- Monika Kleine ist Geschäftsführerin des „Sozialdienstes katholischer Frauen“ (SkF) in Köln. Sie sitzt in dem von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) einberufenen Expertenrat zur Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgen.
- Im Interview erklärt Kleine, wie der sehr unterschiedlich zusammengesetzt Expertenrat arbeitet und was die größten Herausforderungen sind.
- Für sie steht fest: „Die psychischen und sozialen Belastungen werden durch die Corona-Krise mittelfristig noch steigen.”
- Das betreffe auch die häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder – in ihren Augen ein riesiges Problem.
Köln – Frau Kleine, Sie gehören zum Beraterkreis von Ministerpräsident Armin Laschet in der Corona-Krise. Wie sehen Sie die Arbeit des Gremiums und Laschets Umgang damit?
Ich habe den Ministerpräsidenten sehr klar erlebt in seinem Versuch, sich ein umfassendes Bild zu verschaffen, in das Perspektiven der Medizin, der Wirtschaft, der Soziologie und Ethik, aber auch der sozialen Arbeit eingehen sollten. Wir haben für unsere Arbeit drei Phasen definiert. Phase 1: Verbreitung des Virus eindämmen, Behandlungskapazitäten ausbauen, Faktenwissen generieren. Darauf lag der Schwerpunkt bis zum 15. April.
Dem Tag, an dem der Bund und die Länder ihre Exit-Beschlüsse gefasst haben.
Genau. Danach sind wir in Phase 2 eingetreten: die schrittweise Wiederöffnung des sozialen und öffentlichen Lebens. Phase 3 wird dann die Stabilisierung einer „verantwortungsvollen Normalität“ sein, wie Armin Laschet das nennt. Wir haben in unseren Empfehlungen eine Reihe von Schrittfolgen oder Verknüpfungen festgelegt. Man kann zum Beispiel nicht die Wirtschaft hochfahren, ohne die Kinderbetreuung zu gewährleisten.
Sie erwähnten die verschiedenen Zugänge der Mitglieder im Expertenrat. Gibt es eine allen gemeinsame zentrale Perspektive?
Wie kann man Lockerungen und Öffnungen so vornehmen, dass das Gesundheitssystem nicht überfordert wird? Das ist – wenn Sie so wollen – die „Verknüpfung Null“. Deswegen war es so wichtig, dafür genügend Faktenwissen und Detailkenntnisse zu sammeln.
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat dazu sehr dezidierte – und sehr kontrovers diskutierte – Auffassungen.
Für die er aber erstens sehr plausible Begründungen gibt und zweitens erklärtermaßen auch vieles offen lässt. Er tritt in unseren Runden jedenfalls nicht als der Welterklärer auf, der für alle Fragen die ultimative Antwort hat. Für den Fachmann wie für den Laien ist so manches ja auch schwer erklärlich.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Wenn man sich die Verbreitung des Virus auf dieser inzwischen berühmt-berüchtigten Karnevalssitzung in Heinsberg anschaut: Wieso sind die Menschen am einen Tisch hinterher allesamt infiziert, die am Tisch daneben nur ganz punktuell? Darauf gibt es keine schlüssige Antwort. Oder: Was wird bei den steigenden Temperaturen im Sommer passieren? Verliert das Virus dann an Gefährlichkeit, so dass man jetzt schnellstmöglich lockern muss, um vielleicht doch so etwas wie eine Durchseuchung der Bevölkerung zu erreichen? Oder muss man die Kontaktbeschränkungen in der jetzigen Stringenz weiterführen? Zu solchen Fragen im Streit der Virologen habe ich wenig beizusteuern – außer meiner persönlichen Meinung. Ich würde mich sonst komplett überheben. Ist nun der Faktor R mit der Ansteckungsrate oder die Verdopplungszahl der entscheidende Parameter für das weitere Vorgehen? Keine Ahnung!
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An welchen Stellen pochen Sie dann darauf, dass Sie Ahnung haben?
