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Soforthilfe bei Gewalt gegen KinderSo arbeitet das Notfall-Team des Kölner Jugendamtes

Lesezeit 5 Minuten
Ein Mann hält ein Kind fest am Arm (gestellte Szene).

Das Kölner Jugendamt erhielt im Vorjahr jeden Tag durchschnittlich 13 Hinweise auf ein gefährdetes Kind (Symbolbild, gestellte Szene).

Ein spezielles Team des Jugendamts geht in Köln rund um die Uhr Hinweisen nach auf Kinder, die in Gefahr schweben.

Es ist der Nikolaustag voriges Jahr, ein Mittwoch, als eine Kinderärztin die Nummer eines Bezirksjugendamtes in Köln wählt. Soeben sei eine Mutter mit ihrem zweijährigen Sohn bei ihr gewesen, berichtet die Ärztin am Telefon. Sie habe Hämatome im Gesicht und am Gesäß des Jungen festgestellt. Es seien auch Abdrücke sichtbar gewesen, vermutlich von einer Hand. An einem Ohr sei die Haut eingerissen.

Die Behauptung der Mutter, der Junge sei vom Stuhl gefallen, überzeugt die Ärztin nicht. Sie habe die Frau aufgefordert, das Kind ins Krankenhaus zu bringen. Aber die Mutter habe gefleht, dort nicht hin zu müssen. Ob sie letztlich mit dem Kind in der Klink war oder nicht, das wisse sie nicht, sagt die Ärztin. Deshalb rufe sie an.

Köln: 13 Hinweise auf gefährdete Kinder pro Tag

Für das Jugendamt ist dies einer von 4859 Hinweisen im Vorjahr, dass irgendwo in Köln ein Kind gefährdet sein könnte – ein Rekordwert in den vergangenen Jahren. Die Meldungen kommen oft von Polizisten, von Kinderärztinnen, von Nachbarn oder Lehrerinnen.

Aber wie kann das Jugendamt konkret helfen? Wie arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des „Gefährdungsmeldungs-Sofortdienstes“ (GSD), das Notfall-Team der Behörde? Und woher kommt eigentlich das oft schlechte Image der Kinderschützer?

Dagmar Niederlein leitet das Kölner Jugendamt. An einem Vormittag Anfang März sitzt sie in ihrem Büro im fünften Stock des Kalk-Karrees am Ottmar-Pohl-Platz. Sie kenne das Vorurteil der „Kinderklaubehörde“ sagt Niederlein. Das Stigma der bösen Menschen vom Amt, die Kinder aus ihren Familien reißen und ins Heim stecken.

Porträtfoto von Dagmar Niederlein, Leiterin des Kölner Jugendamtes

Dagmar Niederlein, Leiterin des Kölner Jugendamtes

Es gibt diese Fälle, in denen die Eltern überzeugt sind, sie kriegen das schon hin, Jugendamt und Familiengericht aber anderer Auffassung sind und die Kinder von ihren Eltern trennen. Aber das ist nicht die Regel.

Grundsätzlich hätten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter genau das Gegenteil im Sinn, sagt Niederlein. Knapp 12.500-mal leistete das Jugendamt voriges Jahr in Familien so genannte „Hilfen zur Erziehung“ – meistens, weil überforderte Eltern selbst die Behörde um Unterstützung baten. „Wir bieten sehr viele unterschiedliche ‚Hilfen zur Erziehung‘ an, damit genau die Herausnahme nicht nötig wird. Damit das Kind genau da bleiben kann, wo es aus unserer Sicht hingehört: in seiner Familie.“ Was allerdings voraussetze, dass die Familie auch in der Lage sei, dem Kind das zu geben, was es brauche: „Sicherheit, Geborgenheit und Schutz.“ Und das zu entscheiden, richtig zu entscheiden, das sei das Spannungsfeld, in dem sich jedes Jugendamt bewege.

Köln: Zweijähriger Junge mit Einriss-Spuren am Ohr

Der Mitarbeiter am Telefon nimmt die Meldung der Kinderärztin ernst. Zwei Kollegen des GSD werden mit dem Fall betraut. Sie rufen in der Klinik an und erfahren: Mutter und Sohn waren nicht da. Die Sozialarbeiter fahren zur Wohnung der Familie am Kölner Stadtrand. Niemand öffnet. Am Abend meldet sich das Krankenhaus: Mutter und Sohn seien nun doch erschienen, man habe sie stationär aufgenommen.

Zwei Tage später. Runder Tisch im Krankenhaus mit den Eltern, einer Klinikärztin, der Kliniksozialarbeiterin und den beiden GSD-Kräften. Die Rechtsmedizin hat herausgefunden, dass der Junge ins Gesicht geschlagen wurde, wahrscheinlich mit der flachen Hand. Jemand hat ihm an den Ohren gezogen, daher die Einrisse. Die Eltern beteuern, sie waren es nicht. Er sei ein sehr aktives Kind, falle oft hin, daher die Hämatome. In ihrer Familie sei „alles in Ordnung“, sagen sie.

