Heute werden Haustiere als vollwertige Familienmitglieder betrachtet. Entsprechend schmerzhaft ist der Abschied. Susanne Hengesbach schildert den Verlust von Fanny.
Abschied vom geliebten HundFannys letzte Reise – „In meinem Herzen ist sie eh“
Plötzlich schiebt sich wieder dieser Gedanke in meinen Kopf, und schon laufen Tränen über meine Wangen. Das passiert jetzt immer öfter. Nicht ständig, nicht täglich, aber doch so häufig, dass ich mich frage, wie es erst sein wird, wenn… Wenn ich ihr ein letztes Mal das Halsband umlege, die Autotür öffne und ihr Hinterteil anhebe, um ihr auf die Rückbank zu helfen. Allein die Vorstellung, ohne sie in die Wohnung zurückzukehren und nie mehr davon geweckt werden, dass mich eine kalte Nase stupst, zerreißt mir das Herz.
Seitdem die Tierärztin im Frühjahr die Diagnose „Degenerative Myelopathie“ ausgesprochen und mir sachlich erklärt hat, was das bedeutet – ein langsam fortschreitendes Absterben der Rückenmarksbahnen – lebe ich in ständiger Furcht vor dem unausweichlichen Ende.
Ankunft in Köln an Heiligabend vor elf Jahren
„Mama, jedes Mal, wenn Du zur Tierärztin fährst, hoffst Du, sie sagt, dass Fanny noch 20 Jahre lebt!“, ereifert sich mein Sohn. „Tue ich gar nicht!“, entgegne ich trotzig. Es ist gelogen. Natürlich will ich, dass Fanny noch 20 Jahre lebt. Mindestens!
Ich denke an den Heiligabend vor elf Jahren, als ich – kaum auf den Verkehr achtend – von Aachen nach Köln zurückkehre und andauernd zu dem Fellknäuel im Fußraum des Beifahrersitzes schaue. Ich spüre mein Herz pochen, Fanny verpennt ihre erste Reise.
In Sekundenschnelle verliebt
Es ist nicht geplant, dass etwas Vierbeiniges bei uns einzieht. Nicht an Weihnachten und auch sonst nicht. Ein Hund stand nie zur Debatte. Aber dann passiert es: Ich sitze an einem milden Spätsommerabend mit einer Freundin vor der Ouzeria am Brüsseler Platz, als plötzlich ein riesiger Kopf in Höhe unserer Weingläser auftaucht: es ist Aaron, der größte und schönste Berner Senner, den ich je gesehen habe. Ich starre ihn an, er schaut mir geradewegs in die Augen, und schon ist es geschehen.
Bereits am nächsten Tag beginnt ein Teil meines Hirns im Internet den Welpen-Markt zu scannen, während an anderer Stelle meines Kopfes eine Stimme brüllt: „Hast Du noch alle Tassen im Schrank?“ Ich lasse die Stimme Stimme sein. Ich höre auch nicht auf Bekannte, die ein Vernunft-Argument nach dem anderen vorbringen. Ich weiß selber, dass im Grunde nichts für die Anschaffung eines Hundes spricht. Irgendwie zählt in dieser Situation für mich nur das, was eine beseelte Welpen-Mama mehrfach beteuert: „Mit einem Berner Senner hast Du jeden Tag etwas, worüber du dich freuen kannst.“
Plötzlich sogar bei Regen draußen
Ich war Langschläferin früher, habe viele Abende in Kneipen verbracht. Wer mir vor elf Jahren prophezeit hätte, dass ich bald sogar an verregneten Novembertagen bei morgendlicher Dunkelheit zum Spaziergang aufbrechen würde, den hätte ich ausgelacht. Tatsächlich hat mich mein Hund zum Outdoor-Fan gemacht. Ich, die ich das Wort „Ausflug“ schon als Kind gehasst hat, weil damit meist endlose Bergtouren gemeint waren, renne plötzlich mit einem ungestümen Vierbeiner um die Wette, bis ich völlig außer Puste bin.
Fanny hat nichts von der Behäbigkeit, die man Berner Sennerhunden nachsagt. Sie ist das Sport-Modell, ständig im Galopp-Modus unterwegs. Ab und zu, wenn sie sich neben mich setzt, gehe ich in die Hocke, schlinge meine Arme um ihren Hals, drücke meine Nase in ihr weiches Fell und empfinde Glück.
„Lassen Sie sich Zeit, so viel wie sie wollen!“ Ich nehme die Stimme der Tierärztin wie durch eine Nebelwand wahr. Meine linke Gesichtshälfte ist an den Kopf meines Hundes gepresst. Ich merke nicht, wie Tränen über meinen Handrücken auf die Behandlungsliege tropfen. Ich stehe gebeugt neben dem Tisch und halte meine tote Gefährtin im Arm. Es ist Donnerstag, der 21. Juli zwischen elf und zwölf Uhr vormittags. Die genaue Zeit weiß ich nicht. Ich weiß nur: Es ist einer der Momente in meinem Leben, den ich wie kaum einen anderen gefürchtet habe.
