Generation Kriegskinder„Heilsame Kraft von Sprechen ist das Wichtigste“
Die Generation der Kriegskinder hat nicht so gerne geredet über ihre eigene Kindheit und Jugend, die fast immer geprägt war von Krieg, Tod und Gewalt, von Hunger, Armut, Flucht oder Vertreibung, von Denunziation und dem Geist der Nazizeit. Dem Kölner Philosophen und Autor Jürgen Wiebicke ist es gelungen, mit seinen Eltern ausführliche Gespräche darüber zu führen, als sich deren Lebensende abzeichnete. Entstanden ist „Sieben Heringe – Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben“, ein Memoir, ein spannendes Buch voller Emotionen, dass sich am Ende intensiv mit dem Sterben und der Vorbereitung darauf auseinandersetzt.
Das Buch
„Sieben Heringe“ von Jürgen Wiebicke, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 20 Euro.
Vorher aber feiert Wiebicke das Leben, indem er die Geschichte seiner Familie aufschreibt, die normal ist für ihre Zeit, exemplarisch, und dennoch für die Generationen danach, die den Krieg nicht mehr erlebt haben, schwer vorstellbar in all ihrer Härte. Und umso schöner in kleinen Glücksmomenten. Wir haben Jürgen Wiebicke, der das Buch seinen Kindern widmet, „damit aus Erzählen Weitererzählen wird“, am Friedhof in Brück getroffen.
Herr Wiebicke, hat die Arbeit am Buch ihre Einstellung zum Tod verändert?
Ich finde es wichtig, einen anderen Blick auf das Lebensende zu werfen. Wir denken da immer nur an Schmerzen und Hinfälligkeit, an all die Dinge, die nicht mehr gehen. Was ich erfahren durfte, ist, dass Eltern eine Freude am Leben haben können, obwohl sie Vieles nicht mehr können. Es entsteht ganz viel Lebensqualität dadurch, dass man sprechen kann. Die heilsame Kraft von Sprechen ist für mich das Wichtigste. Welche Türen sich öffnen, wenn man anfängt zu sprechen.
Die Türen öffnen sich angesichts des Todes?
Ja. Es war schön zu sehen, dass das nahende Lebensende sowohl meinen Vater wie meine Mutter radikal gemacht hat. Als ob man freier sprechen könnte, weil man keine Rücksicht mehr nehmen muss auf Etikette. Dass man einfach sagen kann, was die Härten des Lebens waren. Und das Tolle ist: Wenn man die Härten des Lebens ausspricht, dann werden sie weich. Ich hatte das Gefühl, je intensiver wir gesprochen habe, umso besser ging es meinen Eltern. Sie haben sich wieder gespürt.
Wird die eigene Vergangenheit wichtiger mit dem Älter werden?
Wir Baby-Boomer sind ja in einer ziemlich glücklichen Phase der Geschichte groß geworden. Wir sind im Windschatten der Geschichte gesegelt. Wir haben uns viel auseinandergesetzt mit der Generation vor uns, haben viel erfahren über NS-Zeit und Weltkrieg. Was ich beim Älterwerden so frappierend finde, ist dass sich die Proportionen verschieben. Wenn man jung ist – ich bin 17 Jahre nach Kriegsende geboren – führt das dazu, dass man denkt, das war eine ganz andere Zeit, da habe ich nichts mit zu tun. Wenn man älter wird, merkt man, dass die Nachwirkungen in jedem von unserer Generation spürbar sind. Wir alle sind Produkte einer kaputten Gesellschaft, die seelisch zerstört war.
Für mich ist es wichtiger geworden mit den Jahren – und da haben die Gespräche mit meinen Eltern sehr geholfen – nach dem zu suchen, was ich so die Archäologie meines Lebens nenne. Was sind die Dinge, die ich mitbekommen habe, ohne dass ich das in dem Moment gemerkt habe? Ich glaube, dass sich NS-Zeit nicht darin erschöpft, dass Menschen umgebracht wurden, dass es politische Gewaltherrschaft gab, sondern dass sie in den ganzen Gefühlshaushalt eingedrungen ist. Unsere Eltern haben das in sich getragen als eine seelische Erbschaft. Logischerweise haben wir etwas davon mitbekommen, ohne dass das gewollt war.
Die „Normalität“ beginnt dann in den 50ern, die ganz extrem von Konventionen geprägt sind. Da gab es keine Luft zum Atmen. Schweigen ist Gold?
Meine Mutter hat sich in unseren Gesprächen freigesprochen. Das war sehr schmerzhaft, aber auch befreiend. Sie hat immer wieder dieses Bild benutzt vom Kloß im Hals. Dieser Kloß im Hals, dieses Unbearbeitete, das ist exemplarisch für eine ganze Generation. Es ist schön zu erleben, was geschieht, wenn der Kloß sich lockert. Wenn es auf den letzten Drücker des Lebens noch gelingt, sich zu befreien von dem, was da so fest gesessen hat. Wenn das Grauen einen Namen bekommt, dann gelingt auch die Distanzierung davon.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich habe meine Mutter gefragt: Wann ging das eigentlich los, dass du Gewalt erlebt hast? Sie hat mir erzählt, dass sie als 12-jähriges Mädchen nach einem Bombenangriff in Köln eingesetzt wurde, um Butterbrote zu schmieren für ausgebombte Familien. Sie hat gesehen, wie die Leichen der Opfer des Angriffs auf den Bürgersteigen lagen, etwas, was jenseits unserer Vorstellung ist: dass Brandopfer schrumpfen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Und dieser Anblick von Erwachsenen, die auf Kindergröße geschrumpft waren und tot auf dem Trottoir lagen, war nicht das Einzige, was sie verarbeiten musste. Es war der Anfang einer Kette schrecklicher Ereignisse, die irgendwo einen Platz in der Seele finden müssen.
