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„Ich wurde gefoltert und geschlagen“Kölnerin Hozan Cane erzählt ihre Geschichte

Lesezeit 11 Minuten
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 Gönül Örs (l.) und Hozan Cane

Köln – Tagsüber, sagt Hozan Cane, gehe es ihr gut. Sie habe wieder angefangen zu singen, gehe spazieren, genieße den Blick in den Himmel und das gleichgültige Fließen des Rheins. Schwer seien die Nächte. Heute Nacht habe sie geträumt, auf einer Klippe zu stehen, vor ihr das graue Meer, kein Ausweg zur Flucht. „Plötzlich kamen Soldaten auf mich zu und wollten mich von der Klippe stoßen.“

Gönül Örs berührt ihre Mutter sanft an der Schulter, Cane versucht ein Lächeln. Sie sitzen auf einer Terrasse, sie sind in Sicherheit, in Köln, an einem Ort, den niemand kennen soll. Sie essen Obst und erzählen. Die Realität ist friedlich, der Spätsommertag mild, doch genauso real sind die Erlebnisse aus dem Gefängnis, aus dem Hausarrest, aus der eigenen Biografie. Gedanken, die Örs meist gut im Griff hat. Ihre Mutter nicht.

Albträume und Zukunftspläne

Auf Fotos, die in den Nachrichten gezeigt wurden, als sie in der Türkei in Haft waren, sehen die beiden aus wie Geschwister, von denen man nicht sagen könnte, welche die ältere ist.

Das liegt daran, dass Hozan Cane und Gönül Örs nur wenige Jahre trennen: Cane, die aus einer kurdischen Provinz in der Türkei kommt, wurde verheiratet, als sie ein Kind war. Ihre Mutter, die nach dem frühen Tod des Vaters neun Kinder großziehen musste, wollte es so, wurde vielleicht auch dazu gedrängt, um „die Ehre der Familie zu retten“.

Zwangsheirat als Kind, Mutter mit 13

Ihre Tochter Gönül bekam Cane, als sie gerade 13 war. Sie habe ihren ungefähr 20 Jahre älteren Mann zunächst nicht abstoßend gefunden, sagt sie leise. „Als er mich aber geschlagen hat und all diese Dinge mit mir gemacht hat, die ich nicht wollte, habe ich ihn nur noch gehasst.“ Als ihr Mann ihr eher beiläufig mitteilte, sich eine zweite Frau nehmen zu wollen, was damals fast jeder Mann in der Gegend getan habe, fasste Hozan Cane den Entschluss, ihn zu verlassen. Seine Reaktion, als sie ihm sagte, was sie vorhatte: Dann werde er sie töten.

Es kommt einem ungehörig vor, mit Hozan Cane an diesem Tag über ihr Leben zu sprechen. Sie ist erst vor wenigen Wochen aus dem Gefängnis entlassen worden, sie ist noch nicht lange wieder in Deutschland. Ihr ist anzusehen, wie müde sie ist. Sie bewegt sich verlangsamt, die Stimme ist brüchig, sie wirkt zerbrechlich, doch sprechen möchte sie, ihre Geschichte sollen möglichst viele Menschen kennen, nicht nur die kurdische Community, für die sie eine Heldin ist.

Verhaftung im Juni 2018

Bekannt ist von ihrer Geschichte bislang nur die Oberfläche, also fast nichts: Dass sie am 23. Juni 2018 verhaftet wurde, als sie bei einer Wahlkampfveranstaltung der prokurdischen Partei HDP sang. „Keine politischen Lieder, Lieder über Kurden, Hochzeitslieder, ich habe nur Hochzeitslieder gesungen, weil zeitgleich zu der Veranstaltung auch eine Hochzeit stattfand."

Bekannt ist, dass sie von einem türkischen Gericht am 14. November 2018 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft der als Terrororganisation eingestuften PKK zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt wurde. Das Urteil wurde unter anderem mit einem Foto auf Facebook begründet, das Cane mit einem PKK-Chef zeigte, und mit einem Film Canes über den Genozid des Islamischen Staat an den Jesiden.

Cane sagt, sie sei „niemals Mitglied einer Terrororganisation“ gewesen.

