Leffmanns Geschichte illustriert das Grauen des Holocausts und die schreckliche Maschinerie des NS-Regimes. Der Kölner Autor Ulrich Woelk zeichnet ihr Leben nach.
„Ich weinte vor Freude“Der Vernichtung knapp entkommen – das Schicksal der Kölner Jüdin Melanie Leffmann
Am 16. Oktober 1941 erhielt Melanie Leffmann ein behördliches Schreiben, in dem sie als Kölner Jüdin aus Deutschland ausgewiesen wurde. Sie sollte sich am Morgen des 21. Oktobers an der Messehalle in Deutz zu einem Transport ins polnische Łódź einfinden, das die Nationalsozialisten 1940 nach einem ehemaligen Wehrmachtsgeneral und NSDAP-Mitglied in Litzmannstadt umbenannt hatten. Das Ghetto in Łódź war nach dem im Warschau das zweitgrößte in Polen.
Ghetto als Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager
Die deutsche Besatzungsmacht zwang dort über 200.000 Menschen zu einem Leben unter erbärmlichsten räumlichen und hygienischen Verhältnissen. In dem Ausweisungsschreiben an Melanie Leffmann hieß es: „Mitzunehmen ist 50 lb. Gepäck, für 4 Tage Verpflegung, Fiebermedikamente und Insektenpulver und 50 Mark Fahrgeld.“ Das Ghetto in Łódź war für die meisten Deportierten nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager Auschwitz oder Treblinka. Die Täter verlangten den Opfern für die Reise in den Tod also Fahrgeld ab.
Melanie Leffmann war zum Zeitpunkt ihrer Ausweisung 64 Jahre alt. Wie viele Juden hielt sie es lange nicht für möglich, dass man sie aus ihrer Heimat vertreiben würde. In ihren Erinnerungen an diese Zeit schreibt sie: „In der [jüdischen] Gemeinde sprach es sich herum, dass man nach Polen käme, man ließ sich auch Rucksäcke machen, aber ernstlich glaubten es doch Wenige, dass es einmal soweit kommen könnte.“ Doch so ist es nicht.
Nach der Aufforderung, sich zum Transport nach Łódź einzufinden, sucht Melanie Leffmann verzweifelt nach Möglichkeiten, ihrer Deportation zu entgehen. Sie besticht ein Mitglied der Gestapo und lässt sich mithilfe eines ärztlichen Attests in das jüdische Krankenhaus „Israelitisches Asyl“ in Köln-Ehrenfeld einweisen. Dort jedoch dürfen von den Ausreisepflichtigen nur solche aufgenommen werden, die als „Sterbende“ gelten, und so muss sie das Krankenhaus schon nach wenigen Stunden wieder verlassen.
Am nächsten Tag diagnostiziert ein anderer Arzt bei ihr eine „todesähnliche Ohnmacht“. Angesichts der Ängste, die sie aussteht, ist das nahe an der Wahrheit. Sie wird erneut eingeliefert und kommt nun direkt ins „Sterbezimmer“.
Leffmann taucht wochenlang im Krankenhaus unter
Es gelingt ihr, in dem Krankenhaus für ein paar Wochen unterzutauchen, doch dann wird sie endgültig entlassen. Während die Alliierten immer mehr Luftangriffe auf Köln fliegen und Viertel für Viertel bombardieren, beginnt für Melanie Leffmann eine Odyssee auf der Flucht vor weiteren Ausweisungen. Einmal soll sie nach Riga deportiert werden. Diesmal braucht sie das Attest einer anerkannten medizinischen Kapazität. Ein Universitätsprofessor – ein Nationalsozialist, in dessen Wartezimmer das Propagandablatt der NSDAP, der „Stürmer“, liegt – stellt es ihr aus.
Irgendwann müssen sich alle Juden in Internierungslagern – einer Kaserne in der alten Artilleriefestung Fort V und einem mit Stacheldraht umzäunten Barackenlager in Müngersdorf – einfinden. In die öffentlichen Luftschutzkeller dürfen sie bei Luftalarm nicht. Einen Fliegerangriff überlebt Melanie Leffmann zwischen platzenden Fensterscheiben und umfallenden Schränken nur wie durch ein Wunder. „Der lb. G-tt hatte mich beschützt", schreibt sie in ihren Erinnerungen, nach jüdischem Brauch den Namen Gottes nicht ausschreibend.
Nicht alle erfassen das Ausmaß der Gefahr
Selbst unter dem Druck der Luftangriffe und der allgegenwärtigen Zerstörung der Stadt ruht die nationalsozialistische Verfolgungsmaschinerie nicht. Auf den Straßen, in Krankenhäusern und in Privatwohnungen sucht die Gestapo nach im Verborgenen lebenden Juden für die Todestransporte Richtung Osten. In der jüdischen Gemeinde erfassen noch nicht alle das wahre Ausmaß der Gefahr.
