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„Keine Sekunde nachgedacht“Als die Kölnerin Deniz stirbt, hinterlässt sie zwei Kinder – und Oma wird zu Mama

Lesezeit 9 Minuten
Jelena Bayram auf ihrem Balkon in Porz. Als ihre Tochter Deniz an Krebs starb, traf sie im Rentenalter eine schwerwiegende Entscheidung. Sie nahm deren beiden kleinen Kinder bei sich auf und zieht sie seitdem groß.

Jelena Bayram auf ihrem Balkon in Porz. Als ihre Tochter Deniz an Krebs stirbt, trifft sie im Rentenalter eine schwerwiegende Entscheidung.

Zum Trauern hat Jelena Bayram keine Zeit, als ihre Tochter stirbt. Sie baut ihr Oma-Herz, in dem die beiden Enkel ja schon sind, zum Mutterherz um.

Der erste Tag im Dezember 2020 ist ein Tag voller Hoffnung. Ein Dienstag, es ist kalt geworden, in den Straßen glimmen Weihnachtssterne, Rentiere, Nikoläuse. Jelena Bayram macht sich auf den Weg, um Koffer für ihre Tochter Deniz zu kaufen. Die liegt seit drei Jahren fast ununterbrochen mit Leukämie im Krankenhaus. Aber Jelena Bayram hat ein gutes Gefühl und die Zuversicht hat drei gute Gründe: Erstens: Die Stammzellenspende des Bruders hat gut angeschlagen. Zweitens: Deniz ist eine Kämpferin, sie will leben – schon für ihre beiden Söhne, sie sind drei und 15 Jahre alt. Drittens: „Die Ärzte haben uns gesagt, sie schafft das. Ich hatte nicht mal Angst. Ich war sicher: Sie wird wieder gesund“, sagt Bayram.

Für den Zweifel ist in der Familie Bayram in diesen Adventstagen also gar kein Platz. Nur noch eine Station ist eingeplant. Zur kompletten Genesung soll Deniz ins bayerische Erlangen verlegt werden. Dort melden die Meteorologen für die Nacht den ersten Schnee des Jahres. Watteweiße Geborgenheit, geeignet alle Wunden zuzudecken. Deniz bekommt nagelneues Reisegepäck für den Aufbruch in ein gesundes Leben.

„Am 15. Dezember war meine Tochter dann tot“, sagt Jelena Bayram.

„Warum, Mama?“ fragt Rafael. „Warum ist Mama tot? Meinst du Mama Deniz?“

550 Pflegekinder leben offiziell in Köln, etwa die Hälfte bei der Verwandtschaft

Rafael ist drei Jahre alt, als seine Mutter stirbt. Er braucht also eine neue. Jelena Bayram ist 62 Jahre alt, als ihre Tochter stirbt. Sie muss sie also ersetzen.

550 Pflegekinder leben in Köln. Die Hälfte der Kinder, die in neue Familien kommen, kennt diese vorher nicht. Das Konzept der Stadt führt „in viele verschiedene familiäre Settings“, sagt Christine Schubert vom Jugendamt Köln. Das erste der Wahl ist die Versorgung innerhalb der Ursprungsfamilie oder im nahen sozialen Umfeld. Bei der anderen Hälfte gelingt das. Sterben die Eltern kleiner Kinder oder sind sie zur Erziehung nicht in der Lage, springen nahe Verwandte ein. Geschwister, Tanten, Onkel. Oder eben die Großeltern. Bis zu diesem dritten Verwandtschaftsgrad geht das auch ohne Beteiligung des Jugendamts, weshalb die tatsächliche Zahl der Verwandtenpflege sehr viel höher geschätzt, aber offiziell nicht erfasst wird.

Schubert spricht von der „ältesten Pflegeform der Welt“. In Deutschland wachsen Schätzungen zufolge 100.000 Kinder in diesem erweiterten Sicherheitsnetz namens Großfamilie auf. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die trauernden Kinder können in vertrauter Umgebung bleiben, müssen sich an keine neue Familie gewöhnen. Für Großeltern, die plötzlich wieder mit Kleinkindern und Teenagern unter einem Dach leben, ist es aber auch eine kaum zu ermessende Verantwortung. Jelena Bayram hat sie angenommen.

