Köln – Lasst uns die Nacht zurückerobern: Dieser Slogan auf einem Transparent am Samstagnachmittag fasst zusammen, was am kommenden Abend unzählige Kölner und weit über tausend Polizisten versuchen werden. Es gilt, die Kölner Silvesternacht nach den massenhaften sexuellen Übergriffen vom Vorjahr rund um den Dom wieder zu einer Nacht der Freude zu machen – mit Feuerwerk, mit Freunden, in Harmonie.
Platzverweise
Die Polizei wird hinterher von einer weitgehend friedlichen Nacht sprechen – und im Vergleich zum Vorjahr wird das sogar stimmen: Trotzdem ist auch die Nacht des 31. Dezember 2016 weit entfernt von einer normalen Kölner Silvesternacht. 900 Platzverweise wird die Polizei am späteren Abend und in der Nacht erteilen, an Männer, die zumeist nordafrikanischer Herkunft sind oder danach aussehen, 1700 Personalien wird sie feststellen.
Alle Menschen, die in die Nähe des Doms wollen, werden mehr oder weniger intensiv kontrolliert, mit Böllern kommt niemand in die Schutzzone. Dafür sorgen neben der Polizei Hunderte Sicherheitskräfte in gelben Westen.
In der Innenstadt sind gegen 15 Uhr viele Passanten unterwegs. Normalität, wären da nicht die vielen an der Seite wartenden Gitter und die Sicherheitskräfte, die sich auf dem Roncalli-Platz versammeln, um sich auf ihren Einsatz am späteren Abend vorzubereiten.
Gegen Vereinnahmung
Und auf dem Wallrafplatz halten zwei Dutzend junge Antifaschisten eine Kundgebung ab: „Gegen Sexismus und Rassismus“ tönen die Plakate, „Irgendwann endet die Herrschaft vom Mann“ tönt eine junge Frau durch Lautsprecher. Für die Selbstbestimmung der Frau, für ein „Nein heißt Nein“, aber auch gegen die Vereinnahmung der Silvesternacht durch rechte Gruppierungen: Das sind die wichtigsten Themen. Viele Passanten bleiben zumindest kurz stehen. Dann strömen sie weiter – nach Hause, Vorbereitungen treffen.
Absperrungen ab 17 Uhr
Ab 17 Uhr werden die Absperrungen rund um dem Dom errichtet, Hohenzollernbrücke und Rheinboulevard werden gesperrt. Der Chor „Grenzenlos” mit Flüchtlingen und Kölnern, begleitet von Höhner-Sänger Henning Krautmacher, tritt auf der Domtreppe auf. Um 17.30 Uhr beginnt die Lichtinstallation von Philipp Geist. Worte wie Wonne, Sicherheit, Passion leuchten auf der Domplatte auf, Besucher fangen an, die großen Buchstaben mit Kreide auf dem Boden nachzuzeichnen.
„Ganz klasse“ findet Katharina Lindenberg. Sie und ihr Ehemann, beide Urkölner, wollen bis Mitternacht am Dom bleiben, um den Dicken Pitter schlagen zu hören. Was in der letzten Silvesternacht geschehen ist, sei beschämend finden beide. „Ein Grund mehr, in diesem Jahr am Dom zu sein.“
Auch Polizeipräsident Jürgen Mathies und Oberbürgermeisterin Henriette Reker gucken sich die Lichtshow an. Er schließe nicht aus, sagt Mathies, dass extremistische Gruppen den Abend nutzen, „um ihre Meinung“ kundzutun. Er wird recht behalten: Die Polizei führt kurz darauf Mitglieder der sogenannten Identitären Bewegung ab, einer rechtsextremistischen Gruppierung, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Ob diese spontan demonstrieren wollten, bleibt unklar. Aktivisten entrollen ein Banner auf dem Bahnhofsvorplatz „Nein zu Sexismus und Rassismus - stoppt die Abschiebung nach Afghanistan“ steht darauf. Die Aktivisten nutzen die Präsenz vieler Journalisten aus der ganzen Welt, um für ihr Anliegen zu werben.
Massive Polizeipräsenz
Ab 18.30 Uhr kontrolliert die Polizei erstmals verstärkt junge Männer und Jugendliche auf der Domplatte und am Hauptbahnhof, die nordafrikanisch aussehen. Grüppchen junger Männer stehen im Hauptbahnhof. Einige scheinen verunsichert, eingeschüchtert angesichts der massiven Polizeipräsenz, scheinen nicht zu wissen, wo sie hinwollen.
Im Visier der Polizei: Nordafrikaner und Rechtsextreme
Nach Aussage des Bundespolizeipräsidenten werden drei Personengruppen ins Visier genommen: Junge Männer aus dem nordafrikanischen Raum, extremistisch motivierte Personen, Rechtsextreme. Derweil strömen die Gottesdienstbesucher aus dem Dom. Kardinal Rainer Woelki hatte in seiner Predigt erklärt: „In der vergangenen Silvesternacht hat sich auf erschreckende Weise das Bewusstsein geschärft, wie gewalttätig Sexismus ist und wie gefährdet Frauen mitten unter uns sind.“
Auf der Domplatte und auf dem Roncalliplatz gesellen sich Seifenblasenkünstler zu den Besuchern. Die Stimmung? Friedlich. Um den Bahnhof herum sind immer mehr Polizisten im Einsatz. In der Luft kreist ein Hubschrauber. Die Polizei bildet Gassen am Bahnhofseingang, sortiert ganze Gruppen arabisch aussehender Männer aus. Durch die Maßnahme entsteht Stau an der Bahnhofshalle. Die Polizisten fragen die Männer, wo sie hingehen möchten, kontrollieren Ausweise.
