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Holocaust-Gedenktag„Mein Opa sagte: Wer hier lebend herauskommt, trifft sich in Köln wieder“

Lesezeit 5 Minuten
Markus Reinhardt in seiner Siedlung in Roggendorf / Thenhoven: Er steht auf der Straße und blickt an der Kamera vorbei.

Markus Reinhardt ist Kölner Musiker und Sinto.

Anlässlich des Holocaust-Gedenktags erinnert der Bundestag heute mit einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus. Der Kölner Markus Reinhardt erzählt von seiner Familie, von denen viele den Völkermord an Sinti und Roma nicht überlebten.

„Wir Zigeuner haben in unserer Sprache kein Wort für Krieg. Es gibt auch kein Wort für Altersheim. Wir haben keine Schriftsprache, die Alten sind unsere Bücher. Was wir wissen, ist von ihnen überliefert.

Meine Eltern wurden im Zweiten Weltkrieg beide deportiert. Die Familie meiner Mutter lebte in einer Wohnung in der Agrippastraße, als die Gestapo eines Tages vor der Tür stand. ‚Muss ich etwas einpacken?‘, fragte meine Oma. ‚Nein, nein‘, sagten sie, ‚Sie kommen gleich wieder, lassen Sie alles hier‘. Doch sie kehrten nie zurück. Meine Oma starb im Konzentrationslager. Also zog meine Mutter ihre kleinen Geschwister groß, obwohl sie selbst erst elf oder zwölf Jahre alt war. Viele Angehörige meiner Mutter haben nicht überlebt. Ihren Onkel und seine Frau haben die Nazis vor den Augen ihrer Kinder erschossen.

Mein Vater wuchs in einem Zigeunerwagen (Anmerkung der Redaktion: Zur Bezeichnung siehe Infokasten am Ende des Textes) in Bickendorf auf. 1940, als mein Vater zwölf war, beorderten die Nazis meinen Opa zum Gestapo-Haus und nahmen ihm seinen deutschen Pass ab. Sie sammelten die Familie bei der Messe, von dort transportierten die Nazis meine Familie in verschiedene Lager. Mein Opa hat zu all seinen Kindern gesagt: Wer hier lebend herauskommt, der trifft sich in Köln wieder.

Als mein Großvater in Auschwitz ankam, war das Lager noch gar nicht fertig. Er musste die Gleise legen, die in das Konzentrationslager hinein führen. Meine Großeltern überlebten, doch von ihren zwölf Kindern wurden sechs erschlagen und vergast. Alle Überlebenden gingen von den verschiedenen Lagern aus zurück nach Köln. Manche liefen ein halbes Jahr lang.

Tante war als Kind bei Josef Mengele

Den Weg von Auschwitz nach Köln, den mein Vater und seine Familie gegangen sind, haben wir mit dem NS-Dokumentationszentrum Köln wissenschaftlich recherchiert. Deshalb wissen wir genau, welche Route sie genommen haben. Im Jahr 2020 wollte ich diesen Weg mit einem Zigeunerwagen nachfahren, wir wollten unterwegs Lesungen machen und Konzerte, die Tour sollte symbolisch für so viele Familien stehen. Dann kam Corona dazwischen und wir mussten alles absagen.

Stattdessen haben Krystiane Vajda und ich Zeitzeugeninterviews aufgezeichnet. Eigentlich wollen unsere Älteren nicht in die Öffentlichkeit, deshalb zweifelte ich, ob wir überhaupt genug Zeitzeugen für das Projekt finden. Aber das Gegenteil war der Fall! Letztens hat mich sogar eine 90-Jährige angerufen, die sagte: ‚Ich will auch dabei sein! Damit ich besser gehen kann.‘ Die Interviews sollen im NS-Dokumentationszentrum als Dauerausstellung bleiben. Am Freitag wurde ein Zeitzeugeninterview im Düsseldorfer Landtag gezeigt. Meine Onkel waren dabei, eine Tante auch. Es war für sie eine große Ehre und Befriedigung.