Mama Deniz, die ich nicht sehen kann, die aber trotzdem immer bei mir ist
Rafael, sechs Jahre alt

Rafael kniet vor dem niedrigen Wohnzimmertisch in Köln-Porz und zählt konzentriert Bälle und Äpfel und Stifte in einem Vorschulheft ab. Er ist sechs Jahre alt, in ein paar Wochen kommt er in die Schule. Zwischendurch springt er auf, klettert auf Sofalehnen, hangelt sich am Sessel entlang, wetzt in sein Zimmer nebenan, versteckt sich dort kurz im Tipi. Zurück kommt er mit einer unsichtbaren Ideenwolke um den Kopf, Stiftenachschub oder einem gerahmten Foto. Darauf zu sehen sind ein großer und ein kleiner Junge, dazwischen eine strahlende Frau mit dunklen Locken und großen weißen Creolen in den Ohren.

„Das bin ich als Baby, das ist mein Bruder Samuel, das ist Mama, also die, die schon tot ist“, erklärt Rafael hilfsbereit. „Oder, Mama?“ Jelena Bayram verzieht das Gesicht ein bisschen hilflos und nickt.

Lauter Superhelden

Rafaels Familie ist nicht mehr komplett. Das lässt sich nicht beschönigen. Aber wie ein Fischer abends die Risse in den Reusen flickt, haben sie auch bei den Bayrams alles dafür getan, die Maschen des Familiennetzes nach Deniz‘ Tod wieder eng zu knüpfen. Lauter Superhelden, überall.

Der große Bruder Samuel, der schon 17 Jahre alt ist: Als Rafael ein viel zu früh auf die Welt geholtes Baby war und seine Mutter im Krankenhaus lag, hat der damals Elfjährige ihn in der Bauchtasche rumgetragen. Rafael zeigt ein Bild und lacht: „Wie die Kängurus.“ Uroma Elisabeth, die meistens etwas gebeugt, aber mit zäher Statur in der Küche steht und heiser lachend ein Cordon bleu brät, wenn Rafael sie mit seinen großen dunklen Augen anklappert. Die Großtante, die ihm bei ihren Besuchen oft Süßigkeiten schenkt. Der Onkel, der nebenan wohnt. Papa, der ihn mindestens zweimal in der Woche zum Spielen abholt. Mama Deniz, „die ich nicht sehen kann, die aber trotzdem immer bei mir ist“. Mama Jelena, die eigentlich seine Großmutter ist, die er aber Mama nennt, auch wenn der große Bruder Samuel das nicht hören will. „Anfangs fühlte Samuel dadurch seine Mutter verraten“, erklärt Jelena Bayram. Aber Rafael bleibt dabei. Warum auch nicht, sonst bliebe dieser schöne Name ja unbenutzt.

Deniz war immer bei mir, die Kinder waren immer bei mir. Die Verbindung zur Familie war immer sehr stark
Jelena Bayram, Mutter und Großmutter

Als die Oma die neue Mama wird, da ist es schon viele Jahre her, dass sie schon einmal zwei Kinder großgezogen hat, viele Jahre davon alleinerziehend. Auch die ersten Oma-Freuden liegen schon einige Jahre zurück. Tochter Deniz wird noch während der Ausbildung zum ersten Mal schwanger, schafft mit dickem Bauch gerade noch die Zwischenprüfung. Der kleine Junge ist vom ersten Tag herzlich willkommen. „Deniz war immer bei mir, die Kinder waren immer bei mir. Die Verbindung zur Familie war immer sehr stark“, sagt Jelena Bayram, die heute 65 Jahre alt ist.

