AboAbonnieren

Gespräch mit Pfarrer Meurer„Entweder die Kirche nützt, oder sie ist für die Katz"

Lesezeit 9 Minuten
20200313meurer25

Pfarrer Franz Meurer hat ein Buch geschrieben.

  1. Pfarrer Franz Meurer hat ein Anti-Krisen-Buch geschrieben. Es trägt den Titel „Glaube, Gott und Currywurst“.
  2. Der Pfarrer erklärt, wie er sich abtrainiert hat, auf das Schlechte zu fokussieren. Autorität gewinne die Kirche nur, wenn sie den Menschen auch materiell etwas bringe.
  3. Bei der Arbeit im Veedel zeige sich, ob die Menschen miteinander, gegeneinander oder nebeneinander leben.

KölnHerr Meurer, die Welt wird immer ungerechter, die Erde kollabiert, weil der Mensch sie verschmutzt, Solidarität und Mitgefühl haben es schwer. Ihr Buch „Glaube, Gott und Currywurst" liest sich trotzdem fast fröhlich - und ziemlich ermutigend. Woher nehmen Sie nur Ihren Optimismus?

Ich habe mir vor vielen Jahren abtrainiert, das Schlechte nach vorn zu holen. In jedem Bösen steckt auch etwas Gutes, dieser Gedanke hilft mehr. Jeder Mensch kann etwas beitragen. Es bringt nichts, zu oft an die Krisen in der Welt zu denken. Wegen Corona wurden Veranstaltungen des Bistums abgesagt – also habe ich freie Zeit, um Gespräche zu führen und Projekte auszuarbeiten. Ich muss bei mir anfangen. In dem Buch stelle ich dar, wie Solidarität und Kirche im Veedel funktionieren.

Produkt ist Service, schreiben Sie, die Gemeinden müssten den Menschen nicht nur spirituell, sondern auch materiell nutzen.

Die Kirche muss für die Menschen da sein, nicht umgekehrt. Der Autor Remo Largo hat das sehr treffend beschrieben: Wir sollten uns Gedanken machen, was zu den Menschen passt, zu jedem Einzelnen. Wir müssen von den Menschen ausgehen. Das ist übrigens ein sehr frommer Gedanke: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes. Gott weiß, dass es nicht reicht, eine Inspektion zu machen, einen Reporter zu schicken, hin und wieder mal vorbeizuschauen. Jesus muss ganz Mensch werden, so wie wir. Entweder die Kirche nützt den Menschen, oder sie ist für die Katz. Materiell nützen heißt auch: Klar, unterstützen wir Kinder, deren Eltern nicht genug Geld für die Klassenfahrt haben. Klar geben Essen aus, helfen mit Taschengeld.

20200313meurer19

Pfarrer Franz Meurer

In puncto jeden ernst nehmen liegt bei Ihrer Kirche noch einiges im Argen: Nicht jeder und jede fühlt sich ernst genommen.

Es ist viel Luft nach oben, egal ob es um Frauen oder Homosexuelle geht, die Sachen sind ja ziemlich klar. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – das gilt gerade auch für die Kirche. Um biblisch zu sprechen: Nach mir die Sintflut, das geht nicht. Die Dinge entscheiden sich heute. Heute werde ich dein Gast sein. Heute kommst du ins Himmelreich. Heute ist diesem Haus Heil widerfahren. Der Alltag ist der Weg zu Gott. Aber ich habe das Buch nicht geschrieben, um Gott und die Welt und meine Kirche zu kritisieren, davon gibt es genug zu lesen.

Wie hat sich Ihre optimistische Haltung entwickelt?

Ein Beispiel: Nächste Woche ist die Erstbeichte der Kommunionskinder. Wenn die noch so liefe wie zu der Zeit, als ich Kind war, würde ich da keinem Kind zu raten, da war die Beichte etwas Schlimmes. Die Beichte muss zu einem Entwicklungs- und Individualisierungsschub führen, sonst bringt es nichts. Viele Kinder und Jugendliche erzählen mir heute, dass sie danach klarer sehen. Dass sie das gut finden. Das macht doch Mut!

Das könnte Sie auch interessieren:

Für mich ist die Beichte bei Kindern mit dem Gedanken verbunden: Da wird kleinen Menschen Angst gemacht, das schlechte Gewissen befördert.