Physiotherapie, medizinischer Ultraschall, Krankengymnastik, Elektrotherapie, Unterwasser-Laufband. Wir haben alles probiert. Aber nichts konnte das allmähliche Absterben der Nervenleitbahnen aufhalten. Mit Sorge registriere ich, wie der Laufapparat meiner Hündin immer mehr abbaut. Weil sie ihre Hinterpfoten nicht mehr richtig aufsetzen kann, schleift sie mit den Krallen über den Boden.
Babysocken gegen aufgeschürfte Ballen
Ich kann das kratzende Geräusch auf dem Asphalt kaum aushalten, betupfe abends die aufgeschürften Ballen mit Wundsalbe, ziehe ihr Babysöckchen an. Wo es nur geht, versuche ich, sie über Wiesen zu führen und denke an die Zeiten, als sie in einem Affenzahn über Felder gesaust ist. Oder am Meer entlang.
Ich sehe uns beide nach einem Strandspaziergang an der französischen Opalküste in einem Bistro sitzen; rechts und links von uns Zweiertische, an denen ältere Paare speisen, die sich nichts zu sagen haben. Fanny starrt unablässig auf meinen Teller. Während ich Muschelfleisch aus den Schalen zupfe, sinken kleine Tropfen von ihrer Schnauze zu Boden und bilden da eine Pfütze. „Du sollst doch nicht betteln!“, sage ich in einem Ton, der eher nach „das machst du ganz prima!“ klingt.
Begegnung mit Cesar Millan
Ich sehe, wie sie bei strahlend blauem Himmel über eine Almwiese fegt. Wir sind tags zuvor mit dem Zug in Garmisch-Partenkirchen angekommen, wo wir im Rahmen eines Workshops für Journalisten dem berühmtesten Hundetrainer der Welt begegnen werden: Cesar Millan. „Dog-People“ seien im Umgang mit ihren Vierbeinern oft viel zu aufgeregt, erklärt der Mexikaner und unterstreicht mehrfach, was für eine gelungene Mensch-Hund-Beziehung unerlässlich ist: „Calmness“ – Ruhe.
Ich bin alles andere als ruhig, als wir uns im Sommer 2017 zum ersten Mal gemeinsam auf ein Stand-up-Paddel-Board wagen. Im Gegensatz zu mir ist es bei Fanny nicht der Beginn einer großen Leidenschaft. Macht nichts. Dafür entpuppt sie sich meine Sennerin als Seehund. Unsere gemeinsamen Wasser-Ausflüge gestalten sich allerdings problematisch, weil sie nie weiß, ob sie mich retten oder begleiten soll.
Seitdem wir täglich stundenlang draußen sind, bin ich selten erkältet. Eigentlich, finde ich, müsste meine Krankenkasse das Hundefutter zahlen. Seitdem es Fanny gibt, fliege ich nicht mehr, sondern erkunde im Umfeld Gegenden, die mir bisher fremd waren. Ich kaufe uns einen ollen Bus, probe das Übernachten im Wald, was ich ohne großen Hund nie gewagt hätte. Ich genieße das morgendliche Erwachen mit Blick auf einen Fluss oder See und den Kaffee in der Natur. Hotels sind Vergangenheit.
Manchmal ist sie ein Mistvieh
Natürlich gibt es Momente, in denen ich den Vierbeiner „Mistvieh“ nenne oder verfluche: Etwa, wenn die teure Brille mit zerkauten Bügeln im Körbchen liegt. Wenn sich der Hund am Rheinufer in totem Fisch wälzt. Wenn einen die türkische Großfamilie am liebsten lynchen würde, weil der Köter das Grillgut schnappt und davonrast. Oder wenn sich die Töle durch ein Loch in der Wand des Kiosks unerlaubt Zutritt zum Waldbad verschafft, alsdann über die Strandlaken nunmehr kreischender Teenager galoppiert und dabei Chipstüten räubert. Not funny!
Fanny haart, Fanny riecht, Fanny klaut – ofenwarmen Apfelkuchen auch gerne im Ganzen. Sie bringt mehr Dreck ins Haus, als jede Profilsohle. Sie reißt vor Freude Barhocker um, wenn ich vom Kneipenklo komme und gebärdet sich, als wäre ich Wochen fort gewesen. Sie liebt Schnee und Ausflüge ins Grüne. Hinterher kehrt sie schwanzwedelnd in unsere Wohnung zurück, als wollte sie sagen: „Hier ist es aber auch nett!“.
