Luca aus Köln arbeitet im sozialen Bereich, jobbt als Kellner und verdient sich mit dem Sprühen legaler Graffiti etwas dazu.
Nachts zieht der 22-Jährige mit seinem Fahrrad los und sprayt illegal - vor allem auf Züge.
Im Interview berichtet der 22-Jährige, wie er vorgeht, was ihn antreibt, wie groß die illegale Szene in Köln und Umland ist – und wie es sich anfühlt, auf der Flucht vor der Polizei stundenlang in einem Gebüsch zu verharren.
Köln – Luca, seit wann bewegst du dich in der Kölner Sprayer-Szene?
In Köln ist das Thema Graffiti schon lange populär, vor allem in den alternativeren Vierteln. Dadurch und durch Freunde habe ich schon in jungen Jahren viel gezeichnet. Das war der Anfang, und seit fünf bis sieben Jahren ist Graffiti mein großes Hobby. Ich male legal, aber auch illegal.
Mit 14 oder 15 habe ich erstmal Buchstaben gezeichnet, später Gesichter und Charaktere. Mit steigendem Alter habe ich experimentiert, mich auf das Künstlerische konzentriert und auch mal abstraktere Elemente ausprobiert. Ich identifiziere mich am meisten mit dem wirklichen Ursprung von Graffiti, also dem Malen von Schriftzügen. Ich erschaffe gerne Neues, und das geht im Graffiti super.
Du sagst „Künstler“, andere würden dich vielleicht eher einen „Farbschmierer“ nennen.
Ja, da gibt es auch innerhalb der Szene Unterschiede. Nicht jedes illegale Graffiti ist Kunst. Für mich sind Graffiti Bilder mit großen bunten Buchstaben. Einfache Schriftzüge an einer Hauswand würden manche als Schmiererei ansehen.
Wo malst du?
An den legalen Halls (Orte, an denen legal gesprüht werden darf, d. Red.) kann man sich toll weiterentwickeln, das geht nachts beim illegalen Malen eher nicht so, weil du da keine Zeit hast. Illegal ist für mich alles Mögliche interessant – Hauswände, Züge, U-Bahn-Tunnel. Auf dem Dach eines Hauses habe ich auch schon gemalt, „Rooftop“ nennt sich das.
Was treibt dich an, illegal zu sprühen? Warum machst du das?
Ich male viel an Zügen. Ein Bild, das man von der Straße aus sehen kann oder einen Zug, der mit meinem bunten Schriftzug durch die Stadt fährt – das bewegt mich, das treibt mich an. Meine Bilder sind ein bisschen ein Ruf an die Gesellschaft: Hier, ich will euch was zeigen. Ich finde es schön, wenn Passanten meine Bilder sehen und ich ihnen damit ein positives, buntes Gefühl vermitteln kann. Ich bin ein farbenfroher Mensch, und mir kommt Farbe in der Stadt einfach zu kurz. Auch wenn sich das in letzter Zeit ein bisschen ändert: Es dominieren doch noch immer die klassischen, grauen Wände. Und es geht beim Malen natürlich auch um den Fame innerhalb der Szene.
Was heißt das?
Heutzutage gibt es viele soziale Medien, auf denen man seine Bilder hochladen und darüber Reichweite, also Fame, entwickeln kann. Manchen ist es wichtig, ihre Aktionen zu filmen und das zu teilen. Manche Sprüher haben ihre eigene Sammelreihe, die führen ein Fotobuch und teilen es auf sozialen Medien. Das ist bei mir nicht so. Für mich ist es dieses Gefühl: Man sitzt im Bahnhof, und dein Bild kommt rein. Am besten ist es, dann noch einzusteigen und mit seinem Bild mitzufahren.
Wie kannst du wissen, wann der Zug mit deinem Bild einfährt?
Fahrpläne, Zugmodellnummer, da gibt es Möglichkeiten. Manchmal sitzt man auch einfach drei Stunden am Bahnhof rum und wartet.
Wie viele Bilder von dir gibt es in Köln?
Ich würde mal eher sagen: in NRW. Manchmal fahre ich mit Freunden in andere Städte und mache da etwas. Auf den Straßen sind es wahrscheinlich mehrere Dutzend. Hätte man allein in Köln an die hundert Bilder, wäre man in der Szene schon weit oben mit dabei. Was meine Bekanntheit in der Szene betrifft, würde ich mich im unteren Drittel einsortieren. Was meinen Style, meine Skills mit der Dose angeht, sehe ich mich im Mittelfeld.
Wie oft sprühst du illegal?
Ungefähr einmal pro Woche. Tagsüber fahre ich herum, suche eine Stelle, die sich eignet und komme nachts wieder.
Wie läuft das genau ab? Wann stehst du auf?
Mein Wecker klingelt gegen ein Uhr, dann gehe ich raus. Ich bin meistens mit dem Fahrrad unterwegs, das hat sich als bestes „Abhaumittel“ in Köln erwiesen. Zu Fuß ist man zwar schnell, aber nicht auf Dauer, und beim Auto ist das Nummernschild das Problem. Normalerweise ist zwischen zwei und vier Uhr am wenigsten los, danach kommen die ersten Bäckerlieferanten und so. Am besten ist es unter der Woche. Gegen vier oder fünf Uhr fahre ich nach Hause, schlafe noch zwei bis drei Stunden und gehe dann arbeiten.