Die Beziehung zum Vater bricht nie ab

Überhaupt, Familie ist so ein Wort, das sich hier in diesem Wohnzimmer irgendwo zwischen Holzdecke, dunkler Schrankwand und Perserteppich als Magnet versteckt zu haben scheint. Wer einmal da ist, der bleibt, sagt dieser Magnet. Und es ist ja auch praktisch. Deniz kehrt nach der Entbindung also in die Großfamilienwohnung zurück, Baby Samuel im Tuch vor dem Bauch. Die Beziehung zum Vater bricht nie ab, für ein Zusammenleben scheint sie sich allerdings nicht zu eignen.

Nach sechs Wochen sitzt Deniz wieder in der Berufsschule. Beim Schuckeln-Füttern-Schuckeln-Wickeln wechseln sich Mutter, Oma, Urgroßmutter ab. Schichtdienstplanerprobt. Denn ihre Arbeit als Schwimmmeistergesellin macht Jelena Bayram weiter Spaß. Ans Aufhören denkt sie damals nicht. Im Gegenteil: Ihr Plan ist, beruflich nochmal richtig ranzuklotzen, um ihre Rente aufzubessern.

Doch dann kommen gut zehn Jahre später fast zeitgleich Deniz‘ zweite Schwangerschaft und die Diagnose Leukämie. Harte Jahre, in denen man dennoch den Gedanken an ein schlechtes Ende niemals zugelassen hat. „Die wird gesund, darauf habe ich mich versteift.“ Es kommt der 15. Dezember 2020. Er verändert alles.

Sie klebt Tapeten, wäscht Kinderhände, schimpft, bezahlt die Fahrstunden

Jelena Bayram handelt intuitiv. Sie baut ihr Oma-Herz, in dem die beiden Enkel ja ohnehin schon sitzen, zum Mutterherz um. Sie reicht Frührente ein. Sie klebt Superhelden-Tapete an die Wand. Sie beantragt das Sorgerecht für die beiden Jungen. Sie wechselt Windeln, trocknet Tränen, kontrolliert Hausaufgaben, schimpft, wenn der Computer zu lange läuft, wäscht klebrige Kinderhände, putzt Gummistiefel, besucht Elternabende, bezahlt dem Großen die Fahrstunden. „Dass die Kinder bei mir wohnen bleiben, war sofort klar. Ich habe keine einzige Sekunde darüber nachgedacht.“ Zeit zum Trauern bleibt ihr nicht. „Samuel kann es nicht ertragen, wenn ich weine. Also kremple ich die Ärmel hoch und mache weiter.“

24.05.2024, Köln: Jelena Bayram auf ihrem Balkon in Porz. Als ihre Tochter Deniz an Krebs starb, traf sie im Rentenalter eine schwerwiegende Entscheidung. Sie nahm deren beiden kleinen Kinder bei sich auf und zieht sie seitdem groß. Wie es ist, mit über 65 nochmal Mutter zu werden. Foto: Arton Krasniqi

Jelena Bayrams Knochen schmerzen, sie nutzt einen Rollator. Zeit für sich selbst bleibt ihr kaum.

Jelena Bayram sitzt auf Schonbezügen auf einem großen grünen Sessel. Ihre Augenlider scheinen in den vergangenen Jahren mit jeder neuen Sorge an Gewicht zugelegt zu haben. „Ich rede eigentlich täglich mit meiner Tochter. Und ich frage sie um Rat. Bitte sie um Entschuldigung, wenn ich fürchte, zu hart mit den Kindern gewesen zu sein.“ Schmerz, Müdigkeit, aber auch die Unmöglichkeit aufzugeben, blicken dem Gegenüber aus Jelena Bayrams kleinen Augen entgegen. Wer eine Weile hineinsieht und zuhört, der fühlt die Last, kann nicht umhin zu überschlagen, wie hoch der Preis ist. Vielleicht zu hoch sogar, schließlich ist Bayram im Rentenalter, ihre Knochen schmerzen, um auf den Spielplatz oder zum Einkaufen zu gelangen, nutzt sie einen elektrisch betriebenen Rollator. Zeit für sich selbst bleibt ihr kaum. „Manchmal gehe ich zur Maniküre oder Einkaufen, das ist mein Luxus“, sagt Bayram und wackelt mit den französischen Fingernägeln.

