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Kölner Notdienst durch Bagatellfälle überlastet„Es wird immer schwieriger, sich auf die wirklich Kranken zu konzentrieren“

Lesezeit 5 Minuten
Ein Arzt trägt ein Stethoskop um den Hals.

Die Belastung durch Notfälle, die eigentlich keine sind, nimmt für Kölner Praxen und Krankenhäuser zu (Symbolbild).

Bagatellfälle fordern die Kölner Notdienstpraxen und Krankenhäuser immer mehr heraus. KV-Chef Jürgen Zastrow schlägt Lösungen vor.

Herr Zastrow, wie hat sich der Umgang mit dem Notdienst in den vergangenen Jahren verändert?

Wir haben Wachstumsraten bei der Inanspruchnahme von mehr als zehn Prozent – pro Jahr. Mehr als die Hälfte der Krankenhauseinweisungen sind inzwischen durch die Patienten selbst veranlasst. Bis zu 70 Prozent der Menschen, die in Notfallpraxen behandelt werden, hätten bis zur nächsten Sprechstunde warten können. In Köln haben wir inzwischen eine halbe Million Notdienst-Einsätze pro Jahr, das ist schlicht zu viel.

Woher kommt diese Entwicklung?

Meiner ärztlichen Erfahrung nach sinkt die Bereitschaft zur Eigenverantwortung kontinuierlich. Das Vertrauen in ärztliche Expertise sinkt außerdem, heute hören mehr Menschen auf ihr Gefühl und gehen deswegen schnell in den Notdienst. Auch werden mehr und mehr Operationen vom ambulanten Bereich ins Krankenhaus verlegt. Zudem ist die gesundheitliche Versorgung in vielen anderen Ländern beschränkt auf Krankenhäuser – zugewanderte Menschen gehen deswegen oft auch hier ins Krankenhaus, obwohl es nicht nötig wäre, einfach, weil sie es nicht anders kennen.

Was läuft aus Ihrer Sicht politisch falsch?

Ein System mit festen Budgets passt nicht zu einer Notfallversorgung, das gehört dringend umgestellt. Die Feuerwehr hat ja auch kein Löschwasserbudget. Hier muss nach dem realen Aufwand bezahlt werden, damit wir kostendeckend arbeiten können. In der Corona-Pandemie wurde das, was zu tun war, schlicht bezahlt, hier hat man gesehen, wie gut unser Gesundheitssystem funktionieren kann. Wir standen deutlich besser da als viele andere Industrieländer. Wir sollten diesen Modus teilweise auch für die Zeit nach der Pandemie, in der wir jetzt sind, adaptieren.

Wenn jemand Atemnot empfindet, dann ist das natürlich ein Notfall, auch wenn sich vor Ort herausstellt, dass es nur ein leichter Husten ist.
Jürgen Zastrow, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein

Außerdem sehe ich einen Widerspruch in der Gesetzgebung: Zum einen ist die gesetzliche Krankenversicherung zur Wirtschaftlichkeit verpflichtet, zum anderen gilt aber die Einschätzung des Patienten selbst als Grundlage für die Definition eines Notfalls. Das ist eine politische Definition und sie passt nicht zum Gebot der Wirtschaftlichkeit. Wenn jeder Fall, der von dem Betroffenen als Notfall empfunden wird, auch ohne medizinische Notlage als Notfall behandelt werden soll, dann muss das auch über Steuergelder bezahlt werden – nicht über die Krankenkasse.

Welche Lösungen sind denkbar?

Man könnte den Zugang zum Notdienst optimieren, indem man ein Telefonat mit einem Vertragsarzt oder der ärztlichen Anrufzentrale 116117 vorschaltet. Alternativ kann dieses Gespräch auch an den Ambulanzen selbst stattfinden. Außerdem beobachte ich den Mechanismus, dass Krankenhäuser immer eine Ambulanz anbieten, um sich so die Patienten zu sichern.

Das liegt im eigenen Interesse, denn so nimmt man deutlich mehr Patienten auf. Nötig ist das nicht, die Ressourcen könnten in den Krankenhäusern anders oft besser genutzt werden. Man könnte umstellen auf ein System mit weniger Ambulanzen, die Patienten aber nicht nur an das eigene Haus, sondern an verschiedene Häuser verteilen. Dafür müsste man aber eben auch die Zahl der Bagatellfälle reduzieren.

Wenn ein Patient seine Situation selbst grob falsch einschätzt, werden Sie ihn aber auch bei den Umstellungen weiter aufnehmen müssen.

So ist es. Wir werden weiterhin mit Fehleinschätzungen leben müssen, das ist vollkommen klar. Wir müssen uns am Ende immer an Atmung, Blutdruck und weiteren zentralen Körperfunktionen orientieren. Wenn jemand Atemnot empfindet, dann ist das natürlich ein Notfall, auch wenn sich vor Ort herausstellt, dass es nur ein leichter Husten ist. Das müssen wir hinnehmen. Es geht mir bloß darum, die Dimension zu verändern.

Entsteht mit einer Verkomplizierung des Zugangs nicht auch das Risiko, dass einigen Menschen in größter Not nicht mehr geholfen wird?

Das Risiko entsteht theoretisch, aber nicht praktisch: Wer sich krank fühlt, wird den Zugang zum System suchen und wer sich nicht krank fühlt, wird auch nicht in die Notfallpraxis gehen. Jetzt fehlt uns allerdings das durch Missbrauch verlorene Geld in der Regelversorgung und im Notdienst haben wir aber das Risiko, dass Notfälle aufgrund der vielen Bagatellfälle zu spät behandelt werden. Und aus meiner Sicht ist dieses Problem deutlich größer: Es wird immer schwieriger, sich auf die wirklich Kranken zu konzentrieren.

Was sind Beispiele für Bagatellfälle, die den Praxen ihre Arbeit erschweren?

Die Ausstellung von CT-Überweisungen oder Krankschreibungen, Rezepte, die man vergessen hat zu beschaffen. Manche wenden sich bewusst erst gar nicht an den Vertragsarzt, sondern gehen direkt in die Ambulanz. Auch Menschen, die am selben Tag beim Arzt waren und eine Zweitmeinung wollen, gehören dazu. All dies sind keine Notfälle und aus meiner Sicht ist es möglich, viele dieser Fälle zu vermeiden. Viele Fachleute fordern auch eine Selbstbeteiligung, um dies zu verhindern. Denkbar sind auch Bonussysteme, in denen belohnt wird, wenn man sich vor der Inanspruchnahme beraten lässt. Zwischen Weihnachten und Neujahr haben wir eine Notruf-Hotline für Kinderärzte geschaltet. Es gab hier 3746 Anrufe, bei der Hälfte waren keine weiteren Arztkontakte notwendig und die Eltern fühlten sich gut beraten.

Und dann lässt sich nur derjenige im Notfall behandeln, der es sich leisten kann?

Nein, das muss natürlich vermieden werden. Echte Notfälle können ja weiterhin durch die Krankenkasse auf Antrag erstattet werden. Und zum Beispiel für Sozialhilfeempfänger könnten Ausnahmeregelungen geschaffen werden, sodass hier auf keinen Fall Kosten entstehen würden. Man kann solche Regelungen abpuffern. Aber so, wie es jetzt läuft, läuft es einfach nicht gut.