Leben mit dem CoronavirusDer schmale Grat zwischen Wahnsinn und Verantwortung
- Sars-CoV-2-Angst ist ihr Name und sie ist ein neues Mitglied der Familie.
- Seit einigen Tagen kommentiert sie alles, was Spaß macht und Freiheit bedeutet, mit warnend hoch gezogenen Augenbrauen.
- Ein sehr persönlicher Lagebericht unserer Redakteurin Claudia Lehnen aus den Tagen der Pandemie – im Homeoffice.
Köln – Die Familie hat ein neues, unsichtbares, aber anspruchsvolles Mitglied bekommen: Die Corona-Sorge sitzt mit uns am Tisch. Sie hat sich sehr langsam eingeschlichen. Erst haben wir sie gar nicht ernst genommen. Sie saß da zwar rum, als wir den Zug in den Osterurlaub buchten und zog mahnend die Brauen in die Stirn. Aber wir haben sie einfach ignoriert. Sie war uns zu blöd. Ok, wir haben uns die Hände gewaschen. Aber diese Vorgabe war so ähnlich, als hätte jemand gesagt, man solle täglich zweimal Zähne putzen. Jetzt wirklich. Wir haben gelacht. Weiterhin nur 500 Gramm Nudeln auf einmal gekauft. Keinen einzigen Mundschutz. Türklinken mit bloßen Händen angefasst. Und den Aufzugsknopf auch. Mittlerweile ist dieses Virus penetrant geworden. Es nervt. Es verändert. Angefangen hat es damit, dass ich meine Eltern auslud.
Sie saßen fast schon im Auto, wollten einspringen, weil unsere Tagesmutter erkrankt ist. Sie kommen aus einer Kleinstadt in Franken, die Anreise ist weit, aber wenn sie helfen können, nehmen sie das in Kauf. Und wenn es nur für drei Tage ist. Ich habe dann manchmal ein schlechtes Gewissen, beruhige mich aber damit, dass unser Leben mit drei Kindern und zwei anstrengenden Jobs Argument genug ist, um ab und zu einfach mal gut gemeinte Hilfe anzunehmen.
Der erste Verdachtsfall in der Firma
Doch dann kam der Gangelter-Viren-Gau und plötzlich mehrten sich die Corona-Fälle in NRW. Die Einschläge kamen näher. Ein Verdachtsfall in der Firma, der sich aber als Fehlalarm herausstellte. Dann der Anruf einer befreundeten Mutter: Der Kollege ihres Mannes sei positiv getestet worden. Das war der Zeitpunkt, an dem ich etwas änderte. Ich rief meine Eltern an: „Ihr könnt nicht kommen. Es ist zu riskant.”
Dieser Text entsteht also quasi im Home-Office. Ich habe gerade die Große in ein Berufskolleg zum Vorstellungsgespräch gefahren und packe dort während der Wartezeit den Laptop aus. Der Jüngste robbt mit seinem Spielzeugauto durch die gesamte Empfangshalle. Er sabbert ein bisschen. Die Virus-Angst schneidet eine Grimasse. Panik machen? Verantwortung übernehmen? Den schmalen Grat dazwischen zu treffen, ist in diesen Corona-Zeiten eine Herausforderung.
Widersprüchliche Ratschläge von allen Seiten
Ich versuche, mich auf Experten zu verlassen. Wie immer im Leben. Ich gerate nicht in Panik. In unserem Gefrierfach liegen immer noch nur eine Familienpackung Kaktus-Eis und zwei Pizzen. Und doch habe ich viel häufiger als sonst den Eindruck, selbst entscheiden zu müssen, was nun richtig ist. Zu widersprüchlich erscheinen die Ratschläge, die von allen Seiten auf einen einprasseln. Meine Schwester, die in Bayern als Grundschullehrerin arbeitet, berichtet, dass Kinder, die ihre Faschingsferien in Norditalien verbracht haben, am Montag nicht in die Schule kommen sollten. Lehrer aus gleicher Richtung dagegen schon.
Der Vater eines Kindes, das mit unserem Sohn zur Tagesmutter geht, steht unter häuslicher Quarantäne. Weil er mit einem Kollegen am Tisch saß, der infiziert ist. Seine Frau und das Kind könnten normal zur Arbeit und in die Betreuung gehen, versicherte das Gesundheitsamt. Vorsichtshalber sollte das Paar aber in getrennten Betten schlafen, der Mann einen Mundschutz tragen.