Sie treibt die Angst um, zu alt für die Kinder zu sein

Aber reichen diese kleinen Fluchten? Urlaubsreisen seien quasi unmöglich, schließlich ist da auch noch Uroma Elisabeth, die zwar noch Brokkoli dünsten, den aber nicht mehr im Supermarkt einkaufen kann. Es bedarf lediglich einfachen Plusrechnens, um festzustellen: Wenn Rafael erwachsen ist, wird auch Jelena Bayram fast 80 Jahre alt sein. Ob ihr dann noch Zeit für ein bisschen Ruhe bleibt?

Wenn der Kleine kommt und die Arme breit macht, dann ist alles vergessen. Dieser Junge ist ein Geschenk
Elisabeth Nedeljkovic, 85

Laut Schubert vom Jugendamt ist es nicht immer die beste Lösung, wenn Enkel im Todesfall der Eltern zu den Großeltern ziehen. Manchmal können sie ihre stützende Rolle besser ausfüllen, wenn der Lebensmittelpunkt beispielsweise zu einer Freundin der Mutter verlegt werden kann und die Großeltern nur am Wochenende zu Besuch kommen. „Aber auch umgekehrt kann man überlegen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Fall, da zog die 13-Jährige zu ihrer knapp 80-jährigen Oma. Tanten und Onkel erklärten sich aber bereit, sie im Urlaub und am Wochenende zu entlasten. Und da zu sein, falls die Oma gesundheitlich nicht mehr kann.“

Auch Bayram treibt die Angst um, zu alt für die Kinder zu sein. „Schaffe ich das überhaupt noch? Klappt es noch, wenn Rafael in die Pubertät kommt?“ Aber dann handelt sie im Vertrauen auf ihr Netz. „Ich weiß, dass Samuel für seinen Bruder da sein wird, wenn ich nicht mehr kann.“ Ihre Schwägerin. Der Vater des Jungen. Ein bisschen aber, das weiß sie, muss sie noch durchhalten.„ Ich hoffe, dass ich Rafael so weit kriege, bis er erwachsen ist.“ Sie achtet auf sich, geht öfter zum Arzt. „Ich sage mir: Du musst doch leben!“ Manchmal hilft ihr auch ihr Trotz. Als eine Jugendamtsmitarbeiterin sie einmal mitleidig ansieht, während sie langsam zum Spielplatz humpelt und fragt, ob sie mit dem Jungen überhaupt noch Fußball spielen könne, wird sie angriffslustig und sagt: „Nein, aber ich habe ihm das Schwimmen beigebracht. Das ist doch viel wichtiger.“

Und natürlich hilft das Lachen, das aus dem Mund dieses Jungen perlt wie gut geschüttelte Zitronenlimo aus der geöffneten Flasche. „Wenn der Kleine kommt und die Arme breit macht, dann ist alles vergessen, dann öffnet sich mein Herz. Dieser Junge ist ein Geschenk“, sagt Uroma Elisabeth. „Und wenn er sagt: Mama, ich hab dich lieb! Dann weiß ich eh, dass es sich lohnt“, sagt Jelena Bayram. „Es gibt vieles, wofür wir dankbar sind.“

Es hat also den Anschein, als würde der Magnet namens Familie in dieser Wohnung in Porz weiterhin seine Stärke zeigen. Jelena Bayram wird mit Rafael Spongebob gucken, obwohl sie die Sendung hasst, einfach weil sie so gern hört, wie Rafael sich über den Tintenfisch Thaddäus kaputtlacht. Sie wird ihr Elektromobil starten, Rafael auf den Schoß nehmen und mit sechs Kilometern pro Stunde zum Kinderfest an den Rhein fahren. Vielleicht stellt sie zu diesem Zweck sogar den Turbo ein. Das Piktogramm hat Rafael im Cockpit schon ins Visier genommen. „Wenn wir auf Hase drehen, dann flitzen wir, Mama.“


Information: Das Beratungsangebot der Stadt Köln im Pflegekinderdienst ist zu erreichen über pflegekinderdienst@stadt-koeln.de oder die Service-Nummer: 0221/221-24372