Tochter Gönül am Flughafen festgenommen

Bekannt ist, dass ihre Tochter Gönül im Mai 2019 aus Köln einreiste und am Flughafen festgenommen wurde, dass Gönül Örs nach ihrer Freilassung zunächst mit einer Ausreisesperre belegt wurde, im September 2019 in Untersuchungshaft kam, und später mit Hausarrest belegt wurde, als sie versucht hatte, aus der Türkei zu fliehen. „Ich wollte einfach nach Hause“, sagt Örs.

Am 3. September 2020 wurde angeordnet, dass Hozan Cane weiter in Untersuchungshaft bleibt, am 30. September wurde sie aber aus heiterem Himmel aus der Haft entlassen, durfte aber wie ihre Tochter die Türkei nicht verlassen. „Den Grund wissen wir bis heute nicht. Es zeigt die ganze Willkür der Justiz“, sagt Gönül Örs. Im Juni dieses Jahres wurde Gönül Örs wegen vermeintlicher Terrorpropaganda zu zehn Jahren und fünf Monaten Haft verurteilt. Wenige Wochen später durfte sie ähnlich überraschend nach Deutschland ausreisen wie ihre Mutter einige Wochen später. Obwohl der Prozess gegen Hozan Cane neu verhandelt wird – diesen Montag wird gegen sie prozessiert, während sie in Köln sitzt und sich von ihrem Anwalt über das Ergebnis informieren lässt.

OB Reker empfängt Cane und Örs

Wenn Gönül Örs und Hozan Cane Terroristen wären, wäre es unverantwortlich vom türkischen Staat gewesen, sie ausreisen zu lassen. Cane aber wird in der kommenden Woche von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker empfangen, auch Örs hat Reker schon empfangen. Ihnen wird öffentlich für ihr Engagement für Menschenrechte gedankt. Weniger laut als dem Journalisten Deniz Yücel oder dem Menschenrechtler Peter Steudtner, aber doch vernehmlich werden Hozan Cane und Gönül Örs in Deutschland für ihre Zivilcourage gefeiert.

Weil Menschen, die sich friedlich für die Rechte von Minderheiten einsetzen, in Deutschland nicht als Terroristen gelten. Staatspräsident Erdogan, der jüngst ein Buch mit dem Titel „Eine gerechte Welt ist möglich“ geschrieben hat, verleumdet jeden Andersdenkenden, der sich gegen ihn stellt, als Terroristen.

Geschichte wie aus einem Roman von Kafka

Der Kölner Schriftteller Dogan Akhanli, der ebenfalls grundlos in der Türkei inhaftiert wurde, hat den allgegenwärtigen Verdacht gegen Regimekritiker in der Türkei immer wieder eine „kafkaeske Situation“ genannt. Niemand soll sich sicher sein, bis die Angst den Willen möglichst jedes eigenständig denkenden Menschen bricht.

Das Leben in der Türkei ist unter Erdogan zu einem absurden Theater geworden, lautet Akhanlis Diagnose. Einem Theater von Angst und Bedrohung, von Propaganda in gleichgeschalteten Medien, Verschwörungstheorien und der Verfolgung von Minderheiten wie den Kurden.

Zehn Jahre Haft für Demonstration in Köln

Gönül Örs sagt, sie sei immer für die Rechte von Kurden und anderen Minderheiten eingetreten, auch bei jener Kundgebung 2012 in Köln, mit der sie auf einem Ausflugsdampfer auf hungerstreikende Kurden aufmerksam machen wollte – eine Aktion, für die die türkische Justiz sie zu zehn Jahren und fünf Monaten Haft verurteilt hat. „Aber ich war nie Mitglied einer Terrororganisation, ich habe nie das Gesetz gebrochen“, sagt Örs, die anprangert, dass deutsche Gerichtsakten nach der Einstellung des Verfahrens in Köln „an die türkische Justiz weitergereicht“ worden seien. Es sei ein „gewaltiger Unterschied, ob wir uns gegen die Assimilierung der kurdischen Kultur und die Benachteiligung von Kurden in der Türkei wenden – oder Terroristen sind. Meine Mutter singt, ich demonstriere. Das sind keine Verbrechen.“

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Hozan Cane in ihrer Kölner Wohnung

Hozan Canes Blick geht ins Leere. Wenn ihre Tochter Deutsch spricht, versteht sie nicht alles. Sie habe im Gefängnis „ein bisschen verlernt, Deutsch zu sprechen“, sagt sie. „Entschuldigung.“ Und nickt doch heftig, als Örs sagt, sie habe nie das Gesetz gebrochen. „Das ist bei mir genauso“, flüstert sie. „Ich bin Sängerin. Ich war immer Sängerin. Und ich werde immer Sängerin bleiben und immer auch auf Kurdisch singen.“