Virenschleuder niesendes Kleinkind
Ich habe keine Angst, für Menschen unseren Alters ohne nennenswerte Vorerkrankungen ist das Virus höchstwahrscheinlich harmlos. Aber ich wittere Ungereimtheiten in dieser Maßnahme. Ist es nicht wahrscheinlich, dass der Vater seinen knapp dreijährigen Jungen, der sich um Hygieneregeln jetzt nicht sonderlich schert, und seine Frau, mit der er bislang ja auch Tisch und Bett teilte, mit hoher Wahrscheinlichkeit schon abgesteckt hat, falls er selbst infiziert ist?
Dann tragen vielleicht auch wir das Virus munter weiter. Die Großen in die Schule, der Kleine niesend (das mit der Armbeuge ist ihm schwer zu vermitteln) über den halben Spielplatz, wir im Büro, beim Sport, auf Reisen. Ich denke an die Weltkarte und daran, wie sich das Virus darauf verbreitet wie roter Saft, den man versehentlich auf eine weiße Serviette geschüttet hat.
Andererseits: Wir wollen mal pragmatisch bleiben und ganz nüchtern. Müssten alle in Quarantäne, die mit dem Erstkontakt in Verbindung stehen und dann wiederum all deren Partner und Kinder und alle, die mit diesen Zweit- und Drittkontakten mal in der Straßenbahn gefahren sind, im Yogakurs waren, in der Kantine, in der Turnhalle oder in der Eckkneipe, dann entstünde wahrscheinlich ein Lazarett von der Größe halb Deutschlands. Irgendwie geht das natürlich auch nicht.
Zwei Wochen ohne Abschminktücher
Ich träume von der Quarantäne. Davon, dass man uns rät, am besten alleine auf eine Alm ins Allgäu zu fahren. Wo höchstens ein paar Kühe sind, und wir niemanden anstecken können. Die Vorstellung ist reizvoll. Aber in der Realität wird es wohl ganz anders sein. Zu Hause mit einem knapp Dreijährigen, der nur noch in der Wohnung Fußball spielen darf und alle drei Sekunden den Ball gegen die Tür bemst. Einer 15-Jährigen, die zwei Wochen lang nicht mal schnell zum Drogeriemarkt laufen kann, um sich Abschminktücher oder Hitzeschutz fürs Haareglätten kaufen zu können. Geschweige denn Übernachtungspartys mit ihren Freundinnen zu feiern. Pferde im Stall besuchen. Womöglich mit der Straßenbahn.
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Dazwischen wir mit unseren Laptops und Handys im Irrenhaus-Home-Office. Falls meine Eltern sich doch nicht nehmen lassen, nächste Woche zum Geburtstag unseres Jüngsten zu kommen, könnten sich zu dieser hochexplosiven Mischung vielleicht auch noch zwei gut 70-Jährige mit auf 85 Quadratmeter gesellen. 14 Tage lang. Ich habe jetzt extra mal die Fenster geputzt, damit wenigstens mehr Licht reinkommt. Dennoch: Das alles wäre doch eine ziemlich große Herausforderung.
Niemand kann sich eine zweiwöchige zwangsweise Abschottung ernsthaft wünschen. Und doch: Die Quarantäne befreit ihre Gefangenen zumindest von diesem mahnenden Geist, der immer darauf hinweist, dass wir durch unser Verhalten im schlimmsten Fall jemanden in Lebensgefahr bringen könnten. Nichts weist darauf hin, dass ich erkrankt bin. Ich habe nicht mal Karneval gefeiert, in Gangelt war ich mein ganzes Leben noch nicht. Aber weiß man es sicher?
Fluchen in Gesellschaft? Viel zu riskant
Keine lauten Wortgefechte im Büro, habe ich zuletzt gelesen, weil dabei winzige Speicheltröpfchen auf den Gesprächspartner niederregnen könnten. Ich denke an meine jüngsten Flüche in der Konferenz. Unser neuer Freund, die Virus-Angst, schüttelt tadelnd den Kopf. Anwesenheitslisten führen bei Versammlungen mit mehr als 25 Personen, wie die Stadt Essen es empfiehlt? Ich schwitze, weil ich mich an meinen letzten Ausgehabend in der Kneipe erinnere.
Wahrscheinlich hilft wirklich nur eins: Händewaschen. Und natürlich Humor. In der alemannischen Fasnacht feierten die Narren eines Bauernumzuges hinter einem Nur-gucken-nicht-anfassen-Schild. Der Chef einer Freundin hat in den Teamkühlschrank ein Sixpack „Corona“ gestellt. Mit dem Hinweis: „Impfstoff für alle. Solange der Vorrat reicht“. Ich würde dann mal eins nehmen.