Was ist das für ein Gefühl, wenn du an der Wand stehst und die Dose ansetzt?
Ein Gefühl der Freiheit. Ich kann tun, was ich will und möchte mich frei entfalten. Dieses Uneingeschränkt sein, das fehlt mir in unserer Gesellschaft heute. Das kann ich in dem Moment machen und auf diese Weise eine Art Ausbruch aus der Gesellschaft finden. Für mich ist das wie eine Kur, eine Therapie, ein Ventil, um runterzukommen vom Alltag. Ich nehme eine schöne Farbe, habe eine schöne Skizze und male. Dann gerate ich in einen Malfluss und kann sofort abschalten.
Geht es auch um den Adrenalinkick?
Klar. Vor allem, wenn man eine Aktion zum ersten Mal macht – zum Beispiel Züge – ist der Adrenalinpegel höher, weil die Gefahr erwischt zu werden auch größer ist.
Sind Züge so eine Art Königsdisziplin der illegalen Szene?
Ja. Züge malen ist mit sehr viel Aufwand verbunden. Man kundschaftet den Ort, an dem man malen will, im Vorfeld aus. Manchmal liegst du vier Stunden in einem Gebüsch rum, schaust dir die Fahrpläne an und beobachtest die Züge. In der Szene nennt man das „abchecken“. Wichtig ist zum Beispiel die Anordnung der Gleise, von welcher Seiten man dahin kommt und wie man am besten wieder abhauen kann.
Wie lange brauchst du für ein Graffiti?
Ein normales Bild dauert etwa zehn Minuten, einen Zug mit zwei Waggons komplett vollzumalen vier bis fünf Stunden – wenn man nur Silber und Schwarz benutzt. Für ein aufwändiges Piece, also komplett ausgemalte Buchstaben, kann es auch schon mal ein ganzer Tag sein. Es sei denn, du hast zehn oder 20 Leute dabei, dann bist du nach 20 Minuten fertig, weil jeder nach einem engen Plan einen bestimmten Abschnitt anmalt.
Wie oft bist du schon erwischt worden?
Ich hatte schon genug Abhau-Action, wo ich von Passanten, Polizisten oder Bahn-Securities verfolgt wurde. Erwischt wurde ich bisher zweimal: Das eine Mal konnte man mir zum Glück nicht eindeutig nachweisen, dass das mein Bild war, beim zweiten Mal wurde die Anzeige fallen gelassen. Der prägendste Moment für mich war auf einem Bahngelände, als ein Polizeihubschrauber angeflogen kam. Der hat mich mit Wärmebildkamera gesucht. In so einer Situation muss man schnell reagieren. Von vorne kommen Bundespolizisten, von oben der Helikopter, das heißt: Egal wo du hinrennst, der Heli verfolgt dich. Es war stockdunkel, nachts um halb vier, ich war mit drei Freunden unterwegs. Einer von uns hat sich in die Büsche geschlagen und ist über dahinterliegende Schrebergärten abgehauen. Ich habe mich unter der Motorhaube eines Autos versteckt, das erst kurz zuvor gehalten hatte. Unter dem warmen Motor konnte mich die Wärmebildkamera nicht orten. So bin ich gerade noch einmal davongekommen.
Auch auf der Autobahn musste ich schon flüchten. Einmal habe ich mich bis zum Morgen in einem Gebüsch versteckt. Irgendwann hat mein Chef angerufen und gefragt, wo ich bleibe. Da kannst du dann ja nicht sagen, dass du gerade vor der Polizei weggelaufen bist und irgendwo in Buxtehude im Gebüsch liegst.
Sondern?
Ich habe gesagt, dass ich krank bin.
Wird dir nicht spätestens in so einem Moment klar, dass es bei allem künstlerischen Anspruch schlicht auch kriminell ist, was du tust?
In erster Linie bezeichne ich Graffiti als Kunst. Sobald es in Richtung Vandalismus geht, wenn also zum Beispiel Türen aufgebrochen werden müssen, um irgendwo hinzukommen, sehe ich das schon als kriminell an. Die zentrale Frage ist für mich immer: Was male ich an? Wem gehört das? Wem schade ich? Einen Stromkasten der Stadt oder ein städtisches Gebäude oder Bahneigentum anzusprühen finde ich viel weniger schlimm als ein Einfamilienhaus oder sonstiges Privateigentum. Solche Dinge würde ich nur legal anmalen, ich will keiner Einzelperson finanziell schaden. Das ist auch Konsens in weiten Teilen der Szene. Aber es gibt genug Sprayer, die das anders sehen, für die ist Graffiti nur Vandalismus, die wollen einfach nur Farbe irgendwo hin klatschen.
Würdest du Anzeige erstatten, wenn jemand einen Schriftzug auf dein Auto oder dein Haus sprüht?