Stimmt, so kenne ich das aus meiner Jugend auch. Es geht aber gar nicht um die Wahrheitsfrage! Und auch nicht um Gut und Böse. Moral allein bringt nichts und auch Verzicht nicht! Die Kinder, die heute zur Beichte kommen, wissen, dass bei uns keiner mehr mit der Höllenangst arbeitet. Angst machen gilt nicht.

Auch diesen Gedanken scheint mir in Ihrer Kirche nicht jeder zu teilen.

Zumindest gaukeln wir den Menschen nicht mehr vor, dass sie in die Hölle kommen – abgesehen von ein paar Sekten und anderen Fundamentalisten, natürlich. Ich habe schon oft gesagt: Religion ist das Gefährlichste, was es gibt. Wenn du willst, das ein guter Mensch was Böses tut, dann führe ihn zur Religion. Das stimmt genauso wie die Tatsache, dass wir als Kirche für alle da sind und Menschen bei uns Halt finden. Dass die Kirche den Menschen heute Angst macht, würde ich nicht mehr so sagen: Sie hat zu wenig Mut, das schon.

Viele der Menschen, die zu Ihnen können, haben Angst, weil sie keinen Job oder sehr wenig Geld haben. Sie raten: Wer es macht, hat Macht. Kommt das bei den Leuten an?

Entscheidend ist, dass die Menschen wissen, dass sie bei uns auf Resonanz stoßen. Dass es uns nicht wichtig ist, wie viel sie im Portemonnaie haben. Dass jeder wertgeschätzt wird. Und wir ihnen im besten Fall ein bisschen helfen, an einem Leben teilzunehmen, das ihnen sonst verwehrt bliebe.

Sie haben festgestellt, dass es für die Kirche wichtiger geworden ist, Neues zu probieren, das Risiko nicht zu scheuen. Wo haben Sie im Veedel in den vergangenen Jahren etwas riskiert, was hat geklappt, und was nicht?

Nicht gelungen sind zum Beispiel die Geburtstagsfeiern speziell für arme Kinder. Wir dachten, das ist es doch – aber es ist viel besser mit allen Kindern Eislaufen zu gehen – die Fokussierung auf Geburtstage armer Kinder war irgendwie schräg. Gut funktioniert haben unsere Taschengeldpatenschaften. Oder aktuell die Aktion, um Schmetterlinge zu retten: Wir verteilen 2000 Tütchen mit Blumensamen, Kinder und auch Erwachsene säen die aus, in der Kita, in der Grundschule, werden zu Schmetterlingspaten, jeder erhält eine schöne Karte. Das ist vielleicht nicht riskant, funktioniert aber super.

Jetzt für „Stadt mit K“ anmelden!

SMK-Brasack

Was bringt der Tag? Was kann ich in Köln unternehmen? Wo sollte ich essen gehen? Oder soll ich vielleicht doch lieber ein Rezept nachkochen? Wie ist die aktuelle Corona-Lage in der Stadt? Und welche Geschichten sollte ich auf keinen Fall verpassen?

All das liefern wir Ihnen in unserem Newsletter „Stadt mit K“ von Montag bis Freitag immer bis spätestens 7 Uhr bequem und kostenlos in ihr E-Mail-Postfach.

Als Newsletter-Abonnent erhalten Sie außerdem regelmäßig exklusive Informationen und können an interessanten Aktionen und Gewinnspielen teilnehmen.

Jetzt für „Stadt mit K“ anmelden und über Köln auf dem Laufenden bleiben!

Hier geht's zur Anmeldung.

Der sprachlich schönste Tipp, den Sie geben, lautet: Die Wahrheit ist symphonisch. Was meinen Sie damit?

Dass jeder Beitrag zählt und die wichtigste Voraussetzung für Gespräche ist, dass der andere Recht haben könnte. Der Küchenhelfer genauso wie der Vorsitzende. Alle Stimmen zusammen sind die Symphonie.

Klingt, als wäre dafür viel Empathie nötig …

Heinz Bude schreibt in seinem neuen Buch: Solidarität ist nicht Empathie. Auch der Folterer ist empathisch. Solidarität ist existentiell: Wenn wir die Kinder fragen, wer heute schon alles etwas für sie gemacht hat, kommen sie auf 30 Leute! Nicht nur auf Mutter oder Vater, die Brote geschmiert haben, die Kinder denken auch an den Mann, der im Klärwerk arbeitet, den Bäcker, die Müllabfuhr, den Heizungsmacher. Alles was du hast, hast du von einem anderen, alles, was du kannst, kannst du von einem anderen, nur die Gänsehaut ist von dir selbst – Hermann von Veen. Ich finde, das passt – und das können viele in der Gemeinde sofort annehmen.