Gegen 21.30 Uhr sagt Polizeipräsident Mathies, dass sich eine größere Zahl nordafrikanischer Männer im Hauptbahnhof versammelt habe, die man eng im Auge habe. Er könne noch nicht versprechen, dass es dort friedlich bleibe. Ein Polizeisprecher sagt, die kontrollierten Personen fielen ins Raster derer, die im vergangenen Jahr Probleme gemacht hätten. Sie bekämen nun alle einen Platzverweis. Im Bahnhof kommt es zu einer Schlägerei, Polizisten gehen sofort dazwischen.
Intensive Kontrollen am Breslauer Platz
Ein Polizist sagt, eine Gruppe nordafrikanischer Männer sei mit dem Zug aus Düsseldorf gekommen. Er schätzt, dass es sich um rund 200 Personen handelt, man gehe von einer Verabredung aus. Auch am Ausgang Breslauer Platz wird jetzt intensiv kontrolliert. Wer schon im Vorjahr da war, erhält einen Platzverweis und muss sofort die Heimreise antreten.
Eine Gruppe syrischer Jugendlicher aus Gummersbach wird kontrolliert und darf weiter auf die Domplatte. Man wolle nur „chillen“, erklärt einer der Jugendlichen. Zwei junge Männer aus Tunesien wollen mit Freunden in Köln feiern. „“Wir finden die Polizeikontrollen übertrieben“, erklären sie. Mit den Ereignissen vor einem Jahr hätten sie nichts zu tun.
Während die Bilder rund um den Hauptbahnhof immer unschöner werden, steigt die Stimmung auf der Domplatte und auf dem Roncalliplatz um kurz vor 23 Uhr immer mehr. Der Chor Gospelcologne steht mit 100 Personen auf der Bühne, rund 1500 Menschen davor wärmen sich mit leichten Tanzbewegungen auf.
Viele Besucher genießen trotz der kalten Temperaturen, dass rund um den Dom nicht geböllert werden darf. Die umfangreichen Sicherheitsregelungen empfinden sie nicht als störend: „Das ist okay und angemessen, sagte Heinz Gergen aus Saarlouis. „Viele Menschen sind nach dem letzten Jahr verunsichert.“
Kontrollen auch in Deutz
Immer mehr Männer stehen im Hauptbahnhof und werden von der Polizei kontrolliert: Polizeipräsident Mathies spricht gegen 23.15 Uhr von rund 1000 Personen, die dem nordafrikanischen Hintergrund zuzuordnen seien. Am Deutzer Bahnhof würden derzeit etwa 300 Personen kontrolliert.
650 Identitätsfeststellungen
Es ist kurz vor Mitternacht: An den Grenzen zur böllerfreien Zone wird mehr und mehr Feuerwerk gezündet, fliegen zunehmend auch in die feuerwerksfreie Zone. Die Polizei schreitet ein. Um Schlag zwölf läutet der dicke Pitter das neue Jahr ein und übertönt zum Teil sogar die vielen Knaller und Heuler. Danach leert sich die Domumgebung rasant. Gegen 0.30 Uhr befinden sich auch auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs kaum noch Menschen. Für Polizei und Sicherheitskräfte gibt es auf der Domplatte kaum noch etwas zu tun. Die Menschen feiern in den Bars auf den Ringen, in den Veedeln und in der Altstadt weiter. Vor allem am Rheinufer liegen zahllose Böller-Rest – viel Arbeit für die AWB.
Oberbürgermeisterin Henriette Reker zeigt sich um zwei Uhr zufrieden mit dem Verlauf der Nacht: „Wir haben die Sicherheitslage gut und richtig eingeschätzt“, sagt sie. Das vorläufige Fazit der Polizei: Zwei sexuelle Übergriffe, die Täter sind von der Polizei gestellt worden, knapp 650 Identitätsfeststellungen, sechs Festnahmen (davon drei sich illegal in Deutschland aufhaltende Männer), Hunderte Platzverweise. Wenig Straftaten, vor allem an den Ringen und auf der Zülpicher Straße blieb es ruhig, während Altstadt und Domumgebung stark besucht waren. 50. 000 Menschen haben die Lichtinstallation besucht, 10.000 Menschen befanden sich gegen Mitternacht am Rheinufer.
Viele offene Fragen
Ja, die Kölner haben sich ihre Silvesternacht zurückerobert. Allerdings um den Preis massiver Polizeipräsenz, mit Beamten, die am Bahnhof mit rund 1080 Platzverweisen und 650 Personenkontrollen mehr zu tun hatten, als ihnen lieb gewesen sein kann.
Zurück bleiben – bei aller fröhlichen Ausgelassenheit an vielen Orten in der Stadt, um den Dom herum – auch offene Fragen, gemischte Gefühle: Wäre die Nacht ohne die vielen Polizisten so friedlich geblieben? Hatten sich womöglich erneut Männer verabredet, um Straftaten, sexuelle Übergriffe rund um den Hauptbahnhof zu begehen? Wie müssen sich die Männer gefühlt haben, die nichts Böses im Sinn hatten und nur aufgrund ihres ausländischen Aussehens von der Polizei kontrolliert wurden? Ein rundum fröhlicher neuer Jahresanfang für Köln sieht anders aus.