Was ich inzwischen verstanden habe: Wir werden das Virus nicht einfach los. Wir werden lernen müssen, damit zu leben. Und das heißt auch: Wir werden auch lernen müssen, unseren Alltag komplett neu zu organisieren – mit wirtschaftlicher Tätigkeit, Arbeiten, Schule und Kinderbetreuung, mit dem kulturellen und sozialen Leben. Die anfängliche Vorstellung eines mehr oder weniger fixen Enddatums – „bis dahin ist das Virus weggeschafft“ – hat sich weitgehend verflüchtigt. Bevor nicht 2021 oder wann auch immer ein Impfstoff beziehungsweise ein Medikament gegen Covid-19 verfügbar ist, können wir das vergessen.
Die Krise als Dauermodus?
Wir müssen jedenfalls von einer längeren Zeitschiene ausgehen. Das ist der Fokus unserer Phase 2 mit der vorsichtigen Öffnung des Lebens.
Mit der Zeit dürften die Interessen-Unterschiede größer werden – etwa zwischen wirtschaftlichen und sozialen Belangen, oder?
Mir ist es deshalb wichtig, im Expertenrat auf Fragen und Probleme aufmerksam zu machen, die unterhalb des Radars der Virologen oder der Wirtschaftsvertreter liegen. Was passiert mit den Menschen, die plötzlich in einer faktischen Isolation sind? Was passiert mit den Kindern, die wortwörtlich Hunger leiden, weil das Schul-Essen ausfällt? Was mit Obdachlosen oder Langzeitarbeitslosen? Ich sehe mich als Interessenvertreterin derjenigen, die sonst in solch einer Runde keine Lobby hätten. Bestimmte Entscheidungen werden sich dabei immer im Raum zwischen Versuch und Irrtum bewegen. Das war auch ein Thema im Expertenrat.
Was haben Sie da diskutiert?
Es träumen jetzt viele von einem gesicherten Vorgehen und einem Entscheider, der sagt: „So machen wir das jetzt, und damit ist es gut“. Dabei wird zunehmend klar, dass es anders laufen muss: Wir werden in aller Achtsamkeit Öffnungen vornehmen – aber immer in dem Bewusstsein, dass wir nicht davor gefeit sind, erneut an eine Stopp-Stelle geraten und den Rückwärtsgang einlegen zu müssen. Manches können wir nur ausprobieren – mit der Möglichkeit der Revision. Mit dieser Dynamik eines Vor und Zurück haben wir als Gesellschaft noch überhaupt keine Erfahrungen.
Zur Person
Monika Kleine, geb. 1958, ist seit 1993 Geschäftsführerin des „Sozialdienstes katholischer Frauen“ (SkF) in Köln. Die studierte Sozialpädagogin hat zuvor in der Jugendhilfe und der Schwangerenkonfliktberatung gearbeitet. Im März berief NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) Kleine in seinen zwölfköpfigen Expertenrat zur Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgen.Der SkF ist ein bundesweit tätiger kirchlicher Fachverband, der sich vor allem für benachteiligte Kinder und Jugendliche, Behinderte und Frauen in besonderen Gefährdungssituationen engagiert. (jf)
Was folgt daraus?
Unsere Gesellschaft hat es bis jetzt geschafft, sich zu disziplinieren, ohne dass eine absolute Ausgangssperre verhängt werden musste. Das verdient erst einmal hohe Anerkennung. Und damit muss man auch entsprechend wertschätzend umgehen und darf die Bereitschaft der Menschen nicht überreizen. Also können wir gar nicht anders, als immer wieder Lockerungen vorzunehmen, stets entlang der Maßgabe unserer „Verknüpfung Null“: Das Gesundheitssystem darf nicht überfordert werden.
Zumal dann ja auch der böse Gedanke von „Menschen-Experimenten“ im Raum steht: Wir gucken mal, wie viele Tote diese oder jene Maßnahme kostet.
Das ist nicht nur ein Gedanke. Auch darüber haben wir gesprochen – und sind zu dem eindeutigen Ergebnis gekommen, dass wir uns politisch und ethisch keine Radikalszenarien von Versuch und Irrtum leisten können, weil es um Menschen geht.
