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Kölner FamilienvaterEr starb mit nur 40 Jahren – aus bislang ungeklärten Gründen

Lesezeit 8 Minuten

Philipp Haag ist am 1. Juli 2018 im Alter von 40 Jahren gestorben.

  1. Philipp Haag ist mit dem Rad auf dem Weg nach Hause. Eine Strecke, die er auswendig kennt. Doch es kommt zu einem Unfall.
  2. Aus Gründen, die bis heute nicht geklärt sind, prallt er gegen den Bordstein einer Verkehrsinsel. Er stürzt, bleibt mit schweren Verletzungen liegen. Es dauert 20 Minuten, bis Zeugen ihn finden.
  3. Am 24. Juni 2018 stirbt er im Alter von 40 Jahren. Er hinterlässt seine Frau und zwei Kinder. Hier lesen Sie seine Geschichte.

Köln – Das letzte Foto von Philipp Haag zeigt den 40-Jährigen etwa zwei Stunden vor seinem Unfall. Ein Selfie mit seinem Kumpel Markus. Beide lachen in die Kamera, Arm in Arm. Aufgenommen wurde das Bild in der Strandbar Playa in Cologne am Rhein-Energie-Stadion.

An jenem frühen Sonntagmorgen, 24. Juni 2018, kurz nach Mitternacht, ist die Stimmung in der Playa ausgelassen. Ein paar Stunden zuvor hat die deutsche Nationalmannschaft bei der WM in Russland Schweden in der Nachspielzeit besiegt. In der Playa wurde das Spiel auf Leinwänden gezeigt. Der eigentliche Anlass der Feier aber ist das 20. Jubiläum des Sporthochschul-Fußballteams „Vorwärts Spoho“.

Philipp Haag war viele Jahre Kapitän der Fußballmannschaft

Viele Jahre war der gebürtige Freiburger Philipp Haag Kapitän der Herrenmannschaft. Erst als 2013 seine Tochter Luise geboren wird, tritt er fußballerisch kürzer. Der Spielplatz wird wichtiger als das Fußballfeld. 2016 kommt Sohn Julian zur Welt, ab da hilft Philipp nur noch hin und wieder bei Spaßturnieren aus.

Seine alte Mannschaft ruft ihn dennoch weiter „Capitano“. So wurde Nationalspieler Michael Ballack genannt. Aber in dem scherzhaft gemeinten Spitznamen für Philipp schwingt durchaus auch Respekt mit. „Er war nicht nur ein super Kicker“, sagt sein Freund und ehemaliger Mannschaftskollege Markus Burger. „Er war auch ein großartiger Motivator. Bei seinen Ansprachen hat er dich immer mit seinen großen Augen angeguckt und mit seiner positiven Art und seinem sportlichen Ehrgeiz ein ganzes Team mitgerissen.“

Die letzten Stunden trank Philipp Haag keinen Alkohol

Gegen 2.30 Uhr bricht Philipp Haag an jenem Sonntagmorgen nach Hause auf. Die letzten Stunden hat er keinen Alkohol mehr getrunken. „Ich muss gleich fit sein“, habe er gesagt, so berichten es Zeugen später der Polizei. Denn Philipps Frau Rike will am Sonntag früh zum Sport gehen, Philipp hat versprochen, auf die Kinder aufzupassen.

Nachrufe

In unserer Serie Nachrufe erinnern wir an Kölner, die in jüngerer Vergangenheit verstorben sind. Wenn Sie vom Tod eines interessanten Kölners erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben können, melden Sie sich bitte bei uns unter 02 21/2 24-23 23 oder ksta-koeln@dumont.de.

Bei den Geschichten geht es nicht darum, ob ein Mensch prominent war oder unbekannt, erfolgreich oder verarmt. Es sollen Lebensläufe mit ihren Höhen und Tiefen beschrieben werden. Getreu dem Gedanken: Jeder Mensch hat etwas zu erzählen. Jedes Menschenleben ist einzigartig.

Mit dem Fahrrad fährt der 40-Jährige die Friedrich-Schmidt-Straße runter, Richtung Gürtel. Eine Strecke, die er als Sportstudent jahrelang täglich gefahren ist, die er in- und auswendig kennt. Aus Gründen, die bis heute nicht geklärt sind, prallt der Familienvater kurz hinter dem Militärring gegen den Bordstein einer Verkehrsinsel. Er stürzt und bleibt mit schweren Verletzungen liegen. Es dauert 20 Minuten, bis Zeugen ihn finden.