Sie war schon als Welpe stets da, wo ich bin. Morgens liegt sie auf der Schwelle zum Bad und schaut mir beim Haare föhnen zu. Ihr Blick sagt nie „biste endlich fertig?“, und ihre Rute schlägt selbst dann freudig gegen den Türrahmen, wenn ich zum siebten Mal versichere: „Wir gehen jetzt sofort raus!“
Von einem Rottweiler angefallen
Es geschieht an einem dieser extrem heißen Tage im Juli an unserem holländischen Ferienort. Wir sind schon früh unterwegs auf einem schattigen Weg am Wasser. Meine Hündin läuft so schwerfällig, dass mir der Anblick selber weh tut. Irgendwann taucht vor uns eine Frau mit einem Rottweiler auf. Als wir auf gleicher Höhe sind, stürzt er sich auf Fanny. Sie schreit auf und flüchtet sich zur Seite. Ich springe hinterher, rede beruhigend auf sie ein und durchsuche ihr Fell nach Biss-Spuren. Finde keine. Dann hört es sich wohl schlimmer an, als es war, denke ich.
Den restlichen Tag will Fanny nicht fressen. Das kenne ich von ihr, wenn es sehr heiß ist. Auch am nächsten Tag döst sie nur und hat keinen Appetit. Als sie am darauffolgenden Morgen ihren Napf noch immer nicht anrührt, läuten bei mir die Alarmglocken. Ich bugsiere sie in meinen Bus und fahre zum Tierarzt.
Vor der Untersuchung soll Fanny auf die Waage. Als sie heruntersteigt, sehe ich eine Blutspur an der Wand, die da vorher nicht war. Mein Herz hämmert. Nachdem wir sie mit vereinen Kräften auf den Behandlungstisch gehoben haben, durchsucht die Ärztin zentimeterweise das Fell. Und findet die Biss-Stelle. „Oh Gott!“, sage ich, „und jetzt?“
Die Frau im weißen Kittel schaut mich an. Ihr Blick spricht Bände. „Der Biss ist das eine“, sagt sie. „Fannys Allgemeinzustand das andere.“ – „Ich weiß“, sage ich und merke, wie mir Tränen in die Augen schießen. „Wir müssen eine Entscheidung treffen“, sagt die Ärztin. Ich nicke, hole tief Luft und frage: Was würden Sie tun, wenn es Ihr Hund wäre?“ – „Ihn erlösen“, sagt die Veterinärin. „Okay“, sage ich fast ohne Stimme, „dann tun wir das jetzt.“
Die letzten Minuten mit meinem Hund
Ich staune über meine Entschlossenheit und blicke zur Ärztin, die mir nun freundlich das Prozedere erklärt. „Sind Sie einverstanden?“ Ich nicke wieder und sehe, wie sie Injektionsbesteck und eine Arznei aus dem Schrank nimmt. Erst jetzt merke ich, dass ich Fanny mit aller Kraft festhalte, was nicht nötig ist, denn sie liegt ganz ruhig da.
Ich kann ihr nicht in die Augen sehen. Seit Wochen verfolgt mich die Vorstellung, dass in ihrem letzten Blick etwas Anklagendes liegen könnte. Also beuge ich mich von der Seite über sie und schlinge meine Arme um ihren Hals. Im nächsten Moment schluchze ich hemmungslos. „Es ist vorbei“, sagt die Ärztin wenig später. „Fanny hat nichts gespürt.“ – „Okay“, presse ich hervor, ohne den Kopf zu heben. „Ich lasse Sie jetzt allein“, höre ich die Frau sagen. „Lassen Sie sich Zeit, so viel wie Sie wollen.“
Irgendwann kommt sie zurück und fragt: „Kann ich noch was für Sie tun?“ – Ich möchte gerne Haare von Fanny mitnehmen, bringe es aber nicht fertig, ihr welche abzuschneiden. Es käme mir vor, als würde ich meine Gefährtin zerfleddern. „Könnten Sie das für mich tun?“ Die Ärztin greift zur Schere, streicht die Rute glatt und schneidet dort, wo die Haare am längsten sind, von allen drei Farben welche ab. „Reicht das?“ Ich nicke.
Als ich wieder hinterm Lenkrad sitze, verschwimmt die Straße vor mir. Der Bus riecht nach Fanny. In meiner Tasche liegt das Döschen mit ihrem Fell. Es vergehen Tage, bis ich es öffnen und den Inhalt berühren kann. Schließlich entnehme ich eine schwarze, weiße und braune Strähne, flechte daraus ein Zöpfchen, lege dies zwischen zwei Lederstreifen, die ich mit einer Sattler-Maschine zu einem Armband zusammennähe und mit einem silbernen Unendlichkeitszeichen verziere. Nun trage ich Fanny – wann immer ich möchte – am Handgelenk. In meinem Herzen ist sie eh.
Minnie hat den Schmerz weggewedelt
Neuerdings liegt ein junger Irischer Wolfshund auf der Schwelle zu meinem Badezimmer und schaut mir beim Haare föhnen zu. Manche Leute finden: „Die hat sich aber schnell getröstet.“
Für mich fühlt es sich gut und richtig an. Minnie hat meinen Schmerz buchstäblich weggewedelt. Wie vor elf Jahren entsorge ich jetzt wieder zerkaute Lesebrillen und TV-Fernbedienungen oder zerfledderte Bücher, aber ich weine nicht mehr.