Sind die von Ihnen beispielhaft genannten sozialen Belange nach Ihrer Meinung angemessen berücksichtigt?
Das finde ich nicht. Da ist noch sehr viel Luft nach oben. Und das ist für mich – spätestens seit Freitag der vorigen Woche - auch eine Erkenntnis zur Arbeit des Expertenrats: Dieses Gremium kann abstrakt und auf der Metaebene Themen identifizieren. Das ist bis jetzt gut gelungen. Für den Bereich Kitas und Schulen zum Beispiel haben wir Fragen der Bildungsungerechtigkeit, der sozialen Benachteiligung sehr detailliert in den Blick genommen. Da habe ich auch den Ministerpräsidenten als sehr eindeutig erlebt, indem er etwa gesagt hat: Wir haben so viel in frühkindliche Bildung und soziale Förderung investiert. Das darf uns jetzt im Zuge der Krise nicht alles um die Ohren fliegen – genauso wenig wie die Wirtschaft. Aber es gibt eben noch weitaus mehr Fragen, die längst nicht zu Ende gedacht sind, und bei denen in der Praxis noch sehr viel mehr passieren muss.
Inwiefern ist Ihnen das ausgerechnet am vorigen Freitag klar geworden?
Bis zur Bund-Länder-Entscheidung vom 15. April ging es um Grundsatzentscheidung über das weitere Vorgehen. Es hätte ja auch sein können, dass der Lockdown bis auf weiteres unverändert erhalten bleibt. Das haben die Politiker anders entschieden. Damit sind wir aber jetzt in der Phase der Lockerungen, in der sich auch die sozialen Fragen noch einmal anders stellen.
Was heißt das?
Unser Kreis tagt ja weiter. Aber ich hätte gern die Sicherheit, dass die praktischen Belange genauso ernst und verbindlich genommen werden wie im Bereich Kita und Schulen. Dafür braucht es Zuständigkeiten in Ministerien, Behörden, Ämtern. Das habe ich auch klar gefordert. Ich denke zum Beispiel an die Sorge für behinderte Menschen, die in mancher Hinsicht in einer ganz ähnlichen Lage sind wie Demenz-Patienten in den Pflege-Einrichtungen: Auch sie verstehen nicht, was die Corona-Krise bedeutet und von ihnen verlangt. Überhaupt noch nicht in den Blick gekommen sind die Langzeitarbeitslosen. Warum ist zum Beispiel das Instrument der „Arbeitsgelegenheiten“ (AGH) von vornherein bis zum 30. Juni ausgesetzt? Damit ist klar, dass den Betroffenen nicht nur ihr (minimaler) Verdienst geraubt, sondern vor allem jedwede Struktur im Alltag und auch jede Form der psychosozialen Begleitung und Betreuung genommen. Warum fallen Inklusionsbetriebe für Menschen mit Behinderung nicht unter den Rettungsschirm? Das bringt die Träger ganz schnell an existenzielle Grenzen. Auch da drohen Strukturen wegzubrechen.
Viele dieser Einrichtungen sind in kirchlicher Trägerschaft. Kardinal Rainer Woelki hat gesagt, dass mit Ihnen als Geschäftsführerin des Kölner SkF auch die Kirchen mit im Expertenrat sitzen. Fühlen Sie sich neben den sozialen Belangen als auch Lobbyistin für den Ruf der Kirchen nach öffentlichen Gottesdiensten?
Ich will beides nicht gegeneinander ausgespielt wissen. In NRW habe ich die Kirchen mit Blick auf ihre soziale Verantwortung noch an keiner Stelle defensiv oder wackelig erlebt, im Gegenteil. Anders als in Bistümern außerhalb Nordrhein-Westfalens, hat Kardinal Woelki die Mittel für die sozialen Dienste nicht in Frage gestellt oder gar gekürzt. Mit seiner Essensausgabe an Obdachlose im Priesterseminar ist er zudem sehr symbolträchtig eingestiegen. Es wäre natürlich gut gewesen, wenn er dabei nicht so getan hätte, als wären die Betroffenen ohne ihn vergessen worden. Das haben wir ihm als katholische Sozialverbände, die wir gerade in der Obdachlosenhilfe sehr aktiv sind, auch deutlich gesagt. Aber grundsätzlich ist es ja gut, dass er was tut. Er lässt sich das etwas angehen. Daneben finde ich es total richtig, dass dem Bedürfnis nach gemeinschaftlicher religiöser Praxis genauso Rechnung getragen wird wie anderen Bedürfnissen in der Gesellschaft.
