Kölner Psychologe warnt„Das Coronavirus führt immer mehr zu sozialen Anfeindungen”
- Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald beschäftigt sich ausgiebig mit aktuellen Phänomenen in der Gesellschaft. Er kann nicht nur auf den Punkt erklären, warum es angesichts des Coronavirus zu Hamsterkäufen und Hysterie kommt.
- Er warnt auch vor den zunehmenden sozialen Anfeindungen, die um sich greifen – und von der vor allem eine Gruppe betroffen ist.
- Lesen Sie hier das ganze Interview.
Köln – Herr Grünewald, das Coronavirus verbreitet Angst und Schrecken. Was fällt Ihnen als Psychologe dabei auf?
Die momentane Beunruhigung hängt damit zusammen, dass wir es mit einem fremden Erreger aus dem fernen Asien zu tun haben, über den wir recht wenig wissen. Wir sehen uns mit einer unbekannten Gefahr konfrontiert, die wir nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen können. Das heißt: Es gibt scheinbar überhaupt keine Handhabe dagegen. Eine solche Ohnmachtserfahrung ist kaum zu ertragen, weshalb wir uns ständig unserer eigenen Handlungsfähigkeit vergewissern wollen.
Wie zum Beispiel?
Durch die Hamsterkäufe demonstrieren die Menschen, dass sie das Heft des Handelns übernehmen können. Sie haben das souveräne Gefühl, wenigstens aktiv vorsorgen zu können, wenn sie sich schon nicht vollständig schützen können. Zumal die meisten Menschen inzwischen gehört haben, dass die Krankheit zwar meist glimpflich verläuft, ihnen aber trotzdem eine 14-tägige Quarantäne drohen kann. Das bedeutet, in den eigenen vier Wänden oder im Krankenhaus für zwei Wochen eingesperrt zu sein. Dieser einerseits bedrückende Gedanke hat andererseits auch etwas Verlockendes: Endlich mal raus aus dem ganzen Stress! Einfach mal nichts tun, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen! Ein unfreiwilliger und zugleich strafloser Rückzug , den man sich sonst in dieser Art höchstens an Weihnachten leistet. Und was machen die Leute vor den Feiertagen?
Sich mit Vorräten eindecken?
Eben. Der Hamsterkauf birgt insgeheim die Hoffnung, aus dem Hamsterrad ausbrechen zu können. Was wir zurzeit erleben, ähnelt insofern auch dem vorweihnachtlichen Bemühen, die eigene häusliche Verfassung bestmöglich auszustaffieren. Mit genügend Kohlenhydraten im Schrank kann man sich auch über potenziellen Stimmungskrisen, Beziehungskonflikte und Lagerkoller hinwegretten und sich richtig schön in Trance futtern. Hinzu kommt der Nachahmer-Effekt. Selbst wenn wir gar nicht vorhaben, uns beunruhigen zu lassen, sehen wir beim Einkaufen, dass andere die Regale leer räumen. Die Erregung verbreitet sich dann noch sehr viel schneller als der Erreger. Der braucht ein paar Tage, die Erregung nur ein paar Sekunden, bis sie uns packt und uns mit der Idee infiziert: Wenn ich jetzt nicht gleich mithamstere, bekomme ich am Ende nichts mehr ab.
Aber wenigstens ist die Erregung nicht so gefährlich wie der Erreger.
Das stimmt zweifellos. Dennoch entsteht derzeit ein zweiter Gefahrenherd für die Gesellschaft. Neben dem Erreger ist das die von ihm ausgelöste Erregung, die mitunter schon psychische Wellen schlägt, bevor die physische Gefahr überhaupt angekommen ist. An zunehmenden sozialen Anfeindungen ist das ablesbar.
Sie meinen, wenn sich jemand in der Drogerie den letzten Mundschutz krallt oder im Büro unkontrolliert herumhustet?
Genau. Oder wenn Infizierte wüst beschimpft werden, wie sie es wagen konnten, nach Italien zu reisen oder in Heinsberg Karneval zu feiern. Zudem besorgen mich die Bilder von der türkisch-griechischen Grenze, die Erinnerungen an die Flüchtlingskrise von 2015 aufkommen lassen.
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Wo sehen Sie hier den Zusammenhang zum Coronavirus?
Untersuchungen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 haben gezeigt, dass man die Ohnmachtserfahrung angesichts einer radioaktiven Verseuchung aus dem Osten wenige Monate später durch eine Kampagne gegen Flüchtlinge zu „behandeln“ suchte, die aus dem Osten in den Westen drängten. Flüchtlinge sind sichtbar, greifbar und notfalls mit Gewalt abzuwehren. Solch eine Vermenschlichung der Gefahr und die rigiden Reaktionen könnten sich in Zeiten von Corona allzu leicht wiederholen.
Sehen Sie Möglichkeiten, als Gesellschaft der Erregung Herr zu werden?
Jeder Einzelne kann seinen Beitrag leisten, dass die Erregung nicht weiter eskaliert. Ein Erstes: Mit Sachlichkeit und Nüchternheit die Dinge beim Namen nennen, für Transparenz sorgen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn macht da meines Erachtens einen guten Job. Ganz wichtig sind auch die kleinen Zeichen eines rationalen Umgangs mit der Situation: Hände waschen, die Nies-Etikette beachten. So etwas mindert das Gefühl der Ohnmacht. Und: Im Gespräch bleiben. Damit meine ich das richtige Gespräch – in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz. Die Schein-Kommunikation in den virtuellen Welten der sozialen Netzwerke hingegen fungiert eher als der perfekte Erregungsbeschleuniger.