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Hausbesuch bei Anschlagsopfer Lika„Ich habe keine Alpträume mehr“

Lesezeit 6 Minuten

Lika mit ihrem Hund.

  1. Lika M. ist die Schülerin, die bei dem Brandanschlag im Kölner Hauptbahnhof im Herbst 2018 schwer verletzt worden war.
  2. Acht Monate danach kann die 15-Jährige wieder lachen.
  3. Wir haben Lika getroffen. Im Gespräch mit uns erzählt sie von der schwierigen Behandlung - und wie ihr eine Perücke zurück in einen normales Leben half.

Köln – Als Lika sich vor zwei Monaten zum ersten Mal traut, in der Öffentlichkeit ihre Perücke abzulegen, ist sie 650 Kilometer von zu Hause entfernt und trägt einen Badeanzug. Zu groß war bis dahin immer die Angst, dass die Menschen sie anstarren. Dass sie hinter ihrem Rücken über ihre stoppelkurzen Haare tuscheln könnten oder über die Brandnarben am Bein. „Aber in Berlin kannte mich keiner, da fiel es mir leichter, es einfach mal auszuprobieren.“

Mit ihren Eltern und Bruder Jastin (13) verbringt die 15-Jährige das Osterwochenende in der Hauptstadt. Die Familie ist in einem großen Spaßbad, und Lika stellt zu ihrer großen Verblüffung fest: Niemand starrt. Niemand tuschelt. Ganz im Gegenteil: „Keiner hat sich für mich interessiert.“ Das Mädchen spürt eine Riesenerleichterung. Seitdem hat Lika die Perücke nicht mehr angezogen. Schon bald, sagt sie, will sie auch wieder Röcke und kurze Hosen tragen.

Hund Tyson hat Lika im Krankenhaus am meisten vermisst

Acht Monate nach dem Brandanschlag und der Geiselnahme am Kölner Hauptbahnhof sitzt die Neuntklässlerin mit ihrer Mutter am Küchentisch im heimischen Hennef. Auf Likas Schoß hockt Tyson, der fünf Jahre alte Chihuahua, Ihn hat das Mädchen während der Zeit im Krankenhaus am meisten vermisst. Sieben Wochen lag die 15-Jährige in der Kinderklinik an der Amsterdamer Straße.

Lika M. ist die Schülerin, die beim Anschlag bei Mc Donald’s im Oktober 2018 schwer verletzt worden war. Ein womöglich geistig verwirrter Mann hatte in dem Restaurant Benzin ausgeschüttet und angezündet, anschließend eine Geisel in einer Apotheke genommen. Mohammed R. wurde von einem Polizei-SEK niedergeschossen und schwer verwundet. Seitdem liegt er im Krankenhaus.

Ein Zeuge löschte die Flammen

Lika rutschte in der Benzinpfütze aus, Füße und Beine fingen Feuer. Ein Zeuge löschte die Flammen, die hoch bis zur Hüfte schlugen. Aber die Verbrennungen waren tief, die Behandlung kompliziert. Acht Operationen waren nötig, immer unter Vollnarkose. Die Ärzte rasierten Likas lange, glatte, schwarze Haare ab, ihr ganzer Stolz. Zweimal verpflanzten die Chirurgen Haut vom Kopf auf die Beine, weil das erste Transplantat nicht richtig festwuchs.

Die Narben schmerzen und kribbeln bis heute, inzwischen aber nur noch, wenn sie damit irgendwo gegen stoße, erzählt Lika. Langes Stehen, zum Beispiel im Schulbus, fällt ihr schwer. Sie geht regelmäßig zur Physiotherapie. Sonst aber habe sie kaum Einschränkungen. „Ich kann gehen, laufen, Sport machen.“ Als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ Lika im November 2018 zuletzt in der Klinik besucht hatte, konnte sie gerade mal ein paar Meter gehen, bevor sie das Gleichgewicht verlor. Jetzt will sie im Sommer einen Tanzkurs beginnen.

„Aber sie hat sehr gut getrickst.“

Die Haare fallen inzwischen wieder bis über die Schulter. Es sind Extensions, künstliche Verlängerungen. Lika hat sie sich gleich nach der Rückkehr aus Berlin einnähen lassen. Ihre natürlichen Haare sind erst wenige Zentimeter wieder gewachsen. Nicht einfach für die Friseurin, erzählt Mutter Julia M. und lächelt. „Aber sie hat sehr gut getrickst.“

In etwa zwei Jahren, wenn die Brandnarben an den Beinen komplett verheilt sein werden, könne man auch die Haut zumindest vom Knöchel aufwärts mit plastischer Chirurgie noch weiter verschönern, sagt Lika. „Es ist beruhigend zu wissen, dass das geht, aber vielleicht brauche ich es auch gar nicht. Mal sehen.“

Selbstbewusstsein kehrt mit großen Schritten zurück

Seit der Reise nach Berlin kehrt ihr früheres Selbstbewusstsein in großen Schritten zurück. Sie denke nicht mehr groß an den Tag im Oktober am Kölner Hauptbahnhof, sagt die Schülerin. Anfangs habe sie noch Angst gespürt, wenn ein Fremder nur seine Hände in den Taschen verborgen hielt – er hätte ja eine Waffe haben können. Heute habe sie keine Alpträume mehr, sagt Lika. Köln allerdings meidet sie seitdem. Ihre Mutter beruhigt das. „Wenn ich nur Köln höre, kriege ich Panik“, sagt Julia M.

