AboAbonnieren

„Wunder, dass ich lebe“Einer der ersten Kölner HIV-Infizierten erzählt von Erkrankung

Lesezeit 5 Minuten
Malcherek_Aidstag_1

Gerhard Malcherek (69)

Köln – Fast alle seiner Freunde von früher sind tot. Dass er selbst noch lebt, sei „ein kleines Wunder“, sagt Gerhard Malcherek. „Ich hatte Glück. Und ich bin dankbar, dass ich seit 35 Jahren mit dem Virus lebe.“ Gerhard Malcherek war 1986 einer der ersten Kölner, bei dem das Humane Immundefizienz-Virus – kurz: HIV – festgestellt wird. Für die meisten Betroffenen ist die Diagnose damals ein Todesurteil.

Ängste wegen Unwissen

Das Virus verbreitete sich seit Anfang der 1980er Jahre vor allem unter schwulen Männern in den USA – und entwickelt sich zu einer der schlimmsten Epidemien der jüngeren Geschichte. „Ähnlich wie bei Corona wusste man anfangs sehr wenig über Aids – schnell hieß es, dass sei nur eine Schwulenseuche. Das hat zu großen Ängsten und Stigmatisierungen geführt“, erinnert sich Malcherek, der in seiner kleinen Wohnung am Stadtrand in Sürth empfängt, die er mit der stürmischen Pudelhündin Li teilt.

Er selbst habe anfangs nicht wahrhaben wollen, mit HIV infiziert zu sein. „Ich habe in den ersten Monaten nicht mal meinem Freund darüber erzählt – wir hatten einfach keinen Sex mehr und lebten wie ein altes Ehepaar. Ich bin nicht mehr rausgegangen und habe mich zu Hause eingeigelt.“

Ausgrenzung traf Schwule mit brutaler Wucht

Während sich mit Corona jeder anstecken kann, infizierten sich mit HIV zunächst vor allem Männer, die Sex mit Männern hatten, Prostituierte und Drogenabhängige, die nicht-sterile Spritzen benutzten. Da Homosexualität vor allem vielen konservativen Politikern als „Krankheit“ galt, erlebten Schwule, die sich mit dem Virus ansteckten, Ausgrenzung und Hass mit brutaler Wucht. CSU-Politiker Horst Seehofer schlug vor, HIV-Infizierte in Heimen zu konzentrieren, sein Parteikollege Hans Zehetmair sagte 1987: „Diese Randgruppe muss ausgedünnt werden, weil sie naturwidrig ist.“

In den USA und Großbritannien weigerten sich die Regierungen unter Ronald Reagan und Margret Thatcher anfangs, Infizierten überhaupt zu helfen. Unaufgeklärte hatten Angst, HIV-Infizierten die Hand zu geben.

Die politische und gesellschaftliche Stigmatisierung von HIV habe er meistens relativ gut ausblenden können, erinnert sich der heute 69-Jährige Malcherek, der wegen seiner Krankheit mit 40 in Rente ging. „Als schwuler Mann wurde ich ohnehin oft ausgegrenzt – eine Gleichstellung und breite gesellschaftliche Akzeptanz sehe ich bis heute nicht."

„Wie oft bin ich in der Szene beschimpft worden?“

„Schlimmer war allerdings die Stigmatisierung unter Schwulen selbst. Wie oft bin ich in der Szene beschimpft und wie ein Aussätziger behandelt worden? Wenn die Leute wusste – der Gerhard hat HIV – konnte ich in keine Bar mehr gehen.“

Lange spricht er nur mit engsten Vertrauten über seine Krankheit. Um die Viruslast niedrig zu halten, muss er alle vier Stunden Tabletten nehmen, die starke Nebenwirkungen mit sich bringen. „Ich fühlte mich durchgehend schlapp, hatte Schweißausbrüche und oft einen Eisengeschmack im Mund. An Arbeit war nicht mehr zu denken: Wäre ich nicht in Rente gegangen, hätte ich nicht mehr lange gelebt.“

Fast alle Freunde starben

Bis Ende der 1990er Jahre sterben jedes Jahr mehrere Freunde von Malcherek. Fast monatlich erfährt er von neuen Infizierten. „Ich bin irgendwann nicht mehr ins Krankenhaus gegangen – weil ich einfach nicht mehr konnte“, erinnert er sich. „Freunde und Bekannte starben wie die Fliegen. Es schien jeden zu treffen, den ich kannte.“

Sechs Jahre nach seiner Infektion entschließt sich Gerhard Malcherek, in die Öffentlichkeit zu gehen. Es ist die Zeit, als der Queen-Sänger Freddy Mercury seine Aids-Erkrankung kurz vor seinem Tod öffentlich macht – mehr noch als zuvor der Schauspieler Rock Hudson und der Künstler Robert Mapplethorpe gibt Mercury Aids ein Gesicht – und lenkt die Öffentlichkeit auf die Seuche, über die viele Menschen bis dahin nur die Nase rümpften. „Irgendwann galt ein Engagement gegen Aids in der Kulturszene dann als schick“, erinnert sich Malcherek. „Jeder trug ein rotes Schleifchen, jede Schauspielerin kam zur Aids-Gala.“

Müde, sich weiter zu verstecken

Für ihn sei das plötzlich große Interesse an HIV nicht der Grund gewesen, in die Öffentlichkeit zu gehen. „Ich war einfach müde, mich zu verstecken“, sagt er. „Mir ging es mental sehr schlecht.“ Nach einem Beratungsgespräch bei der Kölner Aidshilfe fühlt er sich etwas besser: „Ich merkte, dass es vielen so geht wie mir – und dass es nicht weiterführt, mich weiter zu verkriechen.“ Malcherek lernt, von seinen Ängsten zu erzählen, lernt, wie man mit HIV sicheren Sex haben kann - und wie sich mit Menschen umgehen lässt, die Vorurteile, aber kein Wissen haben. „Seitdem ist meine Devise: Ich bin offen. Ich erzähle, dass ich schwul bin – und ich erzähle, dass ich HIV habe.“

Bundesverdienstkreuz

Über 13 Jahre engagiert sich Malcherek ehrenamtlich im Vorstand der Kölner Aidshilfe. Er berät Menschen, die nach der Diagnose HIV genauso hilflos sind wie er, organisiert Veranstaltungen und versucht, mit seiner Offenheit, das Interesse an dem Thema, das nach den großen Erregungswellen zu Beginn der Epidemie schnell abgeebbt ist, aufrecht zu erhalten. Anfang der 2000er Jahre erhält er für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz. Bis heute arbeitet er für das Archiv der Kölner Aidshilfe.

Das könnte Sie auch interessieren:

Zwischendurch gibt es gesundheitliche Tiefschläge. 1995 holt Malcherek sich eine Lungenentzündung, magert bis auf 48 Kilo ab und berappelt sich nur mit großer Mühe. Vor einigen Jahren bildet sich ein Blutgerinnsel in der Lunge – die Thrombose schränkt seine Atmung ein und macht ihn in der Corona-Pandemie zum doppelten Risikopatienten. Er sei vorsichtig, habe sich sofort impfen und boostern lassen, sagt Gerhard Malcherek. Das Gespräch findet mit Maske und auf Abstand statt, Restaurants und Bahnen meide er aufgrund der hohen Inzidenzen momentan. Angst um sein Leben, sagt Malcherek, „habe ich wegen des Corona-Virus‘ nicht“.