Kurz bevor eine meiner Tanten gestorben ist, sagte ich zu ihr: ‚Tante, du weißt so viel! Lass uns doch ein Interview machen.‘ ‚Nein‘, sagte sie, ‚dann kann ich nicht schlafen‘. Ohne Kamera hat sie dann aber doch erzählt. Und so erfuhren wir, dass meine Tante als Kind bei Josef Mengele war, der Experimente an Häftlingen durchführte. Einmal, als sie putzte, sah sie, wie Mengele einer schwangeren Frau den Bauch aufschlitzte. Als er meine Tante bemerkte, sagte er zu ihr: ‚Wenn du das irgendjemandem erzählst, dann wird dir und deiner Familie genau dasselbe passieren.‘ Sie hat jahrzehntelang nichts davon gesagt. Kein Wort. Erst mit 94 erzählte sie es uns.

Rechtsruck: „Wenn man selbst aktiv wird, hat man keine Angst“

Heute gehen wir viel in Schulen. Meine Onkel waren einmal bei einem Projekt an dem Gymnasium Kerpen. Vorher wollten sie lange nicht mitmachen, doch vor Ort merkten sie, wie gut die Schüler reagierten. Die Jugendlichen fragten viel und sagten zu meinen Onkeln: Es tut uns leid, was Sie und Ihre Familien erlebt haben. Anschließend sagten meine Onkel zu mir: Hör mal, das müssen wir nochmal machen.

Wegen der Jugendlichen macht mir auch der Rechtsruck in Deutschland keine Angst. Unsere Alten sorgen sich natürlich, sie sagen: So hat das damals auch angefangen. Vielleicht spreche ich aus einer sehr privilegierten Position heraus, aber: Ich kenne so viele engagierte Menschen, ich höre, was für kluge und klare Gedanken die Jugendlichen äußern. Wenn man selbst aktiv wird, hat man keine Angst. Gucken Sie sich an, was momentan an Demonstrationen los ist! Das gibt mir unheimliche Zuversicht.

Trotzdem habe ich oft das Gefühl, dass über unsere Köpfe hinweg entschieden wird. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr gehört werden, dass Politiker und Wissenschaftler auf uns zugehen und mit uns reden, anstatt über uns.

Gedenkfahrt von Auschwitz nach Köln soll 2025 nachgeholt werden

Mittlerweile haben wir den Verein Maro Drom Kölner Sinte und Freunde gegründet, ein Freund von mir hat einen Zigeunerwagen renoviert. Bald stehen wir damit für zwei Monate an der früheren NS-Ordensburg Vogelsang in Schleiden. Es werden Zeitzeugen kommen, wir machen ein Rahmenprogramm und spielen Musik.

Die Musik hat in meiner Familie einen unheimlichen Wert. Sie hat uns geholfen, die NS-Zeit zu überstehen und half einigen, zu überleben. Wer im Konzentrationslager für die Nazis Musik spielen konnte, war brauchbar. Und wer brauchbar war, der wurde erstmal nicht vergast.

2025 wollen wir die Tour von Auschwitz nach Köln nachholen. Als meine Familie vor fast 80 Jahren nach Köln zurückkehrte, waren die Wagen weg, in denen sie gelebt hatten. Die Nazis hatten sich alles unter den Nagel gerissen und verkauft, ihre Unterkunft, ihr Zuhause. Wenn wir mit unserem Wagen von Auschwitz zurückkehren, dann ziehen wir auch symbolisch in unser Zuhause zurück nach Köln.“


Zur Person: Markus Reinhardt ist ein Kölner Musiker. Er bezeichnet sich selbst als „deutschen Zigeuner“, die Wortwahl „Sinti und Roma“ findet er persönlich politisch überkorrekt. Mit seinem Markus-Reinhardt-Ensemble tritt er als Geiger auf. Reinhardt ist ein Großneffe des Franzosen Django Reinhardt, der als Begründer des europäischen Jazz gilt.