Einmal war Lika nach dem Anschlag noch im Hauptbahnhof, mit ihrer Schule auf Klassenreise. Aber zum Shoppen geht es jetzt eher nach Bonn oder Siegburg. Und einmal, kürzlich im Bahnhof in Hennef, habe ein Mann eine Glasflasche auf den Boden geworfen. Sofort habe sie das Klirren der berstenden Molotowcocktails im Mc Donald’s im Kopf gehabt, erzählt Lika. „Da hatte ich kurz mal Angst, dass alle Bilder zurückkommen.“

„Wie es mit dem Mann weitergeht, ist mir egal.“

Hin und wieder berichten ihr Mitschüler, wenn wieder etwas neues über den Geiselnehmer in den Nachrichten war. „Ich lese das alles nicht“, sagt Lika. „Wie es mit dem Mann weitergeht, ist mir egal.“ Fast erschrocken über die eigenen Worte schiebt sie schnell hinterher: „Oder klingt das jetzt zu gemein?“

Wut verspüre sie nicht auf Mohammed R. „Es ist nicht so, dass ich mega den Hass hätte auf den, gar nicht. Er soll ja psychisch krank sein.“ Ihre Mutter hadert da schon mehr. „Ich habe mitgekriegt, dass er jetzt in die Reha kommen soll“, sagt Julia M. „Mein Gott, er ist auch ein Opfer, sie versuchen, ihm zu helfen. Wenn er aber nicht psychisch krank ist, sollte er wenigstens akzeptieren, dass er Mist gebaut hat.“ Eines Tages möchte Julia M. den Mann treffen, der das Leben ihrer Familie in den Grundfesten erschüttert hat. „Ich will ihn fragen: Wieso haben Sie zugelassen, dass es Kinder trifft? Wieso meine Tochter?“

Überwältigt von der Hilfsbereitschaft

Noch immer überwältigt ist Familie M. von der Hilfsbereitschaft, die ihr am Jahresende entgegengeschlagen war. Mehr als 200.000 Euro gingen vor allem nach Berichten im „Kölner Stadt-Anzeiger“ und bei „Radio Köln“ auf ein Spendenkonto ein. Davon bezahlte die Familie bislang Likas Friseurbesuche, die Berlin-Reise und den anstehenden Sommerurlaub in der Türkei, berichtet die Mutter. Vielleicht auch irgendwann die Schönheitsoperationen am Bein.

Hinzu kamen zahlreiche Briefe und Sachspenden. Eine Immobilienfirma aus Köln brachte nicht nur eine Riesentorte vorbei, an der Familie M. die halbe Nachbarschaft teilhaben ließ – die Profis bauten auch kostenlos die Treppe im Einfamilienhaus um, damit Lika besser hinauf in ihr Zimmer kommt – und sanierten bei der Gelegenheit das Bad gleich mit.

IT-Firma schenkte Lika einen Laptop

Schüler bastelten der 15-Jährigen im Unterricht einen Adventskalender, Kindergartenkinder malten ein Mutmach-Plakat, wildfremde Menschen warfen Genesungswünsche in den Briefkasten. Eine IT-Firma schenkte Lika einen Laptop, jemand anderes bezahlte ihr ein neues Paar Turnschuhe – die alten waren verbrannt. „Wir möchten uns bei jedem einzelnen bedanken“, betont Julia M. Ihre Tochter schließt sich an und dankt auch den Ärzten und Krankenschwestern der Kinderklinik.

Ein wenig Sorge bereitet dem Mädchen die Schule. Knapp drei Monate Unterricht hat es verpasst. Lehrer und Mitschüler hätten sie zwar toll aufgenommen, erzählt Lika. Ihre Befürchtung, mit Fragen bombardiert oder in Watte gepackt zu werden, bestätigten sich nicht. „Alle gingen ganz normal mit mir um, das war genau richtig so.“ Aber den versäumten Stoff nachzuholen, ist nicht ganz leicht. Noch wisse sie nicht, sagt Lika, ob sie im Sommer versetzt werde oder das Schuljahr wiederholen muss.

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Aber erst einmal geht es mit der Familie für zwei Wochen in die Türkei. Im Vorjahr sei der Sommerurlaub ausgefallen, weil das Geld knapp war, sagt die Mutter. Jetzt kämen auch Onkel, Tante und die Cousine mit. Nur die Oma bleibe zu Hause. Einer muss schließlich auf Tyson aufpassen.