Vor einem anberaumten Transport nach Theresienstadt – einem scheinbar mustergültigen „Alterslager“ im heutigen Tschechien, das die Nationalsozialisten ausländischen Politikern und Journalisten als angeblichen Beweis für die Humanität ihrer „Umsiedlungspolitik“ vorzuzeigen pflegten – spricht ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in einem Vortrag vor den Internierten in Müngersdorf von einem „bevorzugten Transport […] nicht nach Polen.“ Viele folgen seiner Empfehlung. Melanie Leffmann schreibt: „So war die Anzahl 1000 Leute beisammen und gingen am Montag ab.“
Über den Autor
Ulrich Woelk wuchs in Köln im Stadtteil Porz am Rhein auf. Er studierte Physik und Philosophie in Tübingen und promovierte an der TU Berlin in Astrophysik. Sein erster Roman „Freigang“ erschien 1990. „Der Sommer meiner Mutter" (20219) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, für den Roman „Für ein Leben“ (2021) erhielt Ulrich Woelk den Alfred-Döblin-Preis. Zuletzt erschien „Mitsommertage“ (2023). Seit 1995 lebt Woelk als freier Schriftsteller in Berlin.
Trotz der Aussicht auf eine möglicherweise bevorzugte Behandlung in Theresienstadt lässt sie sich erneut ärztlich attestieren, nicht transportfähig zu sein. Doch schließlich wird ihr auch diese Möglichkeit, sich den regelmäßigen Ausweisungsbefehlen zu entziehen, genommen, weil es nicht-jüdischen Ärzten verboten wird, Juden zu behandeln und ihnen Atteste auszustellen. Eine Deportation nach Theresienstadt scheint für Melanie Leffmann jetzt unausweichlich zu sein.
Leffmann flieht aus dem Müngersdorfer Lager
Doch es gelingt ihr, zwei Tage vor dem nächsten Transport aus dem Müngersdorfer Lager zu fliehen und bei einer alleinstehenden Frau unterzukommen, die sie unter dem falschen Namen Maria Arends als angeblich Volksdeutsche bei sich wohnen lässt. Ein Jahr lang lebt sie bei dieser Frau, die aber schließlich zu Verwandten aufs Land zieht. Danach nimmt ein deutsches Ehepaar Melanie Leffmann auf.
Ohne gültige Papiere schwebt sie ständig in der Gefahr, entdeckt zu werden, denn überall wird kontrolliert: in Bunkern, bei der öffentlichen Essensausgabe, in Zügen, bei Ärzten. „Ich verstand es immer einzurichten, dort zu sein, wo schon kontrolliert war“, schreibt sie. Das Ehepaar, bei dem sie untergekommen ist, lebt in Lindenthal. Da sie selbst vor dem Krieg dort gelebt hat, ist die Gefahr, auf der Straße zufällig erkannt zu werden, besonders groß.
Im Frühjahr 1945 flieht das Ehepaar – und Melanie Leffmann notgedrungen mit ihm – vor der von Westen näher rückenden Kriegsfront auf die östliche Rheinseite nach Straßerhof bei Odenthal. Die alliierten Truppen erreichen Köln linksrheinisch im März 1945. Danach dauert es noch einen Monat, bis sie auch auf die rechte Rheinseite gelangen und weiter nach Osten vordringen.
An einem Sonntag im April 1945 kommen die ersten amerikanischen Soldaten in Straßerhof an. „Für mich die Befreiung“, schreibt Melanie Leffmann über diesen Tag. „Ich weinte vor Freude.“ Aus Dankbarkeit bleibt sie nach Kriegsende noch zwei Jahre bei dem Ehepaar, das sie aufgenommen hat, und hilft beim Wiederaufbau des Hauses in Köln.
Es ist schwer zu verstehen, dass die Verfolgung der europäischen Juden und aller anderen von der NS-Rassenideologie verfemten Bevölkerungsgruppen während der nationalsozialistischen Diktatur nie aufgehört hat – auch nicht, als die militärische Niederlage Deutschlands längst absehbar war. Von Januar bis März 1945 wurden in Köln noch 1800 Regimegegner ermordet.
Die NS-Vernichtungsmaschinerie, man kann es nicht anders sagen und die Geschichte von Melanie Leffmann belegt es, hat auf allen Ebenen bis hinunter in die Amtsstuben der lokalen Verwaltung und bis zum letzten Moment vor dem Zusammenbruch ihre menschenverachtende Agenda erfüllt. Nur in privaten Einzelfällen und unter der stets drohenden Gefahr für die Helfer entdeckt und selbst zum Opfer des Regimes zu werden, konnten einzelne Verfolgte Schutz finden. Melanie Leffmann hat dieses seltene, große Glück gehabt.
Die Geschichte entstammt der Reihe „Stolpertexte“ des Leo Back Instituts – New York/Berlin. Unter diesem Titel haben deutschsprachige Autor*innen literarische Texte über Schicksale von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus geschrieben, deren Lebenszeugnisse das Leo-Baeck-Institut seit 1955 sammelt und zugänglich macht. Das Buch mit den Geschichten aller Autoren erscheint im Herbst („Stolpertexte, Literatur gegen das Vergessen“, 164 Seiten, 19 Euro).