Muslime demonstrieren gegen Terror„Manchester hat das Fass zum Überlaufen gebracht“
Köln – Frau Kaddor, Sie haben zur ersten Großdemonstration der Muslime gegen den Terror aufgerufen. Warum jetzt?
Die letzten zwei, drei Anschläge haben mich und meinen Mitstreiter Tarek Mohamad persönlich extrem erschüttert. Gerade auch die Tatsache, dass in Manchester erstmals Kinder das Ziel der Angriffe waren.
Das ist noch einmal eine ganz neue Dimension des Schreckens. Und auch London. Da sitze ich vor dem Fernseher, sehe live erste Meldungen, schau diese Bilder in Stunden, in denen man sich eigentlich auf den nächsten Tag vorbereitet, innere Einkehr hält – jetzt im Ramadan. Das geht natürlich nicht spurlos an einem vorbei.
Viele haben sich eine solche Demonstration der Muslime in diesem Land schon eher gewünscht.
Es stimmt ja nicht, dass es bisher nichts an Reaktionen gab. Es hat bereits 2004 eine erste Großdemonstration gegeben. Gerade erst gab es eine Kundgebung in Hannover. Jede islamische Organisation schreibt bei jedem Anschlag eine Pressemitteilung, es sind islamische Gutachten von führenden Theologen verfasst worden. Aber das wird kaum wahrgenommen.
Was kann so eine Aktion bringen?
Es wird nicht die einzige bleiben. Am 23. Juni wird Berlin folgen, dann Hamburg.
Noch einmal, was soll das bringen, jetzt nach Jahren des Terrors?
Ich engagiere mich ja schon lange dagegen, Tarek Mohamad übrigens auch. Und dann habe ich gedacht: Nicht schon wieder diese Brutalität, und das auch noch im Ramadan. Das hat bei mir und vielen anderen das Fass zum Überlaufen gebracht. Das war der letzte Tropfen. Wir wollen diesen Verbrechern zurufen: Es reicht uns. Außerdem haben wir zunehmend das Gefühl, dass sich auch unsere Gesellschaft immer weiter spalten lässt durch Extremisten.
Viele sagen, das ist nicht der Islam, also brauchen wir uns auch nicht zu distanzieren.
Es geht auch nicht um Distanzierung. Wir haben keinen Grund, uns zu distanzieren, weil wir keine Nähe zu diesen Verbrechern haben. Aber es geht von unserer Seite um ein klares Bekenntnis zu unserer offenen und pluralistischen Gesellschaft. Es geht um eine Verurteilung des Terrorismus. Denn ja, es hat etwas mit dem Islam zu tun, wenn sich Menschen in seinem Namen in die Luft sprengen und andere töten. Ich spreche den Terroristen trotzdem das Muslimsein ab. Wir Muslime müssen diese Verbrecher deutlicher von uns abgrenzen und auf der gesellschaftlichen Ebene ihre Ächtung herbeiführen. In London haben sich 130 Imame dafür ausgesprochen, ihnen das islamische Totengebet zu verweigern. Das ist das richtige Zeichen.
„Es besteht Klärungsbedarf”
Was hat Terror mit dem Islam zu tun?
Die Terroristen sind oftmals Menschen, die muslimisch sozialisiert worden sind. Sie zitieren die islamischen Quellen, reißen dabei bestimmte Verse aus dem Zusammenhang und meinen, sich darauf berufen zu können, um ihre Taten und ihre Machtansprüche legitimieren zu können. Es besteht deshalb Klärungsbedarf. Wir müssen uns damit auseinandersetzen.
Was heißt das?
Auf der theologischen Ebene ist das mit Gegengutachten zahlreicher Gelehrten bereits erfolgt. Aber darum schert sich ja kein IS-Sympathisant. Denen geht es nur darum, Angst und Gewalt zu verbreiten.
Was also ist zu tun?
Die Ansätze auf theologischer Ebene müssen weiter ausgearbeitet werden. Und zwar mit Blick auf Präventionsmaßnahmen. Auf gesellschaftlicher Ebene müssen die Religionspädagogen in den Schulen angemessen und zeitgemäß auf die verbrecherische Ideologie reagieren können. Vieles steht im Koran, das unter einem anderen Gesellschaftsverständnis entstanden ist. Wir müssen es auf die heutige Zeit übertragen. Vor 800 Jahren haben keine Selbstmordattentäter Zivilisten angegriffen, im islamischen „Mittelalter“ wurde so gut wie nie die Todesstrafen für Homosexualität durchgeführt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Der Islamismus ist eine Erfindung der Neuzeit. Wir haben in Deutschland immer noch einzelne Moscheen, in denen Gewalt gepredigt wird. Wir Muslime erheben gegen die Verbrechen unserer Zeit die Stimme. Hardliner teilen die Welt in Gut und Böse auf. Wir dürfen dieses Spiel nicht mitmachen. Wir müssen es hinbekommen, dass differenziert wird zwischen diesen Verbrechern und uns Muslimen. Sonst bricht diese Gesellschaft auseinander.
Werden sich die Vertreter des politischen Islam, die türkische Ditib und der Zentralrat der Muslime, Ihrem Aufruf anschließen?
Der Zentralrat hat bereits unterzeichnet, mit der Ditib sind wir im Gespräch.
Die Verbände pflegen ja sonst lieber die Opferperspektive und verweisen auf wachsende Islamfeindlichkeit.
Wir machen hier jetzt keine Verbandspolitik. Es ist richtig, dass viele ihre Hausaufgaben noch machen müssen. Die innermuslimischen Debatten werden weitergehen. Aber jetzt wollen wir Muslime zusammenbekommen und ein breites Bündnis bilden gegen alle, die Gewalt anwenden – erst recht, wenn sie dabei in unserem Namen reden.