Wenn man genauer hinguckt, sind es in den meisten Fällen die Eltern oder das nähere Umfeld, die dafür sorgen, dass ein Kind auffällig wird
André Withalm, Sozialarbeiter beim Jugendamt in Köln

„Eine Familie ist ein System“, sagt André Withalm, Sozialarbeiter beim GSD im Bezirksjugendamt Köln-Mülheim. „Oft ist ein Kind auffällig, aber wenn man genauer hinguckt, sind es in den meisten Fällen die Eltern oder das nähere Umfeld, die dafür sorgen, dass dieses Kind auffällig wird.“ Überforderung, Trennungsstreits, häusliche Gewalt, psychische Probleme oder Suchtkrankheiten der Eltern sind die häufigsten Gründe dafür, dass eine Familie in Schieflage gerät.

Porträtfoto von André Withalm, Sozialarbeiter im Bezirksjugendamt Köln-Mülheim

André Withalm, Sozialarbeiter im Bezirksjugendamt Köln-Mülheim

Bei jedem neuen Fall klären die Jugendamtsmitarbeiter von GSD und ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) in Gesprächen mit Eltern und Kindern erst einmal die Familiensituation ab. Oft wird im zweiten Schritt eine so genannte Sozialpädagogische Familienhilfe eingesetzt, eine Fachkraft, die die Familie im Alltag beobachtet und konkret dabei unterstützt, einen strukturierten Tagesablauf zu gestalten. „Beispielsweise filmt man eine Essenssituation und erarbeitet dann mit den Eltern, wie die Kommunikation da gelaufen ist, indem man sich das nochmal miteinander anschaut“, berichtet Niederlein.

Entscheidend sei, die passgenaue Hilfe für jeden Einzelfall zu finden, betont André Withalm. Mal genügt die Begleitung durch eine Familienhilfe für einige Monate, mal muss eine Therapeutin hinzugezogen werden, mal ein Schuldnerberater. Mal geht das Kind für einige Wochen nach der Schule in eine sozialpädagogische Tagesgruppe, mal wird es vorübergehend in einer Wohngruppe untergebracht, betreut von Sozialarbeitern.

Köln: Geschätzt jeder 20. Fall landet vor Gericht

So genannte „Inobhutnahmen“ oder sogar Sorgerechtsentziehungen seien das letzte Mittel, sagt Niederlein. Sie schätzt, dass 95 Prozent aller Fälle außergerichtlich gelöst werden. „Für uns ist der Gang zum Gericht immer Ultima Ratio. Wir tun das nur, wenn die Eltern überhaupt kein Einsichtsvermögen zeigen.“

Mutter und Vater bleiben dabei: Sie schlügen ihren Sohn nicht. Aber das Gutachten der Rechtsmedizin ist eindeutig. Der Riss am Ohr und die Hämatome im Gesicht des Zweijährigen sind nicht anders zu erklären. Das Jugendamt sieht keine Alternative: Zu seinem Schutz wird der Junge in Obhut genommen und vorläufig im Kinderkrankenhaus untergebracht.

Die Wohnung darf ruhig ein bisschen durcheinander sein, solange das Hauptaugenmerk auf dem Kind liegt
André Withalm, Sozialarbeiter beim Jugendamt in Köln

Noch am selben Tag beauftragt die Behörde eine Familienhilfe, die von nun an mit den Eltern und dem Kind arbeiten wird. Ein Glücksfall, dass es so schnell geht – denn die Familienhilfen kommen von freien Trägern der Jugendhilfe, und dort herrscht Personalmangel. Mitunter dauert es eine Weile, bis eine geeignete Fachkraft gefunden ist.

Die geschulte Pädagogin gewinnt rasch das Vertrauen der Eltern, der Junge darf in die Familie zurückkehren. Die Mutter räumt ein, ihren Sohn geschlagen zu haben. Sie sei überfordert gewesen. Es stellt sich heraus, dass sie großen Wert darauf legt, die Wohnung sauber und ordentlich zu halten.

Die Eltern stimmen regelmäßigen Kontrollbesuchen des Jugendamtes zu. Einmal pro Woche begleitet eine Fachkraft Mutter und Kind zur Kinderärztin, die den Jungen auf Misshandlungsspuren untersucht. Doch es gibt keine neuen Verletzungen, die Familie ist auf einem guten Weg.

André Withalm hofft, dass die Familienhilfe bald beendet werden kann. Die Mutter müsse noch lernen, richtige Prioritäten zu setzen. „Die Wohnung darf ruhig auch ein bisschen durcheinander sein“, sagt Withalm, „solange das Hauptaugenmerk auf dem Kind liegt.“