Die Verfolgungsgeschichte der Kurden ist lang. Schon der türkische Staatsgründer Atatürk ließ 1925 einen Kurdenaufstand niederschlagen. Lange leugnete der türkische Staat die Existenz von Kurden, verbot es Menschen, öffentlich Kurdisch zu sprechen und zu singen, zwang die Menschen, sich zu assimilieren. Örs nennt sich offiziell mit Vornamen Gönül, weil ihr kurdischer Vorname Dilan zwischenzeitlich verboten war - und sie wegen ihres Vornamens Repressalien befürchtete.

1978 entstand die PKK, die unter ihrem Anführer Abdullah Öcalan auch bewaffnet für die Unabhängigkeit der Kurden kämpfte. Die PKK gilt in den USA, der EU und der Türkei als Terrororganisation. Der damalige Ministerpräsident Erdogan hatte 2005 für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage geworben und den Kurden mehr Mitsprache eingeräumt. In den vergangenen Jahren hat er seine Haltung radikal verändert – führende Kurdenvertreter wie den Chef der Kurdenpartei HDP Selattin Demirtas ließ Erdogan inhaftieren.

Film über Verfolgung der Jesiden

Hozan Cane, die den Film „74th Genocide Sengal“ über die Verfolgung der Jesiden durch den Islamischen Staat drehte, der beim Filmfestival in Cannes gezeigt wurde, ist eine bedeutende Künstlerin, die öffentlich für die Gleichberechtigung der Kurden eintritt – und dem Regime deswegen ein Dorn im Auge.

Kurz nach der Todesdrohung ihres Mannes floh Hozan Cane als 15-Jährige mit ihrer Mutter und der kleinen Gönül zu ihrem älteren Bruder aus den Bergen in die Großstadt Adana. Als sie dort nicht mehr sicher war, weil die Familie erfuhr, wo sie war, zog sie zu einer älteren Schwester nach Istanbul. Dort lernte sie den kurdischen Sänger Arif Sag kennen, der ihr Gesangstalent erkannte und sie mit zu Konzerten nahm.

Gefoltert und vergewaltigt mit 18

Sie war 18, als sie auf einer Veranstaltung kurdische Lieder sang. Nach dem Konzert hörte sie über Walkie Talkies Polizistenstimmen sagen: „Wir haben die Terroristin.“ Von Politik, sagt Hozan Cane, „wusste ich zu diesem Zeitpunkt nichts. Nullkommanichts.“ Von ungefähr zehn Männern sei sie überwältigt worden. Man habe ihr die Augen verbunden, sie gefesselt und in einen Keller verschleppt. Dort habe man sie immer wieder mit einem Namen konfrontiert, den sie nicht kannte. Zu schwören, den Namen nicht zu kennen, habe ihr nicht geholfen: „Man hat mich gefoltert, geschlagen, nackt ausgezogen, ich habe Stromschläge auf die Brustwarzen bekommen, man hat mich mit Stöcken vergewaltigt. Es war so brutal, dass ich meinen Körper irgendwann nicht mehr spürte. 15 Tage ging das so.“

Hozan Cane erzählt das so unaufgeregt wie das viele Menschen tun, die in Diktaturen gefoltert wurden. Wer in einer kafkaesken Welt lebt, weiß, dass er niemals sicher ist.

Erneuter Überfall

Irgendwann sei sie, halb tot gefoltert, in ein Militärkrankenhaus gebracht worden. Neun Monaten blieb sie in Gefangenschaft. „In dieser Zeit habe ich erfahren, worum es in der Kurdenfrage überhaupt geht. Von der Unterdrückung meines Volkes in der Geschichte und der Forderung der Türken nach Assimilierung.“ Als sie entlassen wurde, sagte man ihr, sie wisse wohl wirklich nichts. „Ich war jetzt allerdings nicht mehr naiv. Die Folter und das Gefängnis haben mich politisiert“, sagt Hozan Cane.