Unsere Elterngeneration hat durch den Krieg und die Folgen ihre Jugend verloren. In Köln geht es da meist um Trümmerfrauen. Bei Ihrer Mutter war das anders.
Ich fand besonders schön, dass sie bei ihrer existenziell bedrohlichen Biografie inmitten des ganzen Chaos auch Phasen des Glücks hatte. Sie hat ein altes Poesie-Album rausgekramt und wir sind auf den Eintrag eines jungen Mannes gestoßen, der wohl ein Verehrer war. Man sagt, erste Erfahrungen in der Liebe, das ist so etwas, was eine Biografie prägt. Sowas hatte ja fast keinen Platz. Aber erlebt hat Sie es dann doch.
Auch das gehört für mich zu einem geglückten Lebensende, dass man darauf noch einmal zurückschauen kann. Meine Mutter hat am Ende viel mehr von sich selber verstanden – durch Erzählen. Das letzte Lebensjahr kann schön sein, weil es gelungene Momente bieten kann. Wenn man radikal auf das eigene Leben zurückschaut. Wenn man es zum Abschluss bringen kann.
Das Buch heißt „Sieben Heringe“.
Das bezieht sich auf ihre Tätigkeit als Versorgerin der Familie. Sie musste schon als junges Mädchen durch das halbe Land fahren, um irgendwelche Sachen zu tauschen. Einmal bekam die Familie auf Lebensmittelmarken sieben Heringe. Sie hatten keine Kartoffeln dazu, kein Brot dazu, das ist, selbst wenn du Hunger hast, ein Problem. Sie ist bis fast an die Mosel gefahren zu den Kartoffelbauern, um zu tauschen: sieben Heringe gegen gekeimte Kartoffeln. Mal redete sie von sechs, mal von sieben Fischen. Ich habe sie darauf angesprochen, dann hat sie schelmisch gegrinst und gesagt: Einen habe ich selbst gegessen, das wusste zu Hause aber keiner. Sie war stolz beim Erzählen auf das, was ihr gelungen ist, spitzbübisch. Wie sie schwierige Situationen durch Improvisieren gemeistert hat. Einmal ist sie mit einer Kiste lebender Enten auf einem Güterwaggon, der Baumstämme geladen hatte, von Bayern bis nach Köln gefahren. Wenn sie davon erzählte, schienen die Enten heute noch zu leben. Neben dem Stolz war aber auch immer wieder die Fassungslosigkeit über das da, was sie erlitten hat, der Schmerz, der auch Jahrzehnte später noch spürbar ist.
Das Hamstern ist geblieben.
Wir Kinder sind mit Hamstern groß geworden. Wir haben bis zuletzt gehamstert. Selbst als meine Eltern schon alt waren, konnten sie es nicht ertragen, an einem verwilderten Garten vorbeizukommen, ohne über den Zaun zu klettern und Säcke voll zu machen mit dem Obst, was sonst keiner ernten würde. Solche Fischzüge gehörten zur Familie, und mein Vater hat immer die „Beute“ gewogen voller Stolz. Der Geist des Selbstversorgens, des Einlagerns, das Wissen darum, wie lange sich welche Apfelsorte hält, so bin ich groß geworden.
Neumodisch heißt das Nachhaltigkeit.
Genau. Das Wort kenne ich noch nicht so lange, aber die Praxis von klein auf. Es wurde nichts weggeworfen, jedes kleine Ding hatte seinen Wert. Heute kommt das wieder mit irgendwelchen Repair-Cafés, aber mein Vater hat immer im Keller an etwas gefrickelt, jede Schraube aufgehoben. Meine Eltern haben immer so gelebt. Aus der Not heraus, aber sie haben es mit rüber genommen in die Wohlstandszeit.
Ich habe beim Lesen mehrfach gedacht, man könnte einen tollen Film aus ihren Geschichten machen.
Bestimmt, aber da gibt es keine Pläne. Vieles von dem, was meine Eltern erlebt haben, hätte ein Filmstoff sein können. Viel Drama, aber auch viel Gutes. Und zu einem Film gehört neben der Tragödie auch das Erlösende. Allein, wie sie sich kennengelernt haben: Auf der Mielenforster Wiese, das ist nicht weit von hier.
Mein Vater hütet Schafe, und meine Mutter kommt vorbei, um Futter für die Kaninchen zu sammeln. Das gehörte zu ihrer Rolle, sich um die Haustiere zu kümmern, die wurden dann später geschlachtet. Er bietet an, ihr zu helfen, sie sammeln gemeinsam. Als sie am nächsten Tag wieder zu der Wiese kommt, hatte er seinen Sack mit Kaninchenfutter schon fertig. Das war sein Strauß roter Rosen – ein Sack mit Kaninchenfutter. Definitiv eine Filmszene.