War das im Expertenrat umstritten?
Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil. Wir sind einhellig der Ansicht, dass die psychischen und sozialen Belastungen durch die Corona-Krise mittelfristig noch steigen werden und dass wir sie nicht unnötig auch noch vergrößern sollten. Der Verlust gottesdienstlicher Praxis ist aber für viele Menschen fraglos eine Belastung. Armin Laschet ist dafür ausgesprochen sensibel – anders als manche seiner Kollegen in südlicheren, angeblich so christlich geprägten Gefilden. Vom Bund gar nicht zu reden.
Mit Beginn der Kontaktbeschränkungen haben Sie – wie auch andere Institutionen – vor einer massiven Zunahme häuslicher Gewalt gewarnt. Die Zahlen geben das bislang nicht her.
Die Zahlen spiegeln die Realität, die wir täglich erleben, aber in keiner Weise realistisch wider. Die Bearbeitung von Verstößen gegen das Gewaltschutz-Gesetz war im Ausnahmebetrieb der Polizei und der städtischen Behörden längst nicht so möglich wie im Normalbetrieb. Vieles ging nur online, das Aufsuchen der Familien war oft nicht möglich. Anwälte waren zum Teil nur telefonisch tätig, ohne den persönlichen Kontakt. Auch die Gerichte arbeiteten nicht gewohnt, etwa beim Verhängen von Näherungsverboten. Vor allem aber wurde dort, wo es eine große professionelle Sensibilität und Achtsamkeit für häusliche Gewalt oder Kindeswohlgefährdung gibt, nicht gearbeitet. Kitas, Schulen, Übermittagsbetreuungen – die waren doch wochenlang nicht am Start. Woher sollten dann die Meldungen kommen? Demgegenüber verzeichnen wir an unserem Not-Telefon eine deutliche Zunahme, genau wie die Telefonseelsorge oder der Gefährdungsmeldungs-Sofortdienst (GSD) des Jugendamts.
Was ist mit Gewalt gegen Frauen?
Auch da ist das Problem immens, weil es immens im Moment immens schwer ist, Kontakt zu den Betroffenen aufzunehmen und zu halten. Noch fehlen uns valide Aussagen über die Folgen der Kontaktbeschränkungen. Es gibt zwar verlässliche Studien über die psychischen Folgen von Isolationshaft. Aber die lassen sich natürlich kaum auf die Corona-Krise übertragen. Glauben Sie mal nicht, dass es für Frauen so einfach wäre, online eine Anzeige gegen ihren Partner aufzugeben. Ganz unabhängig davon, ob wir in Corona-Zeiten sind oder nicht. Die Hürde ist hoch, und sie ist mit der anonymeren Form einer behördlichen Unterstützung – wie jetzt im Moment – sogar noch höher geworden.
Am Freitag trifft der Expertenrat wieder zusammen. Womit gehen Sie in die Sitzung?
Wir brauchen zunächst eine Übersicht, wie es mit den in Gang gekommenen Lockerungen geklappt hat. Bekommt man die Dinge gesteuert? Können wir so weitermachen? Das ist der eine Teil. Wenn wir das positiv beantworten, können die nächsten Themen im Grunde nur drei sein. Erstens: Welches Maß an Beschränkung von Grundrechten ist überhaupt noch akzeptabel? Das muss immer wieder und jetzt erst recht neu abgewogen werden. Zweitens: Was sind die nächsten Schritte zur Rückerlangung von Normalität? Und drittens: Wie nehmen wir die drängenden sozialen Probleme in Angriff, die bis jetzt noch nicht Teil des Regelwerks und seines Vollzuges sind?
Das Gespräch führte Joachim Frank