Fortan hält sie es mit Sisyphos, der den Stein immer wieder den Berg hinaufrollte. Wieder wird sie auf eine Veranstaltung eingeladen, von einer kurdischen Partei dieses Mal, wieder singt sie kurdische Lieder. Nach dem Konzert steigt sie mit den anderen in ein Taxi. Das Taxi wird aufgehalten, die Musiker werden von sechs oder sieben maskierten Männern überwältigt. Sie fahren in ein Waldstück am Rande der Stadt. Mit den ersten Schlägen setzt Canes Erinnerung aus. Als sie zu sich kommt, ist ihr Bauch aufgeschlitzt und voller Blut, ein Musikerfreund liegt leblos neben ihr. „Sie dachten wohl, ich sei auch tot“, sagt sie. Doch sie lebt. Ihre Eingeweide quellen aus dem Bauchraum, Cane wird notoperiert. Und weiß, dass sie in der Türkei nicht mehr leben kann.

Ihre Mutter war für Gönül Örs eine Fremde

Bekannte besorgen ihr einen Ausweis, 1993 beantragt sie Asyl in Deutschland. Tochter Gönül bleibt bei der Großmutter in der Türkei. Im September 1995 kommt die Tochter nach Deutschland, „zu einer Frau, die meine Mutter sein sollte“, sagt Gönül Örs und lacht. „Am Anfang war sie für mich eine fremde Frau – ich war ja von meiner Oma großgezogen worden“ Längst verbindet ihre gemeinsame Geschichte sie innig.

Bei Chai-Tee und Gebäck erzählen sie von ihren Traumata, die sie nie zu Opfern gemacht hätten. Örs war drei Monate in Untersuchungshaft und stand sieben Monate unter Hausarrest. In der Zeit trug sie eine elektronische Fußfessel, jeder Schritt nach draußen hätte sie ins Gefängnis gebracht. „In dieser Zeit hatte ich Depressionen, ich konnte nicht schlafen, hatte Albträume. Ich habe mich gefühlt wie ein eingesperrtes Tier im Käfig.“ Die Mutter sagt immer wieder, dass sie keine verbotenen Lieder gespielt habe, weder bei ihrer ersten Verhaftung noch bei jener im September 2018. Zwischendurch nimmt sie eine Laute von der Wand und summt.

Tochter in der Mutterrolle

Immer wieder fragt Gönül Örs ihre Mutter, ob sie noch Tee wolle, oder etwas zu essen, ob sie sich gut fühle, sie weiter sprechen könne. Seit der Zeit in der Türkei ist die Tochter oft die Mutter. Hozan Cane haben die vergangenen drei Jahre schwer zugesetzt, gebrochen hat sie die Haft nicht. Sie ist schon wieder aufgetreten. Und sucht Gastauftritte mit bekannten Bands jenseits der kurdischen Gemeinschaft. Die Welt soll ihr zuhören. „Ich denke, es ist wichtig, wenn sehr viele Menschen von unserer Geschichte erfahren“, sagt Gönül Örs. Wie ihre Mutter will sie ihre Geschichte auch aufschreiben.

Die Bedeutung von Solidarität

Mehrfach betonen Mutter und Tochter, wie wichtig es ihnen ist, jenen zu danken, die sie unterstützt haben während ihrer Zeit in Haft und Arrest in der Türkei. Sie nennen ihre Familie, den Kölner Linken-Politiker Jörg Detjen und die ehemalige Landesministerin Anke Brunn, die SPD-Politiker Frank Schwabe und Rolf Mützenich, den Journalisten Günter Wallraff, die Kölner OB Henriette Reker, die Journalistin Claudia Kuhland, die kurdische Gemeinde Deutschland und einige Medien, die über sie berichteten.

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Hozan Cane und Gönül Örs haben längst nicht immer Solidarität erfahren. Im Vergleich zur Kampagne für die Freilassung des „Welt“-Journalisten Deniz Yücel verhielt sich die Öffentlichkeit zurückhaltend. Yücel sei ja ein bekannter Mensch, sagt Örs, „das war sein Glück“. Desto wichtiger sei für ihre Mutter und sie jeder Brief, jede Mail und jeder Bericht gewesen, der auf ihre Situation hinwies und auf die Willkür der türkischen Justiz. Der aufmerksam machte auf einen Staat wie aus einer Kafka-Welt, den es wirklich gibt. „Für Menschen, die nie zu Unrecht in Haft waren und nie in einem Unrechtsregime gelebt haben, ist es nicht vorstellbar, wie es ist, ständig in Unsicherheit zu leben“, sagt Örs. „Man weiß dann auch nicht, wie wichtig Solidarität ist.“