Ärzte versetzen Philipp Haag in ein künstliches Koma

Philipp Haag wird in die Uniklinik eingeliefert. Ärzte versetzen ihn anfangs in ein künstliches Koma. Aber sein Zustand verschlechtert sich zusehends. Am fünften Tag beschließt Rike Haag nach Beratung mit Ärzten, der Familie und Freunden, die lebenserhaltenden Maschinen abschalten zu lassen – allerdings erst zwei Tage später, zuvor Soll Sohn Julian noch seinen zweiten Geburtstag feiern. Geburtstag und Sterbetag sollen nicht zusammenfallen.

„Julian rannte durch die Wohnung und guckte überall, wo Papa ist, fragte, wann er wiederkommt“, erinnert sich Rike Haag heute, eineinhalb Jahre später. Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen, Mannschaftskameraden strömen ins Krankenhaus, um Philipp ein letztes Mal zu sehen. Zeitweise ist das Besucheraufkommen auf der Intensivstation so hoch, dass es Wartezeiten gibt.

Freunde und Kollegen spenden mehrere Tausend Euro

Furchtbar. Unfair. Unfassbar. Das sind Worte, die fallen, wenn Freunde oder Arbeitskollegen über Philipps Tod sprechen. Furchtbar, weil die Umstände so tragisch sind; um der Familie die größten finanziellen Sorgen zu nehmen, haben Freunde und Kollegen nach Philipps Tod spontan mehrere tausend Euro gespendet. Unfair, weil kaum einer so lebensbejahend gewesen sei wie er, eine Frohnatur, immer hilfsbereit, stets optimistisch. „Du konntest ihm die schlimmsten Dinge erzählen, er hat immer noch das Positive darin erkannt“, sagt Markus Burger. Unfassbar, weil Philipp und seine Familie gerade erst ein neues Kapitel in ihrem Leben aufgeschlagen hatten.

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Philipp Haag, geboren am 25. Oktober 1977 in Freiburg im Breisgau, gestorben am 1. Juli 2018 in Köln.

Zwei Monate vor seinem Tod hatte der 40-Jährige nach langem inneren Ringen die Arbeitsstelle gewechselt: als Mitglied in der Betriebsleitung der Claudius-Therme in Deutz ins Klassenzimmer einer Grundschule nach Nippes. Vor allem der Arbeitszeiten wegen. In der Therme hatte er Spätschichten, musste an Wochenenden und Feiertagen arbeiten, seine Frau war oft mit den Kindern allein. All das sollte sich mit dem neuen Job als Lehrer endlich ändern.

Philipp Haag sei ein Fels in der Brandung gewesen

„Ich habe es sehr bedauert, dass er gegangen ist, er hat in allen Abteilungen für gute Laune gesorgt“, sagt Tilmann Brockhaus, Geschäftsleiter der Claudius-Therme. „Philipp war der Fels in der Brandung, er hat auch im größten Stress die Nerven behalten, war charmant, offen in der Kommunikation, kritikfähig, klar in seinem Urteil. Ich hätte mir gewünscht, ich wäre in seinem Alter schon so unglaublich gelassen gewesen.“ Anders als bei „Vorwärts Spoho“, wo er Kapitän war, habe Philipp Haag zumindest ihm gegenüber nie angedeutet, mehr Verantwortung übernehmen zu wollen.

Philipp sei kein Karrieretyp gewesen, niemand, der den Beruf vor seine Familie und die Freunde gestellt hätte, hat Brockhaus beobachtet. Und niemand, der im Job Konflikte gesucht habe. „Wenn er mit der Arbeitsweise eines Kollegen unzufrieden war, habe ich schon mal zu ihm gesagt: »Dann pack es auf den Tisch, sprich es an.« Aber das musste dann eher ich machen.“

Zigarette von seinem Chef geschnorrt

Philipp Haag, sagt Brockhaus, sei eher der Typ gewesen, den man zum Kapitän wählen musste. „Der hätte sich nie selbst zum Kapitän gemacht.“ Über den gemeinsamen Humor, trocken, bissig, manchmal böse, und das gegenseitige Vertrauen sei eine große Nähe zwischen ihm und Philipp entstanden – obwohl er prinzipiell großen Wert auf eine Trennung zwischen Beruflichem und Privatem lege, sagt Brockhaus. „Aber mit Philipp hätte ich auch wunderbar ein Bier trinken gehen können.“