Es gibt eine Grundregel: Innerhalb der Szene zeigt man sich nicht an. Ein Bekannter hatte mal was auf dem Haus und wollte das anzeigen. Das konnte ich innerhalb der Szene klären. Aber für einen normalen Bürger ist eine Anzeige meistens die einzige Möglichkeit. Und wer das tut, den verstehe ich auch. Das kann ich voll nachvollziehen.
Was du machst, ist nicht nur strafbar. Die Entfernung von Graffiti ist oft aufwendig und kostet viel Geld – auch die Deutsche Bahn. Wie stehst du dazu?
Bei der Bahn ist es so: Viele in der Szene haben ein Monatsticket und sagen: Damit zahle ich ja auch für die Bahn mit, ist mir doch egal. Außerdem hat jeder Zug eine Versicherung für Vandalismus-Schäden. Und wenn man im U-Bahntunnel malt oder auf einer Schallmauer, die sonst nur grau und kahl wäre, erkenne ich gar nicht unbedingt den Schaden, sondern denke eher: Stört das jetzt wirklich jemanden?
Gibt es Tabus, die in der Szene allgemein akzeptiert sind? Was sprüht man nicht an?
Kirchen und andere religiöse Gebäude, das macht man nicht, dann kriegt man wirklich ein Problem in der Szene. Ich würde auch keine Grundschule anmalen. Auch ein Auto zu bemalen, finde ich nicht cool. In den USA ist das populär. Oder eine Feuerwache oder eine Polizeiwache. Aber ich finde, auch das macht man nicht. Auch keine Gebäude, die gerade neu gebaut sind, die eine schöne Farbe haben – da habe ich nichts verloren, da gehe ich nicht dran. Wenn man aber an der Ecke ein altes Gebäude sieht, das auch schon ein oder zwei Tags hat, dann ist man auch lockerer damit, da etwas drauf zu machen.
Wäre es ein Ansatz, das illegale Sprühen generell einzudämmen, indem Städte mehr Möglichkeiten schaffen würden, legal zu sprayen?
Ein interessanter Punkt. Es gibt ja schon viele legale Flächen, es könnten aber noch mehr sein. Ich bin sicher, dann würde auch weniger auf der illegalen Schiene laufen. Ich würde auch Stellen zum Malen frei geben, an denen sowieso ständig illegal gemalt wird – oder man engagiert einen Künstler, der diese Stelle legal schön macht. Dann geht auch keiner mehr dran. Denn es gibt einen weiteren Kodex in der Szene: Wenn ein legales Bild gestaltet ist, hat ein anderer da nichts mehr zu suchen.
Ist Köln bundesweit ein Hotspot für illegale Sprüher?
Schon, ja. Wobei ich zu Köln noch das Umland in Richtung Ruhrgebiet dazu zähle. Die Reihenfolge ist: Berlin, Hamburg, Köln. Köln entwickelt sich und wird immer populärer.
Wie groß ist die Szene in Köln und Umgebung?
Das kann ich nicht genau einordnen. Maler, die alles machen, legal, illegal, alles – da gehe ich in Köln von einigen Tausend aus. Illegale, die auch einen Grundpfeiler in der Szene darstellen, sind vielleicht mehrere hundert Leute. Da zähle ich mich dazu.
Wer sind diese Leute? Wie alt sind sie? Was haben sie für Berufe?
Das ist super spannend. Es gibt Banker, Lehrer, Angestellte, die nachts Züge anmalen. Viele stehen mitten im Leben, haben ein Haus, Frau und Kinder und gehen seit Jahren illegal malen, als wären sie noch 20. Den Großteil der Szene machen aber die 20- bis 30-Jährigen aus. Viele sind Studenten. Noch sind es mehr Männer als Frauen, aber die Mädels werden mehr, vor allem im Bereich politischer Streetart. In NRW sind die meisten in der Szene politisch eher links eingestellt. Im Osten sieht man auch rechtsradikale Graffiti – das wäre hier unvorstellbar. Da wären wir sehr hinterher, dass man diese Sprüher aussortiert.
Hast du Freunde, die dir sagen: Was machst du da eigentlich für einen Mist?
Von meinen engen Freunden sagt das niemand. Klar, man muss das nicht akzeptieren, was ich tue, aber Freunde sollten es akzeptieren – außer es wird zu extrem.
Wissen deine Eltern davon?
Ja, meine Familie und meine Freundin wissen das. Das ist mir auch wichtig. Meine Mutter steht da nicht hinter, aber sie akzeptiert es. Mein Vater hält sich raus, er will nichts damit zu tun haben.
Wie lange willst du das noch machen?
Weiß ich nicht. Viele hören erst auf, wenn sie gebusted, also von der Polizei erwischt werden. Ich habe gewisse Grenzen, die mich davor bewahren, zu hoch zu fliegen und übermütig zu werden. Ich werde das nicht mein Leben lang so machen wie jetzt. Das würde mir auf Dauer nicht gut tun. Ich merke den Schlafentzug, merke, dass ich mich wandele. Aber Graffiti wird immer mein Hobby bleiben.
Hinweis der Redaktion: Luca heißt in Wahrheit anders, er möchte aber nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden.