den allermeisten Fällen entscheidet aber tatsächlich das Kind selbst.“ Zehn bis 15 Säuglinge im Jahr verlassen an der Uniklinik pro Jahr das Leben kurz nach dem Start wieder. Darunter sind nicht nur Frühchen, sondern auch schwer kranke Babys.
Lia aber soll leben. Ihr Name bedeutet „die Löwin“. In der Klinik bleiben wird sie mindestens noch bis zum errechneten Geburtstermin Ende August. „Sie braucht Geduld, aber ihre Chance, es zu schaffen, ist sehr groß“, sagt Oberärztin Kribs. 550 Gramm wiegt das Mädchen mittlerweile. Um jedes Gramm wird gekämpft. Das nächste große Ziel heißt Vierstelligkeit. Wenn Lias kleiner Körper die Kilogrammgrenze auf der Waage reißt, dann wird es an der Uniklinik eine Feier geben: Vanessa Janssen und Kevin Kutscher werden für die ganze Station Kuchen backen. Und die Verwandtschaft einladen. Zum Mehltütenfest.