Haben sie sogar gemacht: auf einem Teamwochenende mit Mitarbeitern der Therme. Und nicht nur das: Philipp hat sich bei solchen Gelegenheiten gerne mal eine Zigarette von seinem Chef geschnorrt. Durfte aber nie einer wissen. Brockhaus lacht. „Wie hätte das denn auch ausgesehen? Philipp raucht! Der Sportler! Der Mannschaftskapitän!“

Philipp Haag wirkte nach Jobwechsel in sich gekehrt

Bei Philipps Entschluss, den Job zu wechseln, sei die Familie der Motor gewesen, sagt Rike Haag. Wenngleich sie hoffe, dass er letztlich aus eigenem Antrieb gehandelt habe. Sicher ist sie sich nicht. „Er war ein bisschen unzufrieden, weil er – anders als seine Freunde – nicht auf Lehramt studiert hatte. Er hat sich nicht richtig fertig gefühlt als Lehrer.“ Gehadert habe er mit seiner Entscheidung zwar nicht, der neue Job habe ihm Spaß gemacht, aber ein wenig verschlossen habe er seit dem Wechsel schon gewirkt, irgendwie in sich gekehrt.

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Verschlossen. In sich gekehrt. Manchmal bewusst abgrenzend. Eigenschaften, die mitunter auch Tilmann Brockhaus in ganz anderen Situationen an seinem ehemaligen Mitarbeiter festgestellt hat. Über seine Familie etwa, über seine Kinder, habe Philipp trotz des engen Verhältnisses so gut wie nie mit ihm gesprochen. Auch von Hobbys und privaten Interessen, wie etwa Philipps Begeisterung für geschichtliche Zusammenhänge, historische Bücher und Zeitschriften, habe er erst nach seinem Tod erfahren.

Philipp Haag spielte oft mit seinem Sohn Fußball

Bei seiner Familie wiederum sprach Philipp nur selten über die Arbeit, erzählt Rike Haag. „Ich habe ihn mit allem vollgetextet, was mich bewegt hat, aber er war da anders.“ Vor allem Negatives habe er eher mit sich selbst ausgemacht. Als jemand in seiner Familie einmal schwer krank gewesen sei zum Beispiel. Oder als er schwer enttäuscht war, weil enge Freunde nicht zu seinem Geburtstag erschienen waren. „In solchen Situationen wirkte er nachdenklich und hat sich mir nicht richtig geöffnet.“

Mit welchen Worten genau sie ihren beiden Kindern im Juni 2018 den schweren Unfall des Vaters beigebracht hat, weiß Rike Haag nicht mehr. „Das fehlt einfach in meiner Erinnerung.“ Mit Julian habe Philipp oft Fußball gespielt. Kurz nach seinem Tod nahm der damals Zweijährige anfangs einen Ball mit ins Bett und in die Kita. Inzwischen fängt er an, Fragen zu stellen. Wie hieß mein Papa? Warum hatte er einen Unfall? Was ist passiert? Seine sechsjährige Schwester Luise verlasse dann oft das Zimmer, sie mache das traurig, erzählt Rike Haag. „Es ist bei beiden immer so ein Auf und Ab.“

Seine Tochter wird Philipp Haag äußerlich immer ähnlicher

Anders als Julian habe Luise ihren Vater auch im Krankenhaus nicht mehr sehen wollen. Mit ihren Kindern besucht Rike Haag alle zwei Wochen die „Traube Köln“, einen Verein für Trauerbegleitung für Kinder und Jugendliche. Das helfe ihnen. „Für Luise ist ihr Papa ein Stern. Er ist immer bei ihr. Sie muss nur hochgucken.“ Sie hat ein Nachtlicht in Form eines Sterns, und ihre Großmutter hat dem Mädchen einen Stern aus Stoff genäht.

Während Julian seinem Vater charakterlich ähnele, für sein Alter sehr selbstständig, selbstbewusst und klar wirke, werde Luise Philipp äußerlich immer ähnlicher, hat Rike Haag beobachtet. „Wenn sie schläft und so in ihrem Bett liegt“, sagt die Mutter, „sieht es so aus, als liege Philipp da“.