Und wenn man das weiß, fällt Solidarität leichter …

Genau. Nix ise su schlecht, dat et für nix jut is – das ist so ein bisschen mein Lebensmotto geworden.

Sie arbeiten seit vielen Jahren eng mit Muslimen zusammen. In Deutschland geht der Trend nicht zu mehr religiöser Toleranz – im Gegenteil, Rassismus und Islamophobie breiten sich aus, es gibt tödliche Anschläge auf Muslime, Juden und Politiker, die sich zu kultureller Offenheit bekennen. Empfinden Sie sich mit Ihren vielen multireligiösen Angeboten als Korrektiv?

Logisch. Wir sind hier im Veedel nicht die größte Religion, aber der wichtigste Kulturträger. Miteinander, gegeneinander oder nebeneinander, das entscheidet sich immer vor Ort. Vorige Woche kam eine Katechetin und erzählte, dass ihr eine muslimische Schülerin erzählt habe, den Meurer kenne sie. Wir haben kürzlich verhindert, dass die Schüler der Hauptschule aufgeteilt werden auf Schulen im ganzen Stadtgebiet – wir haben da bei der Bezirksregierung interveniert. Da haben wir natürlich gewonnen, die Schüler durften bleiben, die Hauptschule wurde in die Gesamtschule integriert. So kommt man sich näher – weil man sich hilft.

Sie fassen das unter dem Prinzip „Wir sind katholisch“ zusammen – und meinen damit das Prinzip des „et – et“, sowohl als auch. Vielfalt sei die Voraussetzung für Einheit. So sieht nicht jeder den Katholizismus.

Unser evangelischer Pfarrer sagt auch, dass er katholisch ist, wenn er nach dem Wortsinn geht! Nur eben nicht römisch-katholisch …

Ihre nicht unbedingt römisch-katholische Haltung ist, dass Autorität durch Machtverzicht wachse.

Natürlich! Autorität von Amts wegen gibt es so nicht mehr, zumindest ist das weniger geworden. Die einen sagen noch, ach, Herr Pfarrer, die anderen denken, ah, der Ar … Die Kirche muss sich ihre Autorität verdienen. Wenn es nur behauptet wird, reicht das nicht. Du darfst als Kirche nicht nur behaupten, Produkt ist Service, du musst es machen.

Zu viel Macht der Kirche geht gar nicht?

Zuerst kommt die Freiheit, dann kommt die Vernunft, und dann kommt vielleicht der Glaube als Geschenk. Wenn man das drauf hat, das Glaube immer nur geschenkt wird, und man den Glauben nicht machen kann, sondern nur etwas dazu beitragen kann, durch sein Handeln – dann gibt es denke ich viele, die sagen: Da kann ich mich mit anfreunden. Das bringt mir auch etwas.

Woran sieht man im Veedel, dass das etwas bringt?

Es macht stolz, dass die Leute sagen, man sieht ja gar nicht, dass es bei euch so arm ist. Gerade blühen die Osterglocken, die unsere Leute von Hövi-Land gepflanzt haben. Wir haben lange vor der Stadt 38 Hundetütenbehälter aufgestellt, die sind noch alle da. Wenn ein Kind ein Fahrrad braucht und die Eltern keins kaufen können, kriegt es eins von uns. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, dass die Reichen immer reicher werden – ich freue mich, wenn sie viel spenden. Wir brauchen neben den 20-Euro-Spenden der normalen Leute auch die 10 000 von denen, die viel haben.

Am Ende Ihres Buches fragen Sie, ob Gott analog oder digital ist.

Natürlich beides. Ich habe kein Handy und kein Fernsehen oder Internet. Meine Erfahrung ist, dass man Gott auch erfährt, wenn man entschleunigt. Gott wahrzunehmen, ist eine innere Geschichte. Die Kirche hat das gleiche Problem wie die Politik, die Menschen spüren keine Resonanz, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Bei uns spüren die Menschen hoffentlich, dass sie wichtig sind. Natürlich kriegen alle, die mit anpacken, am Morgen erstmal ordentlich was zu essen – und natürlich kommt zu denen der Osterhase und der Weihnachtsmann mit einem Geldbeutel, da kann den Osterhasen und den Weihnachtsmann ja keiner von abhalten. Viele finden, wenn Leute zusammenstehen und sich engagieren, das ist Kitsch. Ich finde das super.